Im Fernsehen ist er der König. Zehn Grimme-Preise hat Dominik Graf bisher gewonnen, so viele wie sonst niemand. Nicht ganz so glänzend läuft es für den 1952 in München geborenen Regisseur im Kinobetrieb. Der Treppenwitz der Berlinale geht zum Beispiel so: Ein toller Graf-Film konkurriert im Wettbewerb – und kriegt keinen Bären. 2002 zeigte sich die Jury bei "Der Felsen" unbeeindruckt, 2014 kein Preis für "Die geliebten Schwestern", und bei der diesjährigen nichtöffentlichen Pandemie-Berlinale ging "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" leer aus.
Jetzt ist Sommerberlinale, und das Publikum entscheidet: "Fabian" – mit einem großartigen Tom Schilling in der Titelrolle – ist die ungemein locker erzählte, freie Adaption des Opus magnum von Erich Kästner, ein Roman aus der Endzeit der Weimarer Republik, der erst 2013 ungekürzt und unter dem Wunschtitel des Schriftstellers "Der Gang vor die Hunde" erschien.
Dominik Graf, zum Vorspann von "Fabian" zeigen Sie eine Passage durch die U-Bahnstation Augsburger Platz. Jetzzeit. Es geht treppab, Leute steigen aus dem Zug, die Kamera bewegt sich an der anderen Seite treppauf. Erst oben stößt die Kamera auf Jakob Fabian. Was sucht sie vorher da unten?
Die Gegenwart. Die Idee kam durch eine Einstellung, die der Produzent Felix von Boehm, eher für sich zum Spaß gedreht hatte. Er ist einmal durch die ganze Station gegangen. Das fand ich toll, dokumentarisch im Hier und Jetzt zu beginnen, in der Banalität der 2020er, drumherum diese Gründerzeit-Architektur, dazu die Menschlein mit ihren Rucksäckchen und ihrer hippen Freizeitkleidung, die sich dann aber alle stauen und quasi Schlange stehen an einer Treppe links, die bitte wohin führt? Kam mir fast unheimlich vor, wie die Lemminge oder Jünger:innen eines neuen Kults, während wir mit der Kamera dann die andere Röhre nehmen, in die Vergangenheit. Wir gelangen ans Licht und sind doch in einer einer der dunkelsten deutschen Zeiten gelandet – die noch gar nicht weiß, wie dunkel sie werden wird.
Sie haben öfter betont, wie wichtig Fernsehen gerade am Anfang Ihrer Laufbahn war und "die Straße", "Normalität". Wir können ja aber nicht wissen, wie sich das Leben vor 90 Jahren für einen Fabian angefühlt hat, und schon gar nicht: vor 230 Jahren. Waren "Die geliebten Schwestern“, also Ihr vorheriger Kinofilm um Friedrich Schiller von 2014, da die bisher größte Herausforderung für Sie – so etwas wie historische Normalität zu erfinden? Oder war es schwieriger, die Balance zwischen heutiger Draufsicht und subjektivem Tunnelblick der "Fabian"-Figuren zu finden? Im neuen Film konnten Sie ja immerhin historisches Dokumentarmaterial einmontieren, um Kostümfilmkonventionen zu brechen.
Ja, die "Normalität" ... Das, was ich in den französischen Thrillern der 70er und 80er gesehen habe, diese alltäglichen Straßen und Lokale, diese einfachen Großstadtbilder, beiläufig gefilmt, diese Menschen "wie du und ich", die aber auch Gangster sein können, verstrickt in Mord und Totschlag, oder Polizei-Beamte mit Familien zu Hause, die sich wundern, warum Vati heute Abend nicht kommt. Und er kommt nicht, weil er erschossen wurde. Das konnten nur die Franzosen! Alles, was bigger than life war, was besonders sein wollte, ausgestellt wurde, der "Cinéma du look" später – fand ich furchtbar. Die französischen Thriller gab’s meist nur auf VHS, das nenne ich jetzt mal "Fernsehen", und das war für mich das bessere Kino. Und sicher habe ich in diesem Sinne auch versucht, "Die geliebten Schwestern" in eine Alltäglichkeit zu transportieren, wie "nebenbei" zu erzählen.
