Boris Eldagsen, im April haben Sie mithilfe von Künstlicher Intelligenz einen Skandal beim "Sony World Photography Award ausgelöst. Der Streit über Ihre KI-gestützte Wettbewerbseinreichung zog sich über Wochen hin. Warum gibt es bei Ihrer KI-Ausstellung in Augsburg nun schon wieder Schwierigkeiten?
Eigentlich war in Augsburg geplant, dass ich eine zweimonatige Ausstellung bekomme. Im Mai habe ich dann dem Kurator gesagt, dass ich gerne meine Installation "Trauma Porn" zeigen möchte. Er machte sich Sorgen, dass man diese Arbeit den Leuten nicht zumuten könne und dass die Themen Krieg und Nationalsozialismus zu einem Skandal führen würden. Dass sich vielleicht sogar das Aufsichtspersonal beschweren könnte, weil es sich die Bilder nicht so lange anschauen möchte.
Und dann?
Deshalb ist daraus nun statt einer zweimonatigen Ausstellung nur eine dreitägige Konferenz geworden, die dieses Wochenende stattfindet. Ich finde das neue Format gut, aber es bedeutet auch, dass meine Ausstellung quasi das Diskussionsmaterial für die Konferenz ist. Ich werde am Wochenende in den Räumlichkeiten sein, mit den Besuchern diskutieren und aufpassen, dass niemand traumatisiert wird. Ich dachte zuerst, vielleicht hängt das auch einfach mit der bayerischen Befindlichkeit zusammen. Aber dieser Kurator scheint nun tatsächlich recht zu behalten. Mir half heute ein anderer Künstler, der gar nicht aus Bayern kommt, beim Aufbau meiner Installation, und der sagte mir am Ende des Tages, dass er zwei meiner Tapeten nicht mehr länger anschauen möchte. Ich werde diese Bilder beim restlichen Abbau also abdecken müssen.
Hat die Ablehnung vielleicht auch mit Ihrem provokanten Ausstellungstitel "Trauma Porn" zu tun?
Das ist ein Begriff, der von TikTok stammt: Jugendliche verkleideten sich für ihre Videos und fragten sich, wie es wäre, Anne Frank zu sein und sich als Jüdin vor den Nazis verstecken zu müssen. Das sei eine Geschmacklosigkeit, hieß es dann, und das sei "Trauma Porn", also irgendwie lustvoll und pornografisch. Da ich schon vorab damit gerechnet habe, dass es ähnliche Vorwürfe auch gegen meine Arbeiten geben könnte, habe ich sie gleich schon so benannt. In Wahrheit geht es mir aber darum, zu zeigen, was wir insgeheim alles an Traumata mit uns herumschleppen, und wie tabuisiert diese bis heute immer noch sind, fast wie Pornografie.
Insbesondere bei der Shoah stellt sich seit Jahrzehnten und immer wieder von Neuem die Frage, ob die Grauen der Judenvernichtung bildlich dargestellt werden können oder sollen.
Ja, aber bisher – bei meinen Ausstellungen in Kaunas und in Berlin – haben meine Darstellungen jedenfalls eher bewirkt, dass die Leute sich dem Thema öffnen und sich damit eingehender befassen. Sie sagen mir dann, dass es bei ihnen davor genauso schwierig gewesen sei, über den Zweiten Weltkrieg und die Nazizeit zu sprechen. Ein jüdischer Berliner Radiomoderator, dessen Vater im KZ inhaftiert war, hat dann so lange nicht locker gelassen, bis der Vater ihm endlich all seine Geschichten erzählte, über die Gräueltaten in Konzentrationslagern und über die Zeit danach. Nach Kriegsende hat der Vater sich in Berlin niedergelassen und ist den Ku’Damm entlang gelaufen, da kam ihm einer seiner ehemaligen KZ-Wärter entgegen. Der Sohn fragt ihn also: "Und? Hast du ihm eine reingehauen?" Und der Vater sagt: "Nein, ich habe gemacht, was man damals machen musste: Ich habe den Hut gezogen, genickt, und wir sind aneinander vorbeigegangen." So verbreitet war die Verdrängung der Verbrechen noch immer in der deutschen Nachkriegsgesellschaft.
