Es gibt nur wenige Künstler - und noch weniger Künstlerinnen -, nach denen ein ganzes Museum benannt ist. Vincent van Gogh hat ein eigenes Haus in Amsterdam, für Edvard Munch soll demnächst ein imposanter Kunst-Koloss im Hafen von Oslo eröffnen, und das Museo Frida Kahlo strahlt azurblau in Mexiko Stadt. Und dann ist da natürlich noch Melly Shum, eine frühere Kunststudentin im kanadischen Ottawa, die heute als Verkäuferin von Haushaltswaren in Toronto lebt und seit kurzem dem Kunstinstituut Melly in Rotterdam ihren Namen leiht. Warum das Zentrum für zeitgenössische Kunst nach einer ziemlich normalen Frau benannt ist, die ihren Künstlerrinnentraum zugunsten eines sicheren "Brotjobs" begraben hat, ist eine längere Geschichte. Und eine, die sich unbedingt zu erzählen lohnt.
1989 posierte die Kunststudentin Melly Shum, die in Hongkong geboren wurde und mit 15 Jahren nach Kanada kam, für den Fotografen Ken Lum, ihren damaligen Lehrer. Der chinesisch-kanadische Künstler machte Bilder von allen Studierenden seiner Klasse, um diese dann zu riesigen Billboard-Formaten aufzublasen und im öffentlichen Raum zu platzieren. Aus der Serie wurde jedoch vor allem das Porträt von Melly Shum bekannt, die Ken Lum in einem generischen Büro-Setting an einer altmodischen Rechenmaschine inszenierte.
Das sympathische Lächeln der jungen Frau mit schwarzem Pullover und auffälliger weißer Brille wird von einem bunten Schriftzug konterkariert: "Melly Shum Hates Her Job." Durch diesen Satz verwandelte sich die heitere Melly in ihrer Werbeplakat-Ästhetik plötzlich in eine Identifikationsfigur für alle, die in deprimierenden Büro-Hamsterrädern vor sich hin rennen. Ihr Abbild wurde zu einer nahbaren Verkörperung von "Bullshitjobs", lange bevor der Anthropologe David Graeber 2018 seinen gleichnamigen Essay schrieb. Und nun wird Melly Shum in gewisser Weise auch noch zum Symbol von dekolonialen Bemühungen in europäischen Kulturhäusern.
Seit über 30 Jahren Teil des Rotterdamer Stadtbilds
Das besagte Billboard von Ken Lum wurde nicht nur in Kanada populär, sondern hat inzwischen so ziemlich die ganze Welt bereist. Unter anderem hängt es seit rund 30 Jahren an der Fassade des einstigen Witte-de-With-Museums in Rotterdam, eben jenem Kunsthaus, das - Sie ahnen es - jetzt Kunstinstituut Melly heißt. Das stoisch lächelnde Gesicht ist gerade für die jüngere Rotterdamer Bevölkerung ein Teil des Stadtbilds, seitdem sie denken können. Und als die Entscheidung anstand, einen neuen Namen für das Museum zu finden, kam der Wunsch, der unbekannten Frau mit dem Jobhass ein Denkmal zu setzen, auch von den locals.
Der Bedarf nach einer Umbenennung rührt daher, dass der bisherige Patron, General Witte de With (1599 bis 1658), an der kolonialen Expansion der Niederlande sowie am Handel mit Sklaven beteiligt war. Nach ihm ist die Straße benannt, in dem das Zentrum für zeitgenössische Kunst liegt. Und diese Straße gab wiederum dem Kunsthaus bei der Gründung 1990 seinen Namen.
2018 schickte eine Gruppe von Künstlerinnen und Aktivisten einen Brief an das Institut, in dem sie die Diskrepanz zwischen einem Titel mit kolonialer und rassistischer Vergangenheit und dem Anspruch aufzeigten, ein offener Ort für Austausch und künstlerische Experimente zu sein. Die Witte-de-With-Direktorin Sofía Hernández Chong Cuy, die ihr Amt kurz nach dem Appell angetreten hatte, entschied sich, auf die Forderung einzugehen und ihr Haus in jeder erdenklichen Hinsicht auf die Probe zu stellen. Die "Black Lives Matter"-Proteste und der Sturz kolonialer Denkmäler im vergangenen Jahr haben das Unternehmen beschleunigt. Auch das Witte de With wurde im Zuge von Demonstrationen attackiert. Und so wurden vor einigen Wochen die Buchstaben des alten General-Namens von der Fassade genommen. Das neue Melly-Logo, spiralförmig und verspielt, muss noch angebracht werden.