Erst 2013 erschien unter dem Titel "Der Gang vor die Hunde" die Urfassung des Kästner-Romans. Hätten Sie den Film gemacht, wenn wir nur Kästners bereits 1931 entschärfte und gekürzte Version "Fabian. Die Geschichte eines Moralisten" kennen würden? Anders gefragt: Wie lange treibt Sie das Filmprojekt schon um?
Es gab einen ersten Versuch vor ein paar Jahren, da büxte der Produzent nach einem vielversprechenden Anfang wieder aus. Felix von Boehm kam dann kurz darauf von sich aus auf mich zu, Constantin Lieb hatte den Roman schon adaptiert, vor allem hatte er das Ende umgeschrieben, das mochte ich gerne, obwohl dadurch eine schöne Bordellszene in Fabians Heimat entfiel – eine Szene, die übrigens Wolf Gremm in seiner 1980er-Version wunderbar inszeniert hat. Aber dass sie sich wiedertreffen wollen, Fabian und Cornelia, fand ich eine schöne Lösung.
Bei Kästner nimmt das Paar nach der Trennung ja keinen Kontakt mehr auf. Glaubt Dominik Graf mehr an die Liebe als Erich Kästner? Trotz des Internet-Datings, das Beziehungen eher sabotiert als fördert? Mir ist auch aufgefallen, dass sich der Rhythmus des Films mit der Liebesgeschichte beruhigt, Jakob und Cornelia und ihre Geschichte sind dann ganz "bei sich".
Stimmt, die Liebesgeschichte muss sich aus der Dynamik der Zeit, dem Berliner Chaos, erst herausschälen. Hätten denn Friedrich Schiller und die Lengefeld-Schwestern sich bei Tinder kennengelernt? Es geht heute darum, möglichst viele Optionen zu haben: Könnte einem ja was entgehen. Irgendwo ist vielleicht der Mensch, der zu dir passt. Möglicherweise begegnet man sich nie. Früher war man eher bereit, diese Möglichkeit in Kauf zu nehmen. Cornelia ist bereits von den Männern enttäuscht, das erzählt sie Fabian, als sie sich kennenlernen. Ich glaube, die Liebe ist für beide überraschend und sehr zerbrechlich. Sie sind nicht naiv. Cornelia will was werden, er auch, seinen Roman schreiben, das ist wichtig, das ist modern an Kästner: Ein Paar, das sich mit seinen Lebensplänen reibt, aber auch in der Sinnlichkeit miteinander versinkt.
Wo ist die Endzeit der Weimarer Republik der unseren besonders ähnlich? In der politischen Krise? Bezogen auf eine Gesellschaft, die sogar Körper konsumiert (Irene Moll und ihr Männerbordell) und deren Aggressionspotential steigt (das wütende Cabaret-Publikum)?
Ich glaube, dass der westdeutsche Hurra-Kapitalismus der Wendezeit ein wiederum moralisch komplett zerstörtes Deutschland zurückgelassen hat, und diese furchtbare Entwicklung baden wir heute hier aus. Die bei der "Wende" Zukurzgekommenen sind mit Recht unversöhnlich, sie haben 20 Jahre unter der Demütigung der westdeutschen Konzerne und Politiker gelitten. Das geht nun auf einen Abgrund zu, eine gespaltene Gesellschaft. Was die wilde Zeit des Sich-Austobens betrifft, da sind uns die 1920er an Freiheit und Fantasie weit voraus. Wir sind heute in Spießertum und Gesundbeterei gefangen. Wir hätten gar nicht die Größe für solche Sex-Exzesse wie die Leute damals.
Ab und zu brechen bei Ihrem Film schlimme Vorzeichen aus der historischen continuity heraus: An Holocaust-Opfer erinnernde Stolpersteine. Ein Notizbuch, das ins Feuer einer Bücherverbrennung geworfen wird. Kästner, dessen Bücher 1933 tatsächlich verbrannt wurden, sah die Katastrophe verblüffend deutlich heraufziehen. Was die Anachronismen – vielleicht die Warnzeichen – angeht, halten Sie sich insgesamt sehr zurück. Weil Sie fanden: Viel ist dem, was Kästner sah, nicht hinzuzufügen?