Jetzt geht es Ihnen ja nicht bloß darum, das Konkrete und Historische zeigen zu dürfen. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz widmen Sie sich dem Abstrakten und Erfundenen. Wie kam es dazu?
Ausgehend von meiner eigenen Familiengeschichte. Mein Vater war Jahrgang 1924, er musste mit 16 Jahren für Deutschland in den Krieg ziehen und hat danach nie darüber gesprochen. Am Ende seines Lebens halluzinierte er im Krankenhaus Fantasieszenen, so traumatisiert war er davon. Ich habe drei Nächte lang bei ihm gesessen, während er diese Flashbacks aus den Kriegsjahren bekam. Er sah zum Beispiel nur den Lüftungsschacht an seiner Zimmerdecke, und daraus wurde für ihn schon eine Treppe, auf der etwas Schlimmes passiert ist. Was ging da wohl in seinem Kopf vor? Meine künstlerische Arbeit ist der Versuch, dem nahezukommen.
Und geht das?
Meine KI-generierten Bilder treten in einen Dialog mit den echten, authentischen Bildern, die ich über 20 Jahre hinweg gesammelt habe und die das Ausgangsmaterial für die KI-generierten Bilder waren. Die beiden Gruppen von Bildern beziehen sich aufeinander. Bei der künstlerischen Arbeit berät mich meine Frau, eine Neuropsychologin, zum Thema Trauma. Laut ihr bleibe man bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung in einer Schleife hängen, weshalb bestimmte Bilder dann immer wieder auftauchen. Was wir mithilfe von KI versuchen, ist diese Bilder zu verändern, um somit aus der Schleife der Wiederholung ausbrechen zu können. Nur durch die Veränderung des Materials kann eine emotionale Verarbeitung und eine Art Heilung gelingen.
Wirklich? Dabei sind Ihre KI-generierten Bilderwelten doch von Neuem albtraumhaft.
Ja, aber in einer Kunsttherapie ist das Darstellen von inneren Welten auf dem Papier bereits ein erster wichtiger Schritt, um Abstand dazu zu gewinnen und Klarheit zu erlangen. Ich habe mir in den letzten Jahren vielleicht 150.000 historische Bilder angesehen, wir haben viele alte Fotos aus dem Internet gekauft. Es gibt in all den Bildern bestimmte Kategorien, die in jedem Krieg immer wieder auftauchen, darüber muss man sich erst mal klar werden. Ich habe einen Berufssoldaten dazu befragt. Nach seiner Einschätzung sind die Kategorien, die ich herausgearbeitet habe, wirklich zeitlos und in jedem Krieg immer wieder von Neuem anzutreffen. Deshalb kam auch meine Zusammenarbeit mit dem Künstler Tanvir Taolad aus Bangladesch zustande: um meine kulturelle Voreingenommenheit als Deutscher auszugleichen.
Wie genau haben Sie KI benutzt?
Wir nehmen aus dem historischen Archiv zwei Bilder und kombinieren sie über den Befehl "Blend" bei Midjourney zu einem neuen Bild. Dann geht es darum, wie ich dieses Bild weitertreiben kann. Das passiert dann noch zur Hälfte in der Postproduktion, zum Beispiel mit Photoshop. Das heißt, man erweitert das Bild um neue Pixel, oder man löscht bestimmte Teile des Bildes und beschreibt in Worten, was stattdessen an der Stelle generiert werden soll. Dann hängt es von der eigenen Imagination ab. Zum Beispiel: Wir haben schon vorher den Knochen als Symbol verwendet, also fügen wir hier wieder einen Knochen ein und lassen die Menschen wie kleine Ameisen darüber laufen. So werden Symbole miteinander verschränkt. Tanvir verfügt über lauter Chemikalien, mit denen er die Bilder behandelt, um etwas daraus zu löschen, er schneidet sie mit der Schere aus und fügt sie neu zusammen, ich weiß gar nicht, was er da eigentlich alles macht. Er arbeitet jedenfalls mit der Hand, schickt mir dann seine Ergebnisse zu, und ich arbeite parallel mit KI.
