Nostalgie-Account "@Retroreise"

"Ich würde gern nochmal dieses Gefühl eines 80er-Italienurlaubs erleben"

In unserer Rubrik "Insta-Watchlist" stellen wir kreative Accounts vor, denen es zu folgen lohnt. Diesmal sprechen wir mit Stefan Zeitgeist, der mit "@Retroreise" der guten alten Zeit nachspürt

Stefan Zeitgeist verbreitet auf seinem Instagram-Account "@Retroreise" gut angezogene Nostalgie aus den 1950er- bis 1980er-Jahren. Ein bunter Roadtrip durch das Europa der vermeintlich "guten alten Zeit", auf die sich alle einigen können – oder wenigstens fast 70.000 Follower. Angefangen mit Autobahn-Raststätten zelebriert der Inhalt heute Vintage-Ästhetik und Oldschool-Flair. Von der Weltmeisterschaft in München 1974 bis zum Beach Club in Beirut. 

 

Stefan Zeitgeist, war früher alles besser? Und wenn ja, warum?

Gute Frage. Ein Wort kommt in den Mails, die ich von Followern in diesem Kontext erhalte, immer wieder vor: Unbeschwertheit. Ich frage oft nach, was sich alles dahinter verbirgt. Für die einen ist es die Erinnerung an das erste Auto oder ein legendäres Konzert, für viele andere ein Urlaub, in dem alles easy und locker war. Jeder kennt das sicherlich. Ich kann mich erinnern, dass wir in meiner Kindheit Urlaub in Bibione gemacht haben. Das war im Sommer 1987. Es gab abends eine Minidisco mit einem Ryan-Paris-Double. Jeden Abend Dolce Vita für die Touris. 

Verspüren Sie da auch Nostalgie?

Der Urlaub ist mir bis heute größtenteils positiv im Gedächtnis. Auch wegen der happy Fotos dazu. Wenn ich genauer darüber nachdenke, bin ich unweigerlich bei der Autofahrt dorthin. Die war grauenhaft. Fotos davon gibts keine. Ich habe mich mindestens zehnmal übergeben müssen und lag die ganze Fahrt über nicht angeschnallt auf der Rückbank. War es früher besser? Ich bin mir nicht sicher. Trotzdem würde ich gerne nochmal das Flair, oder dieses Gefühl, eines 80er-Sommerurlaubs in Italien erleben. 

Auf Ihrem Instagram-Account zelebrieren Sie die Ästhetik und Popkultur der 1950er bis 1980er-Jahre – in Europa und in Farbe, wie es Ihr Linktree verrät. In welches Jahr würden Sie am allerliebsten zurückreisen, an welchen Ort und in welchem Outfit?

Mitte der 1960er- bis Anfang der 1970er-Jahre hätte mir sicher gefallen. Design, Mode, Sprache und dieses aus heutiger Sicht naive "Future is bright"-Narrativ, das jeder westdeutschen Kleinstadt ein Bauhaus-mäßiges Hallenschwimmbad beschert hat. Die waren in dieser Zeit von Bedeutung. Es gibt diesen wundervollen Bildband "Schwimmen im Geld" von Richard Schmalöer, der viele private Kellerschwimmbäder aus dieser Zeit fotografisch festgehalten hat. Spätestens 1972 war es schon so gut wie vorbei: Club of Rome, Ölpreiskrise, Rolf Dieter Brinkmann wütend in der Villa Massimo, der Sound ging in allen Bereichen in eine andere Richtung. Schlager, Deutsche Gemütlichkeit, Eiche rustikal und so weiter. Sehr reizend. 

Also?

Einigen wir uns auf die Mitte der 1960er-Jahre in London, Rom oder München. Wahrscheinlich hätte ich einen schmalen schwarzen Anzug getragen. Am Handgelenk irgendwann eine Seiko Quartz Astron. Istanbul habe ich vergessen zu erwähnen. Dort soll es zu der Zeit interessant gewesen sein, wenn man Jörg Fauser vertraut. Und wenn wir schon bei Jörg Fauser sind, dann hätte ich es nett gefunden, mit ihm eine Rindswurst in der Frankfurter Bahnhofskneipe zu essen. Das wäre um 1975 gewesen, und ich hätte sicher ein Frottee-Poloshirt getragen. Getroffen hätten wir uns an einem Freitagnachmittag, wenn alle ins Wochenende starten und trotz der hohen Arbeitslosigkeit, der blöden Chefs und dem teuren Heizöl gut drauf sind und, wie man sagte, "tierisch Lust" auf Bier und Rindswurst haben.

Was glauben Sie, mit welchen Emotionen werden wir in etwa 60 Jahren auf die 2020er Jahre schauen?  Sehnsucht oder Schauder?