Ich hatte nicht die Absicht einen "mahnenden" Film zu machen. Fabian gefällt ja auch dieses Berlin, das er grinsend als dem Untergang geweiht bezeichnet. Er hat seine Freude daran, andererseits: mulmig ist ihm schon auch dabei. "Und nun frage ich Sie, Frau Hohlfeld, hat die Welt noch Talent zur Anständigkeit?" fragt er seine Zimmerwirtin. Das ist ihm wirklich ein Bedürfnis und zugleich pure Ironie.
Jakob Fabian, der im Kriegseinsatz war, ist herzkrank. Ihr Vater, der Schauspieler Robert Graf, wurde im Zweiten Weltkrieg verwundet. Waren Sie aus biografischen Gründen dazu prädestiniert, "Fabian" zu verfilmen?
Nein! Die Wunden der Väter prädestinieren ihre Kinder zu gar nichts. Psychologen sagen, Kinder von Kriegsopfern sind selbst auch Opfer. Wo soll das hinführen? Die moderne Opferkultur erreicht ohnehin lächerliche Dimensionen. Diese Mitleid-Rituale und Empathie-Befehle sind nur dazu da, damit eine Gesellschaft, die ebenso gnadenlos ist wie alle anderen vor ihr, sich scheinheilig besser fühlt. Man muss lernen, damit zurechtkommen, dass es Härten gibt. Man kann vielleicht auch stolz sein darauf, dass man etwas zutiefst Belastendes erlebt und überlebt hat. Ich habe wahrscheinlich als kleines Kind schon den Krieg zu begreifen versucht, als ich den zerstörten Arm meines Vaters zum ersten Mal gesehen hatte. Jetzt bin ich alt und merke: Ich habe nichts begriffen.
Ist das ein schwer zu verfilmender Roman?
Er ist wunderbar zu verfilmen, weil er – wie schon Kästner sagte – keine Geschichte hat. Stimmungen, Abschnitte, Wege, Figuren auch, die sich im Dunkeln verlieren, ein unglaublich lakonischer Schluss. Bloß kein Drama!
Wann haben Sie Tom Schilling gefragt? Was musste ein Fabian-Darsteller mitbringen?
Tom Schilling war für mich von Anfang an die einzig mögliche Besetzung. Ohne ihn wäre es nicht gegangen. Seine gedankliche und sprachliche Schlauheit, seine Sensibilität, sein kritischer Geist, aber auch seine Sehnsucht, sich an die Liebe zu verlieren, dann auch ganz einfach sein Aussehen, sein Lachen…. Er war Fabian für mich.
Sie haben selbst schon als Schauspieler gearbeitet. Was lernt man davon als Regisseur, etwa bei "Fabian"?
Ich habe viel gelernt als Schauspieler – als Dilettant. Das waren tolle Lehrstunden. Wie Robert Aldrich immer sagte, der jahrelang Regie-Assistent war: "Man lernt am meisten von den schlechten Regisseuren, mit denen man arbeitet." Beim Inszenieren suche ich immer eine Symbiose zwischen meinen Vorstellungen und denen der Schauspieler. In "Fabian" gibt es fast improvisierte Szenen; die drei Hauptdarsteller Schilling, Saskia Rosendahl und Albrecht Schuch waren so drin in ihren Rollen, man konnte ihnen zusehen wie sie Situationen anders neu gebaut haben miteinander. Die reine Freude.
Welche Gründe gibt es für Abweichungen von der Vorlage?
Da sind wir wieder bei der "Normalität", die mir wichtig ist. Das ist alles ziemlich irre, was Kästner im Roman beschreibt, und manches war mir einfach zu irre. Die Figuren wurden zu Metaphern. Wenn sich bei Kästner ein Kommunist und ein Faschist nachts in einer dunklen Straße duellieren, stehen sie "für etwas", sind keine Menschen aus Fleisch und Blut. Ich wollte sozusagen den ganz normalen Irrsinn – von dem ja noch genug im Roman zu ahnen ist – schildern. Und ich glaube auch, ich hätte der Liebesgeschichte im Ernstfall viel geopfert.