Sind diese zwei Methoden denn so unterschiedlich? Wenn Sie sich am Anfang ein Konzept als "Prompt" für die KI überlegen müssen, und wenn Sie dann im Prozess immer noch solch viele einzelne Entscheidungen treffen, kommt das einer klassischen Collagetechnik doch recht nahe.
Der fundamentale Unterschied ist, dass ich hier mit Material aus den 1940er-Jahren arbeiten kann und am Ende Bilder erzeuge, die wirklich haargenau so aussehen können, als wären sie aus der Zeit. Ohne KI müsste ich solche Bilder wahrscheinlich als inszenierte Fotografien kreieren, dann bräuchte ich einen Kostümfundus und müsste wie beim Filmdreh vorgehen. Für mich ist die KI eine Befreiung. Nur die Vorstellungskraft ist das Limit. Ich arbeite in dem Wissen, wie Fotos von damals aussehen, wie das Licht und die Schatten fallen, das finde ich faszinierend. KI ist für mich ein Werkzeug, auf das ich immer gewartet habe, ohne es zu wissen.
Wie gehen Sie damit um, dass das Ergebnis pietätlos wirken oder kitschig aussehen könnte?
Die Kunst ist ja wohl nicht dafür da, um pietätvoll sein zu müssen. Ein starkes Kunstwerk ist der Impuls für eine Reise nach innen. Welche Gedanken, welche Gefühle, welche Erinnerungen werden dadurch getriggert? Zieht mich das an, stößt mich das ab? Soll heißen: Dieser Assistent beim Aufbau in Augsburg, der meine Arbeit ganz furchtbar findet, der hat eigentlich schon eine mögliche Wirkung von Kunst erlebt. Und da müsste er nun überlegen: Warum wirkt das so auf ihn? Wieso möchte er das nicht sehen, wieso möchte er nicht auf diese Reise gehen? Dass KI-generierte Bilder einen gewissen Kitsch mit sich bringen, ist tatsächlich ein reales Risiko. Aber ich versuche, mich mit jedem neuen Projekt weiter davon zu entfernen und mich zu verbessern. In Augsburg sind nun zwei oder drei kitschige Bilder schon nicht mehr dabei, die ich nach Berlin aus der Installation entfernt habe, und das ist ein kontinuierlicher Prozess.
Sie benutzen in Ihrer Ausstellung verschiedene Bilderrahmen, zur leichteren Unterscheidung von authentischen und KI-generierten Fotos. Auch beim "Sony World Photography Award" haben Sie im Nachhinein betont, dass Sie an keiner Stelle die Unwahrheit gesagt haben, als Sie ein KI-generiertes Bild zum Wettbewerb einreichten. Trotzdem merkte die Jury nichts. Welches Täuschungspotenzial bietet KI, wenn man es darauf anlegt?
Ich kann alles faken, was wir in digitaler Form vorliegen haben: Bilder, Bewegtbilder, Stimmen. Die Technik wird immer besser werden, immer weniger von der Realität unterscheidbar. Ich engagiere mich im Deutschen Fotorat, uns ist es wichtig, auf dieses Desinformationspotenzial hinzuweisen. Es ist immer noch nicht bei allen angekommen, dass wir Bildern nicht mehr per se trauen können. Wenn ich durch die Welt gehe und ein Foto sehe, denke ich mittlerweile immer erst mal, es ist generiert. Es sei denn, es gibt dazu eine bestimmte Quelle oder einen Qualitätsprozess.
Was folgt daraus?
Da sind die Medien in der Verantwortung. Mich hat die Redaktion der Talkshow "Markus Lanz" für ihre Jahresabschlusssendung angesprochen, ob ich nicht etwas zum Thema KI machen könnte. Die wollten natürlich auch auf das Desinformationspotenzial hinweisen. Aber wie? Ich sollte für sie ein Bild von Sahra Wagenknecht als Klima-Kleberin auf der Straße generieren. Das wollte man im Internet verbreiten und erst in der Sendung auflösen, um so auf die Gefahr durch Fake News hinzuweisen. Und ich habe zu denen gesagt, ihr habt eigentlich etwas total Kontraproduktives, Schädliches vor. Das ist purer Quatsch.
