Regisseurin Eva Trobisch

"Mich interessieren Helden genauso wenig wie Opfer"

Eva Trobisch erzählt in ihrem neuen Film "Ivo" von einer Palliativpflegerin in einem moralischen Dilemma. Hier spricht sie über die Ambivalenz ihrer Figuren, Sterben als Teil des Lebens und das schönste Kunstwerk über den Tod

Ivos alter Skoda ist immer in Bewegung. Die ambulante Pflegerin eilt von früh bis spät zu Ehepaaren, Familien oder Alleinstehenden, um Patientinnen und Patienten mit unheilbaren Krankheiten zu betreuen. In dem Drama "Ivo" erzählt Eva Trobisch vom Berufsstand der Palliativpflege. Und von Ivo, einer zupackenden alleinerziehenden Mutter. Als eine Patientin, die auch Ivos Freundin ist, sie bittet, ihr beim Sterben zu helfen, rutscht sie in ein moralisches Dilemma. 

Denn Solveigh ist nicht nur Ivos Freundin, sie ist auch die Partnerin von Franz, dem Mann, mit dem Ivo schläft. Zudem erwartet Solveigh von Ivo, den Sterbewunsch geheim zu halten. Beide wissen, Franz würde Solveigh nicht gehen lassen. Anlässlich des Kinostarts von "Ivo" haben wir mit Filmemacherin Eva Trobisch über Palliativpflege, stabilisierende Dreiecksbeziehungen und Selbstbestimmung gesprochen. 


Eva Trobisch, wie sind Sie auf das filmisch wenig erzählte Thema der Palliativpflege gekommen?

Im Corona-Lockdown hatte ich den Auftrag, ein Exposé für den "Polizeiruf" zu schreiben, wofür ich Verbrechen recherchiert habe, die nicht ganz eindeutig sind. Solche, die im Gegensatz zu Straftaten stehen, in denen es das klare Böse und ein Opfer gibt. Während meiner Recherche bin ich auf die Krankenschwester der Berliner Charité gestoßen, die in den Medien als der "Todesengel" bekannt geworden ist. 

Was hat Sie daran interessiert?

Die Krankenschwester wurde im Juni 2007 wegen fünffachen Mordes auf der Kardiologie-Intensivstation der Charité durch gespritzte Medikamente verurteilt. Sie selbst sieht sich als Erlöserin und Altruistin und handelte in der Vorstellung, Gutes zu tun. Das Gesetz verurteilte sie dagegen als Serienmörderin zu lebenslanger Haft. Das fand ich als Gegensatz natürlich erstmal interessant. Ein ganzer Film in einem Krankenhaus erschien mir fad, weshalb ich weiter recherchierte und die auf die "Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung" (SAPV) stieß, anhand derer ich dynamischer erzählen konnte: Die Pflegeteams fahren von Haushalt zu Haushalt. Die Bewegung bietet dabei filmisch die Möglichkeit, einen Querschnitt durch die Gesellschaft zu zeigen, wie durch Gucklöcher. Als nächstes habe ich diese ambulanten Pflegeteams während ihrer Arbeit begleitet. Dabei habe ich hinreißende Personen kennengelernt, und eine Welt, die mich so faszinierten, dass schnell klar war, dass ich die Palliativpflege nicht nur als Nebenstrang für einen Krimiplot benutzen wollte. Ein Krimi als Genre verlangt ja bestimmte erzählerische Parameter, nach denen ich Erzählstränge anderen unterordnen und entscheiden muss, wo ich welche Information platziere. Ich wollte die Palliativpflegerinnen und -pfleger porträtieren und mich ihrer Arbeitswelt widmen. So entstand die Idee für "Ivo".

Die weiblichen Hauptfiguren in Ihrem grandiosen Debut "Alles ist gut" und in "Ivo" wollen nicht in einer Opferrolle aufgehen. Sie lehnen Werte wie Sentimentalität ab und sind stark, selbstbestimmt, abgebrüht und nach außen extrem emotional reguliert. Was reizt Sie an diesen Frauentypen, die eine Opferrolle auch in emotionalen Ausnahmezuständen ablehnen?

Gegenfrage: Wie wäre denn eine nicht regulierte Frauenfigur?

Naja, sie könnte sich ja auch eingestehen: "Mir geht’s schlecht, ich brauche Hilfe", als eine Art Selbstfürsorge. Zudem gibt es ja die klassische Opferrolle im Film, oft stereotyp weiblich besetzt. Ivo dagegen ist extrem emotional reguliert, was zwar auch ihre berufliche Rolle ist. Andererseits ist sie dies auch im Privaten. Gleiches gilt auch für Janne, die Protagonistin Ihres Debuts "Alls ist gut". Schwäche und Leiden gestehen sich beide Figuren nicht ein, trotz emotional extrem aufwühlenden Situationen.