Caravaggios "Ungläubiger Thomas" spielt eine Rolle im Film. Der Apostel Thomas drückt den Finger tief in eine Wunde am Rippenbogen des auferstandenen Jesus. Wie sind Sie auf das Gemälde gekommen?
Da müssen Sie Claus Jürgen Pfeiffer, den Szenenbildner, fragen. Das Gemälde hat er aufgehängt, es bildet das Entrée in den nachmittäglichen Angst-Traum, den Fabian vom Untergang der Liebe und der preußischen Welt hat.
Vor dem Café Spalteholz gibt es eine ungewöhnliche Sequenz mit lauter Leuten, die über Pfützen springen, das hat "Found-Footage"-Charakter. Wie ist das entstanden?
Friedrich Seidenstücker hat zwischen den 1930ern und den 60ern sehr schöne Fotos von "Pfützenspringern" in Berlin gemacht. Wir haben sie quasi nachgestellt, um wiederum ein Stück Alltag einzubringen. Der Found-Footage-Eindruck kommt von der Super-8-Kamera, mit der wir das gefilmt haben. Es ist behauptete Authentizität, eigentlich ein Spiel damit. Und die Fröhlichkeit der Pfützenspringer steht ihn scharfem Kontrast zu Fabian, der im Lokal sitzt, traurig, weil er Cornelia wahrscheinlich verloren hat, und weil er seinen Freund Labude, gespielt von Albrecht Schuch, nicht mehr finden kann, der dem im Roman viel beschworenen Untergang nun wirklich entgegentorkelt.
Wie muss man sich das Verhältnis zwischen Dreh und Montage vorstellen? Waren die Sequenzen eher genau gescriptet oder "storyboarded"? Wie viel Raum nahm der Endschnitt ein?
Es gibt immer Pläne, wie ich die Szenen gerne drehen würde, die schreibe ich auch auf, und der Kameramann Hanno Lentz hat natürlich auch Vorstellungen – aber eigentlich macht man diese Pläne, um sie dann umzuwerfen. Man kann bei einem solchen Film keine Storyboards runterdrehen wie "Malen nach Zahlen". Man muss immer am Moment dran sein, alles muss leben, unerwartete Aufnahmewinkel drängen sich plötzlich auf. Es ist ein geordnetes Chaos. Und im Schneideraum – geht’s erst richtig los.
Im System der deutschen Filmförderung scheint es häufig so zu sein, dass Filmemacher ihre Projekte derart oft überarbeiten müssen, bis ihre Ideen verschwunden sind. Was kann man tun? Oder frage ich den Falschen, weil es einem renommierten Regisseur wie Ihnen nicht mehr passiert?
Ich hab gerade in einem schönen Interview mit dem verstorbenen Bertrand Tavernier gelesen, dass er sich als Künstler mehr und mehr fühlte wie die Bettler vor den Kathedralen im Mittelalter, die den hohen Herrschaften in Samt und Seide die geöffneten Hände flehend nach einem Almosen entgegenstreckten. Ich habe viele Projekte nicht realisieren können. Und viele derjenigen, die in Deutschland entscheiden, wer für was Geld bekommt, haben ein verkorkstes Verhältnis zum Kino, ganz wenig Filmgeschmack und nur die eigene Karriere im Sinn. Aber manche lieben den Film noch und sind auch neugierig. Und dann passiert’s ab und zu, dass mal was zugelassen wird.
In der Pandemie haben fast alle einen Blick in die "Schöne Neue Welt" – oder den Abgrund – des Streamings getan. Ist das Kino eigentlich noch zu retten?
Von mir aus sollen die Leute – zu Hause und im Flugzeug und weiß der Teufel wo – vor 1000 Streaming-Optionen herumlungern. Das ist alles ganz nett, aber kein "Kino", es ist nicht "Film", sondern es ist das, was die Ignoranten, die das produzieren, mit dem grässlichen Wort "Content" benennen, "Inhalt". Das echte Kino ist dagegen eine Welt aus Zeit und Raum, in der man sich verirrt, und die besteht wahrlich nicht aus "Plot Points". Für die echte Kino-Welt, die auch ein wenig "verboten" sein darf, brauchst du einen dunklen Saal, in den du dich diskret zurückziehst. Das ist eine Lebensform. Das andere, vor den Flatscreens, das ist Vegetieren.