Abgesehen von solchen Aktionen: Wer meint es wirklich ernst mit den KI-Fakes?
Das größte Potenzial für eine politische Propaganda besteht darin, Echtes mit Falschem zu vermischen. Ich kann ohne Probleme in der Rede eines Politikers einen Teil so lassen, wie er in den Nachrichten gesendet wird, und danach einen anderen Teil verändern. Durch diese Mischung aus echt und falsch erreiche ich eine viel größere Verunsicherung als durch etwas völlig Absurdes. Ein großes Problem sind auch Plattformen, die KI-generierte Bilder falsch verschlagworten und zur Weiterverwendung anbieten. Auf den großen Stockfoto-Plattformen finde ich Bilder aus dem Gazastreifen, die erfunden sind. Weder gibt es genau diese zivilen Opfer noch gibt es den Ort dazu. Das ist dann ein beliebiges Symbolbild für das Leid in Gaza und möglicherweise sehr tendenziös. Aber es wird so verschlagwortet, als sollte es von Medien gefunden und weiterverwendet werden. Der Cyberkrieg als erweitertes Schlachtfeld ist an sich nichts Neues, hat durch KI-generierte Inhalte aber eine ganz andere Qualität erreicht, weil diese Inhalte jetzt von jedem beliebigen Sympathisanten jeder politischen Richtung erstellt werden können.
Welche Phasen werden die heutigen Kriegsparteien – sei es in der Ukraine oder im Nahostkonflikt – in den nächsten Jahrzehnten durchlaufen müssen? Folgen dann wieder die Verdrängung, die verfälschte Erinnerung und die transgenerationalen Traumata?
Ja, das ist zumindest, was mein Galerist in Berlin gesagt hat. Er ist ein Exilrusse, und er sagt, das alles stehe seinem Land jetzt erst noch bevor, der ganze harte Aufarbeitungsprozess. Russland verhalte sich im Moment genauso wie Nazideutschland. Das sind leider bestimmte Strukturen, die immer wiederkehren. Es gibt seit Jahren Forschung zu Genoziden: Was muss passieren, damit ein Völkermord möglich wird? Davor gibt es zehn verschiedene Stufen, und eine davon ist, dass man der anderen Seite das Menschsein abspricht, also die Existenzberechtigung. Wenn jemand nicht mehr als Mensch gilt, sondern als böse, kann er zu "dem Bösen" schlechthin gemacht werden. Sprechen Sympathisanten der Hamas dem Staat Israel sein Existenzrecht ab, so ist das die Grundlage für einen neuerlichen Genozid. Manchmal erlernen Generationen eine bestimmte Sensibilität, wie zum Beispiel Deutschland in den letzten Jahren. Aber irgendwann wird diese wohl leider auch wieder verloren gehen, dann wiederholt sich alles. Der Mensch als solcher bessert sich nicht so schnell wie der Fortschritt der Technologie vorangeht.
Demnach gehören Sie eher nicht zu denen, die von der Kunst einen Wandel zum Besseren erwarten?
Doch, für mich ist Kunst eine Einladung zu einer Reise nach innen. Aber zu dieser Reise wollen leider nicht alle Leute aufbrechen. Und diejenigen, die dann auch wirklich in die Ausstellung gehen, haben ihre Meinungen zu dem Thema ohnehin schon vorher sortiert. All denjenigen, die unsere Arbeiten in Augsburg abstoßend finden, möchte ich noch sagen: Tanvir und ich sind keine abgestumpften Sadisten. Wir sind sehr empathisch. Wir haben uns durch dieses ganze schreckliche Material gewühlt, das hat viel mit uns gemacht. Diese Empathie haben wir seitdem natürlich nicht verloren. Sie steckt in unserer fertigen Installation.