Wie schauen wir heute auf 1964 zurück? Mir fallen die Beatles ein und dass der 1. FC Köln in seidig-weißen Shirts von Christian Dior planmäßig erster deutscher Fußballmeister wurde. Ganz edgy für 1964 war der Monokini von Robert Gernreich. Für ihn war klar, dass alle Frauen bald oben ohne baden gehen würden. Und in Westdeutschland starben im Jahr 1964 noch über 16.000 Menschen im Straßenverkehr. 2022 lag dieser Wert in Deutschland laut Statistischem Bundesamt bei 2.788. Ich kenne mich mit diesen Zahlen mittlerweile aus, weil sie öfter in den Kommentaren meiner Posts diskutiert werden. Am Ende wird es vermutlich ein Mix aus guten und weniger guten Dingen sein. Und Ereignissen, die in der Retrospektive kurios anmuten, abstoßend wirken, Sehnsüchte wecken, traurig machen oder vollkommen absurd erscheinen.

Wie beurteilen Sie die kollektive Nostalgie und das Schwelgen in der Vergangenheit, die über die sozialen Medien, die Mode und gefühlt jede weitere Kommunikationsform momentan gelebt werden?

Das hat sicher mit der Zeit zu tun, in der wir gerade leben. Dynamisch, brüchig, viele Veränderungen. Es wirkt auf mich deshalb fast schon wie ein Reflex, wenn wir nostalgisch werden und dabei dieses "früher war es besser, einfacher, unkomplizierter" im Hinterkopf haben. Ich bin Anfang der 1980er-Jahre geboren und habe die 1990er noch in Erinnerung. Diese Dekade ist nicht mit heute vergleichbar. Soweit ich mich richtig erinnere, lag eine Art Umbruchsstimmung, oder wie man heute gelegentlich sagt, Zeitenwende, in der Luft. Der gesellschaftliche Sound ging in die Richtung: die Mauer ist weg, Friede fast überall und jetzt haben wir das Internet und Handys. Alles wird besser, schneller – und cool sind wir sowieso. Die Zeit hatte eine ausgesprochene Dynamik und man konnte sogar reich werden. Es gab den Neuen Markt und passenderweise Telekom-Aktien. In jeder Raiffeisenbank gab es jemanden, der in Sachen Getreidedünger Bescheid wusste und gleichzeitig Telekom-Aktien klar machen konnte. Dazu noch die Dauerpräsenz von Eurodance und Techno in der Popkultur. Viele Leute meiner Generation sind irgendwann ausgestiegen und wandelten zurück in die 1960er- und 1970er-Jahre.

Sie auch?

Bei mir war es so. Musikalisch gings damit konsequent zur Hamburger Schule und dem Brit Pop. Diese, ich nenne sie jetzt mal Jugendkultur bediente sich schon in den frühen Neunzigern im Klamottenschrank der 60er und 70er. Für alle Zeiten eindrucksvoll festgehalten auf den ersten Bandfotos von Tocotronic. Ich bin in dieser Zeit in einer orangefarbenen Puma-Trainingsjacke von 1972 durch die Gegend gelaufen. Es hat ein Stück weit gutgetan, sich über solche Sachen auszuklammern und nicht jeden Mist mitzumachen. Wenn die TikToker jetzt die späten 1990er und frühen 2000er-Jahre wieder entdecken, so gehen sie in eine Zeit zurück, die eine außergewöhnliche Dynamik hatte. Symptomatisch finde ich, dass sie diese Matrix-mäßigen Sachen hervorholen. Und damit das, was wir strikt umgehen wollten. Ich denke an die schmalen Metallbrillen, die ich bei der Gen Z gerade wieder sehe. Das wirkt nach außen vermutlich so verstörend, wie unsere grellen Trainingsjacken damals.

Auf Instagram folgen 68.700 Personen Ihrer Zeitreise. Warum glauben Sie findet Ihr Account solch einen großen Anklang?

Vielleicht, weil sich die Geschichten unbeschwert anfühlen. Das schreiben mir viele. Auf der anderen Seite ist es eine andere Art, Zeitgeschichte und Popkultur in Kombination zu setzen. Kurz, schnell und sehr bunt. Ich mag Camp. Schlussendlich bin ich kein Historiker, der die Posts zeitgeschichtlich einordnet oder analytisch dekonstruiert, um am Ende einen Bogen in die Gegenwart zu spannen. Unsere Zeit ist nachvollziehbar geprägt von einer Kultur des Analysierens und Erklärens. Dadurch geht Authentizität und Zeitgeist-Ästhetik nachvollziehbar verloren. Wenn ich in einer Insta-Story einen TV-Ausschnitt aus dem Sommer 1983 zeige, in dem Eduard Zimmermann schwitzend und mit dieser megamäßigen 80s-Brille in die Kamera schaut, noch dazu in einem cremefarbenen Anzug, und mit diesem westdeutschen Oberlehrerpathos ein Verbrechen aus der Provinz anmoderiert, dann braucht es keiner Worte oder Erklärungen. Das ist uncut Westdeutschland 1983 in 15 Sekunden. 