Eigentlich weinen die beiden Figuren ja schon immer mal. Es gab auch bei beiden Figuren die Regieanweisung: "Tue Dir mal leid – das hast Du nicht verdient", aber das war immer auf ganz konkrete Situationen bezogen. Menschen, Frauen wie Männer, können ja im einen Moment ein ratloses, aus dem Nest gefallenes Vögelchen sein und im nächsten ein ganzes Land regieren. Ich wehre mich etwas gegen diese allgemeinen Zuschreibungen von "starken oder schwachen Figuren". Mich interessieren Helden genauso wenig wie Opfer. Aber vielleicht resonieren Figuren, die den Anspruch haben, Herr oder Frau im eigenen Laden zu sein insofern mit mir, als dass mich das Thema der Selbstbestimmung in beide Richtungen herausfordert. 

Inwiefern? 

Ich bin sehr selbstbestimmt erzogen worden und darüber bin ich sehr froh. Gleichzeitig frage ich mich auch immer: Wo liegen hier die Grenzen? Das Konzept der Selbstbestimmung ist natürlich ein maximal individualistisches, es versteht sich auch herrlich mit neoliberalen und kapitalistischen Werten. Und dementsprechend ist es auch eins, dass niemals ohne die Existenz sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Privilegien zu denken ist. Eine zweite ganz simple Frage zu dem Anspruch darauf, sein Leben selbst zu bestimmen ist für mich: Kann man das wirklich? Und ab welchem Punkt überschreitet man möglicherweise die eigenen Grenzen, wenn man sich die Dinge, die einem passieren oder passieren sollen, so erzählt, dass sie dem eigenen Bild entsprechen? Für die Figur der Janne aus "Alles ist gut" war das eine Art Grundthema.

Ich würde "Ivo" als ein undramatisches Drama beschreiben. Warum haben Sie sich für solch eine zurückgenommene Tonalität entschieden?

Das kam aus der Erfahrung in der Palliativpflege. Die Pflegerinnen und Pfleger, die ich begleitet habe, waren rheinländische Frohnaturen, die viel gelacht haben und eine unheimliche Helligkeit hatten. Zugleich hatten sie diese patente, zupackende Art. Der Vater meines Kameramanns Adrian Campean ist der Chef der SAPV, bei der wir gedreht haben. Ein hedonistischer Typ, der das Leben liebt. Einmal stand er am Grill vor den Würstchen und sagte: "Nimm mal kurz die Grillzange, ich muss noch einen Totenschein schreiben." Johann Campean spielt selbst den Chef von Ivo als Laie und bringt so ganz unbeschwert diesen Ton in den Film, um den wir bei den professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern so gerungen haben: Er ist praktisch und unsentimental, darin aber nie banal oder nebensächlich. Im Gegenteil: Die Ansprache und der Umgang der Palliativkräfte mit den Sterbenden sind mit das Würdevollste und Emphatischste, das ich je erlebt habe. 

Warum ist dieser Ton so wichtig?

Mit Betroffenheit ist in dieser Lebensphase wirklich niemanden geholfen. Dennoch werden die einzelnen Schicksale deswegen nicht weniger ernst genommen. Aber die Routine der Palliativkräfte vermittelt ein kollektives Moment, das wegführt von der Idee des individuellen Schicksals, von der persönlichen Tragödie, die einen vom Rest der Gesellschaft trennt. Es schafft die verbindende Idee, dass es vielen, und irgendwann allen so geht, wodurch die Zuschauenden von "Ivo" Halt und Orientierung im Unbekannten erhalten. Nach dieser Weltanschauung sind auch Ivos Szenen entstanden: Lieber setzt sie sich mit einer Patientenin oder einem Patienten auf den Boden und löffelt einen Joghurt als zu sagen: "Dich hat es aber wirklich schwer getroffen."

Ivo muss in ihrer berufliche Rolle sachlich sein. Wie haben Sie es in der Schauspielführung geschafft, genau diesen Ton zu treffen? War das eine Herausforderung?

Ja, schon, denn Minna Wündrich, die Ivo spielt, kommt vom Theater und spielt dort für die 25. Reihe. Ivo war ihre erste Filmrolle. Die Kamera kommt den Schauspielenden im Gegensatz zum Zuschauerraum sehr nahe, da muss man nicht so sehr senden. Du musst nur denken, das reicht meistens schon. Solch ein naturalistische Spiel zu finden und dabei parallel den spezifischen Ton der Palliativpflegenden zu treffen, hat in der Tat gedauert. Wir sind oft in dieses zu Vorsichtige, Ehrfürchtige, Betroffene hineingerutscht.