"Wir löschen Geschichte nicht aus, wir schreiben sie weiter"
"Nur den Namen zu ändern, ist natürlich nicht genug", sagt Sofia Hernández via Zoom, während sie in der Küche des pandemiebedingt geschlossenen Kunstcenters sitzt. "Es braucht strukturelle Veränderung, die wir in einem gemeinsamen Lernprozess erreichen wollen. Aber Kunsthäuser sind Orte der Repräsentation, deshalb können symbolische Veränderungen den Wandel anstoßen. Die Namensänderung ist eine Handlung von vielen."
Auch in den Niederlanden wird die Tilgung von Hinweisen auf die Kolonialzeit kontrovers diskutiert. Kritiker sprechen von "Auslöschung der Geschichte" und auch am Begriff des "Goldenen Zeitalters", das für die Kolonisierten so gar nicht golden war, wollen einige gern festhalten. Sofía Hernández Chong Cuy kann das nicht verstehen. "Wir löschen die Geschichte nicht aus, wir schreiben sie weiter", sagt sie. Beim Abnehmen des alten Schildes seien sie äußerst vorsichtig und respektvoll vorgegangen. Denn der Name Witte de With stehe zwar für Schmerz und Ausbeutung, aber eben auch für eine Institution, die sich über 30 Jahre hinweg einen internationalen Ruf als progressives Ausstellungshaus erarbeitet hat. Ein Haus der Avantgarde, sagt Sofia Hernández, das nun auch mit dem Namenswechsel voran gehen will. Die Straße, die dem Haus seine Adresse gibt, heißt allerdings unverändert Witte de Withstraat. Ob sich auch das in naher Zukunft ändern könnte, wagt die Direktorin nicht zu prognostizieren.
Dass das Institut nun ausgerechnet nach Melly Shum benannt ist, geht auf einen Vorschlag von Rotterdamer Jugendlichen zurück, die Melly offenbar ins Herz geschlossen haben. Vielleicht sahen sie das Werk von Ken Lum auch als "Proto-Meme", ein analog zirkulierendes Bild mit eingängigem Slogan und vielschichtiger Bedeutung.
Zuerst wurde ein öffentlich zugänglicher Teil des Zentrums nach ihr benannt, dann schließlich Ende Januar das ganze Gebäude. Wegen der Corona-Pandemie musste die geplante Party ausfallen. Im Netz gibt es dafür verschiedene Episoden der Serie "Melly TV", bei der es um die Zukunft des Museums geht. "Ich mag die Idee, dass sie eine Anti-Heldin ist", sagt Sofia Hernández. "Der Name meint einerseits eine Person, aber auch ein Kunstwerk und ein Konzept." Die Wahl passt zum Bestreben der Kunstwelt, sich von vermeintlichen Helden zu verabschieden, die sich in vielen Fällen als fehlbar, wenn nicht unerträglich erweisen. "We Don't Need Another Hero", lautete der Titel der 10. Berlin-Biennale 2018, in Bristol stellte der Künstler Marc Quinn eine "Black Lives Matter"-Aktivistin auf einen Sockel, auf dem vorher ein Sklavenhalter stand.
Eine Bürde für die "Normalen"?
Anti-Heldinnen wie Melly Shum sind nahbar - ein instiutionelles "girl next door" auf globaler Ebene. Doch es drängt sich die Frage auf, ob eine Verewigung als Museumspatronin einem Menschen nicht auch eine Bürde auflastet. Ist eine Melly nur eine Stellvertreterin einer Gruppe, oder muss sie als Person nun selbst einer moralischen Durchleuchtung standhalten? Muss sie sich dieses Ausstellungshauses würdig erweisen? Oder ist sie wie jede Berühmtheit vor allem eine Projektionsfläche, die für alle etwas anderes bedeutet?
