Andrea Büttner, die zentrale These Ihrer Publikation "Shame" lautet, dass die Struktur der Scham ähnlich der des Produzierens und Sehens von Kunst ist. Wie genau verstehen Sie die Gemeinsamkeiten?
Scham ist ein sehr kompliziertes Gefühl, anders als zum Beispiel Wut oder Freude. Schamgefühle basieren auf einer Dreiecksstruktur, so beschreibt es die Philosophin Hilge Landweer: Ich schäme mich einer Sache vor anderen. Der urteilende Blick ist wichtig. Das Selbstreflexive, die Einbettung in eine soziale Sphäre ist Teil des Gefühls, weil wir uns mit den Augen der anderen sehen. Und genau diese trianguläre Struktur spiegelt sich in der Dynamik der kulturellen oder künstlerischen Produktion: Ich, die Künstlerin, erzeuge Kunst für ein Publikum. Außerdem ist Scham ein Gefühl, das stark mit dem Visuellen verbunden ist. Für den Psychoanalytiker Léon Wurmser hatte Scham etwas mit dem Zeige- und dem Schautrieb zu tun. Scham ist also immer an Sichtbarkeit gekoppelt, an das Öffentlichsein und das Angeschautwerden, zentrale Themen der visuellen Kultur und der Kunst.
Der erste Satz im Vorwort ihres Buches lautet dementsprechend: "Kunst ist eine Arena der Scham."
Diese Deckungsgleichheit in den Strukturen zeigt die Schamanfälligkeit der Kunst. Gute Kunst bleibt meiner Meinung nach an diesem Gefühl dran. Das impliziert ganz unterschiedliche Dinge, zum Beispiel, dass man nicht die Kunst produziert, die nur gut ankommt, sondern das Entlanghangeln an Schamgrenzen. Der Künstler Dieter Roth, dem ein Kapitel des Buchs gewidmet ist, schreibt in seinen Tagebüchern, wie er zunächst deshalb Kunst im gefragten Stil des Konstruktivismus produziert habe, um das Gefühl der Scham zu vermeiden.
Sie sagen auch: "Scham ist nicht tot." Steht so eine Behauptung nicht konträr zu einer Gegenwart, in der sich Schamgrenzen immer weiter zu verschieben scheinen und nur noch wenige visuelle Tabus existieren?
Die ursprüngliche Intuition, mich mit dem Thema zu beschäftigen, war die Beobachtung, dass die zeitgenössische visuelle Kultur häufig als immer schamloser beschrieben wird. Zugleich herrscht der konventionelle Glaube an die Freiheit der Kunst. Die Erfahrung, die ich dann als junge Künstlerin machte, war eine ganz gegenläufige, nämlich dass im Bereich der zeitgenössischen visuellen Kultur Schamgefühle eine wichtige Rolle spielen. Je visueller eine Kultur ist, umso größer die Rolle der Schamgefühle in ihr.
Welches produktive Potenzial hat Scham?
Scham ist erst mal ein unangenehmes Gefühl, und wir alle versuchen Schamgefühle zu vermeiden. Scham berührt eine Grenze von Darstellbarkeit. In der Kunstgeschichte gibt es zwar eine Ikonografie von Schamgesten, wie etwa die Darstellung der Eva als Venus pudica, die sich die Brüste und die Scham bedeckt. Mit der Betrachtung dieser Motive verbleibt man aber bei konventionellen Vorstellungen über das Thema. In der Scham liegt radikales Potenzial, weil sie sich immer an gesellschaftliche Konventionen und Normen knüpft. Wo wir uns schämen, da berühren wir den Bereich des nicht Darstellbaren, in dem die Sprache und das Zeigen zusammenbrechen. Scham ist anti-immersiv. Zugleich ist Scham eine hilfreiche Emotion, weil sie ein heuristisches Gefühl ist: Sie kann zur Methode werden, um genau diese Normen des Zeigens zu spüren und aufzudecken. In der Ethnologie wird zwischen Scham- und Schuldkulturen unterschieden.
Worin besteht die Andersartigkeit?
Diese Abgrenzung ist total interessant, weil man daran sieht, wie Normverstöße geahndet werden. In Schuldkulturen geht es um eine Bestrafung mittels des Gesetzes. Je visueller eine Kultur wird – entgegen der Intuition, dass wir immer schamloser werden –, desto mehr wird Scham wieder relevant, was die Einhaltung von Normen und Konventionen anbelangt. Durch Scham spüren wir die Gruppe. Welche Norm und Konventionen das am Ende sind, das ist sicher interessant zu debattieren.
Können Sie aktuelle Beispiele nennen, in denen Scham in der künstlerischen Produktion relevant wird?
Heute herrscht in der Kunst eine Ökonomie des Maximalismus: Riesige Museen müssen mit Werken gefüllt werden. Es ist deshalb vielleicht eher schamvoll, kleine Zeichnungen in den Ausstellungsraum zu hängen. Ich finde es auch interessant, über Bad Painting entlang des Schamgefühls nachzudenken. Man denkt zunächst, diese Art des Malens hätte etwas Freies, dabei sind kontraphobische und überdeckende Elemente wichtiger Bestandteil davon. Anhand von Philip Guston geriet in letzter Zeit wieder in den Blick, was künstlerische Arbeit in Bezug auf Scham sein kann. Im Aktivismus spielt Scham aktuell eine große Rolle. Auf die Kunst bezogen fällt mir diesbezüglich Nan Goldin ein, die 2019 im Guggenheim gegen den Opioid-Hersteller Sackler demonstrierte und ein Banner trug mit dem Schriftzug: "Shame on Sackler". In Amerika kommen sogenannte Schamstrafen wieder zur Anwendung. Es existiert generell eine Renaissance der Beschämung. Die Scham als Mittel zu instrumentalisieren, beurteile ich jedoch sehr kritisch.