In "Ivo" gehen die Figuren unterschiedlich mit dem Tod um. Franz, der Partner von Solveig, lässt es finanziell krachen, indem er das Badezimmer für Solveigh renoviert und spezielle Geräte kauft, die ihr restliches Leben erleichtern sollen. Ivo dagegen will nichts verändern und pflegt ihre Freundschaft zu Solveigh durch intime Körperlichkeit. Hat sich Ihr Umgang mit dem Tod durch den Dreh verändert?

Ja, schon. Es klingt vielleicht platt, aber ich habe die Angst vorm Tod ein wenig verloren. Nicht nur die Angst vor dem eigenen Tod, sondern auch davor, dass Großeltern oder Eltern in die Situation kommen. Es war mir vor dem Dreh von "Ivo" nicht bewusst, dass es Palliativpflegende gibt, die sich einbringen, Schmerzen lindern oder auch Stimmungen verbessern, indem sie etwa mit Aufhellern oder Angstlösern arbeiten. Das Schlimmste ist oft die Angst und Panik, wenn man eine schlimme Diagnose erhält, sagen viele. Ich kam durch die Arbeit an "Ivo" zu der Erkenntnis, dass der Tod zum Leben gehört und nicht – wie etwa in einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft – Scheitern bedeutet."

Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe 2020 für verfassungswidrig erklärt. Im Bundestag standen zwei Vorschläge zur Neuregelung der Suizidbeihilfe zur Abstimmung. Keiner der Entwürfe fand eine Mehrheit. Seitdem ist der assistierte Suizid rechtlich eine Grauzone. Welche Regeln sollten hinsichtlich aktiver Sterbehilfe in Deutschland Ihrer Meinung nach gelten?

Ich bin heilfroh, dass ich Filmemacherin bin und keine Politikerin. Ich habe den Film auch deswegen gemacht, weil ich keine Antwort darauf habe. Ich mache Filme, wenn ich etwas nicht klar beantworten kann und vor allem auch, um nicht die eine Antwort zu geben. Ich finde, es ist so individuell. Es gibt für mich Fälle, in denen ich einen assistierten Suizid befürworten würde und andere, in denen ich ein zu lasches Gesetz hochproblematisch fände. Ich weiß wirklich nicht, wie ein pauschales Gesetz aussehen könnte, weil die einzelnen Situationen von Schwerstkranken grundverschieden sind. Deshalb sollte die Politik, die Rechtslage besser ausdifferenzieren.

Ivo muss eine Doppelfunktion als Freundin und Pflegerin von Solveigh meistern. Zudem schläft sie mit Franz, dem Partner von Solveigh. Warum haben Sie dieses "Love Interest" als Drehbuchautorin in die Geschichte geschrieben?

In meinem persönlichen Umfeld gab es eine reale Geschichte von einer Frau, die mit einem schwerkranken Mann verheiratet war. Sie hat ein Verhältnis mit einem Freund der Familie angefangen, das über zweieinhalb Jahre ging. Für alle, eben auch für den kranken Mann, war dieses Liebesdreieck stabilisierend. Dadurch, dass die Frau an einer Stelle das Leben in sich eingesaugt hat, konnte sie an anderer Stelle den Mühseligkeiten des Alltags mit mehr Großzügigkeit begegnen. Sie konnte sich der Pflege ihres Mannes, der moralisch gesehen der Betrogene war, liebevoll und geduldiger widmen. Auf eine Art hat er also davon profitiert. Ein stabiles Dreieck, das alle bereichert. Sowas interessiert mich. Dann ist der Mann irgendwann gestorben. Und ich dachte: "Super, jetzt reitet ihr gemeinsam in den Sonnenuntergang". Aber sie hat die Affäre beendet. Ich fand es spannend, wie Moral, Loyalität und Treue ganz andere Wege einschlagen können. So irrational wie menschlich. Davon wollte ich erzählen.

Gibt es Kunstwerke, in denen der Tod auf interessante Weise behandelt wird, die Sie als Filmemacherin inspirieren?

Vielleicht das Aquarell "Flügel einer Blauracke" von Albrecht Dürer, das ich wahnsinnig liebe. Das Bild mit dem abgerissenen Flügel ist so brutal und gleichzeitig so zart und wunderschön mit seinem türkisfarbenen und azurblauen Gefieder. Auf dem Bild sieht man kein Blut, obwohl es der abgetrennte Flügel einer Blauracke ist." 

Albrecht Dürer "Blaurackenflügel", 1512
Foto: Albertina, Wien / CC

Albrecht Dürer "Blaurackenflügel", 1512