Welche Art Post bekommt Ihrer Erfahrung nach die meisten Reaktionen?

An vieles, was ich hervorhole, können sich die Leute noch mindestens vage erinnern und diskutieren teilweise intensiv darüber. Bunte Alpenromantik mag fast jeder: 1970er-Jahre Bergpanoramen in leuchtenden Farben. Manchmal sind die Werbefotos aus den Archiven der großen Automarken und Postkartenmotive. Überhaupt werden die Fotografinnen und Fotografen dieser Postkarten noch viel zu wenig gewürdigt. Handwerklich gesehen ist das oft herausragende Arbeit. Ähnlich wie bei Arnold Odermatt, dem Polizeifotografen aus der Schweiz. In Sachen Postkarten ist exemplarisch der Defner Verlag aus Tirol zu erwähnen. Wenn ich mir meine Defner-Postkarten aus dieser Zeit anschaue, ist klar, dass in deren Archiv unfassbar gute Aufnahmen von kontextbezogener zeitgeschichtlicher Relevanz liegen müssen. Anders gesagt: wir sehen darin garantiert einen Teil der Sehnsuchtsorte der Westdeutschen in der Zeit von 1950 bis 1990.

Aus welcher Motivation heraus haben Sie begonnen auf Instagram zu posten?

Bei Insta habe ich mit alten Fotos und Postkarten von westdeutschen Autobahn-Raststätten begonnen. Ich glaube, anfänglich war der Profilname irgendetwas mit Raststätten. Das Thema hat für mich einen wesentlichen Ursprung in Marc Auges "Non Places"-Theorie, die mich einfach gesagt schon lange begleitet und mit der ich mich von Zeit zu Zeit selbst fotografisch auseinandersetze. Faszinierend finde ich alte farbige Hotel-Postkarten aus den deutschen Mittelgebirgen. Ein Beispiel: ein Hotel in der Eifel, das auf einer 1980er-Jahre-Postkarte damit wirbt, dass es im Keller ein Solarium gibt, welches vor einer Fototapete mit Karibikstrand-Motiv steht. Nice! Da hat sich jemand Gedanken gemacht. Ich stelle mir das so vor: Man wandert den ganzen Tag gut gelaunt durch die Eifelwälder und geht abends, glücklich von so viel echter Natur, unter die Sonnenbank im holzvertäfelten Hotelkeller. Die Wand wurde irgendwann noch handwerksmäßig perfekt mit einer Karibikstrand-Fototapete überzogen und aus den Musikboxen klingt "Sun of Jamaica" der Goombay Dance Band. Dazu drei, vier Bier und eine geräucherte Mettwurst. Traumhaft. So muss es gewesen sein. Bei mir gibts genau das. 

Der Blick in die Vergangenheit bedeutet auch immer, sich mit schlecht gealterten Dynamiken zu beschäftigen. Wie begegnen Sie dem Thema? Auf Ihrem Account etwa finden sich Videos, die den Diskurs "Frauen am Steuer" behandeln. Überlegen Sie zweimal, diese Videos zu posten?

Ich habe meine Rahmen. Dadurch, dass ich nicht redaktionell einordne, gibt es Content, um den ich – trotz seines popkulturellen Erinnerungswerts und einer offensichtlichen zeitgenössischen Ästhetik – einen Bogen machen muss. Die ersten "Schulmädchen-Report"-Filme aus den Siebzigern fallen für mich in diesen Bereich. Im Spannungsfeld Zeitgeschichte und Popkultur sehr interessant, gleichzeitig für mich nicht umsetzbar ohne Text und einer damit verbundenen historischen oder medienpädagogischen Einordnung als ein westdeutsches Filmprodukt der frühen 1970er-Jahre.  

Auf ihrem Linktree steht als Disclaimer am Ende der Seite "Future is now" - wie soll man dieses kurze Statement im Kontext Ihrer Hingabe zu vergangenen Zeiten verstehen?

Wir leben im Hier-und-Jetzt. Ich bin kein Hardcore-Nostalgiker oder jemand, der mies gelaunt in den Keller absteigt, um wütend alte Tocotronic-Alben anzuhören und dabei darüber nachdenkt, wann es anfing, schief zu laufen. Ich glaube nicht so ganz daran, dass früher alles besser war. Vielleicht können wir uns ein paar Dinge von damals wieder angewöhnen: weniger Empörung, weniger Schwarz-Weiß, weniger Beleidigungen, mehr Sachlichkeit, mehr Klarheit in der Kommunikation, ich denke an Krisen und Probleme, und unbedingt mehr simple Alltagsfreundlichkeit: Bitte, Danke, Guten Tag, Augenkontakt, beispielsweise. Und wieder zurück zu Kompromissen. Kompromisse haben heute ein Loser-Image. Das ist sicher jedem schon mal aufgefallen. Das sollten wir ändern. Mehr Freundlichkeit und mehr Kompromisse.