Man möchte sie am liebsten selbst fragen, doch aus dem Instituut Melly heißt es, die neue Schutzheilige sei sehr "low key" und nicht besonders Interview-affin. Doch dann hat sie doch Lust auf einen Zoom-Call zwischen Toronto und Berlin. "Ich wusste lange nicht, dass ich berühmt bin", erzählt sie. Aber dann wettete sie mit ein paar Kolleginnen, wessen Name die meisten Treffer bei Google ergeben würde. "Und dann merkte ich, dass ich in der Kunst ziemlich bekannt bin."
Melly Shum erzählt, dass sie als Studentin nicht wusste, was Ken Lum mit ihrem Porträt vorhatte. Und als sie das Plakat mit dem Schriftzug zum ersten Mal sah, fand sie die Kombination aus Bild und Text vor allem lustig. "Das Werk steht für alles, was ich nicht bin", sagt sie. Es reist um die ganze Welt, während Melly Shum ihren Bundesstaat nur verlässt, wenn sie auf Geschäftsreise muss. Es zirkuliert im öffentlichen Raum und in Museen, während sie nur noch als Hobby fotografiert und ihren Ausstieg aus der Kunst nie bereut hat. In Rotterdam war sie noch nie und weiß auch nicht, ob sie es je dorthin schaffen wird. "Das Bild übernimmt das Reisen für mich", sagt Melly Shum.
Und hasst Melly Shum nun ihren Job?
Dass nun ein Ausstellungshaus in den Niederlanden ihren Namen trägt, hat sie gefreut; die Diskussionen um koloniales Erbe und den Umgang damit findet sie wichtig. In puncto Zusammenleben könne Europa einiges von Kanada lernen, sagt sie, auch wenn auch dort natürlich nicht alles perfekt sei. Doch auch in diesem Kontext trennt sie das Werk von ihrer Person. "Das Institut ist nicht mir gewidmet", sagt sie. "Die Menschen identifizieren sich mit einem Konzept und einer Idee von Ken." Mit ihrem Lehrer hat Melly Shum nach dem Studium keinen Kontakt mehr gehabt, doch nach den Neuigkeiten aus Rotterdam wollen die beiden bald ein Skype-Gespräch führen. Der Name gehört zweifellos ihnen beiden.
Eine zentrale Frage muss zum Schluss natürlich noch geklärt werden: Hasst Melly Shum ihren Job? 30 Jahre nach dem Fotoshooting schüttelt sie lachend, aber energisch den Kopf. Melly Shum liebt ihren Job. Sie komme aus einer Familie von Verkäufern und Verkäuferinnen, erzählt sie mit Nachdruck, und die Arbeit mit Kunden sei ihr größtes Vergnügen. "Ich bin ein Workaholic, und das wissen auch alle", sagt sie mehrfach während des Gesprächs. Deshalb sei es der Running Gag in ihrer Bekanntschaft, dass ausgerechnet sie den Slogan mit dem Hass auf die Arbeit abbekommen habe. "Ich kann alle Menschen verstehen, die unter ihrem Job leiden", sagt Melly Shum. "Viele erleben Belästigung oder Erniedrigung, aber ich hatte das Glück, immer gern zur Arbeit zu gehen."
Dass sowohl sie als auch Ken Lum asiatische Immigranten in Kanada sind, gibt dem gemeinsamen Kunstwerk noch eine weitere Dimension. Denn viele Eingewanderte der ersten Generation quälen sich jahrelang in verhassten, oft prekären Arbeitsverhältnissen. Der Durchhaltewillen kommt aus dem Wunsch, der nächsten Generation ein besseres Leben und mehr Chancen zu bieten. Auch Melly Shum kennt diesen Ethos aus ihrer Familie und ihrem Freundeskreis. "Sie arbeiten nicht für sich, sondern für ihre Kinder", sagt sie. Auch diesen Menschen sei das Werk gewidmet. Die wenigsten von ihnen werden irgendwann ein Museum haben, das nach ihnen benannt ist. Aber die Kunst hat die Kraft, sie für eine Weile sichtbar zu machen. Und Monumente ein wenig anders zu denken.