Das letzte Mal sah ich Inge Mahn im Winter im Grünen Baum in Ringenwalde. Es war eine herzliche Begrüßung. Obwohl sie mich nicht darum gebeten hatte, versprach ich, ich würde vorbeikommen, bei ihr in Groß Fredenwalde, ins Stallmuseum, ja unbedingt, es war ernst gemeint. So ist das mit dem letzten Mal. Jetzt ist sie am 19. Juni fast 80-jährig nach einer Krankheit gestorben. Ich hatte sie 2015 bei einem Interview kennengelernt, als ich gerade selbst raus in die Uckermark gezogen war, nach Ringenwalde, um die Ecke von dem Dorf, in dem sie nach ihrer Pensionierung als Kunstprofessorin in Weißensee lebte.
Das ist klein, trotz des "Groß" im Ortsnamen. Klein Fredenwalde ist gar nicht so viel kleiner. Für mich war damals alles noch neu, wie bei den Städtern aus Mitte und Kreuzberg in den Juli-Zeh-Romanen, die ich immer noch nicht lesen kann. Ich hatte keinen wirklichen Begriff davon, wie das Leben hier ist. Mahn aber gehörte bereits in diese karge, flache Landschaft, die da oben, etwas weiter nördlich, diese busenartigen Hügel ausprägt, auf denen windschiefe Kiefern wachsen, in der man kilometerweit über die Felder sehen kann.
Sie stand da, mit einem silbernen Mercedes-Jeep am Bahnhof in Wilmersdorf, wie ein Land-Profi, silberner, gerade geschnittener Bob, mit ihrem schönen, wachen Gesicht, in wetterfester Kleidung, raste los wie eine Henkerin. Das war in der Zeit, als sie von einer jüngeren Generation und Schlafmützen wie mir neu entdeckt wurde. Sie war eigentlich nie weg, ihre Arbeiten waren in den Jahrzehnten zuvor in wichtigen Institutionen, wie im New Yorker MoMA PS1 oder in der Skulpturen-Sammlung des renommierten Washingtoner Hischhorn Museums vertreten. Doch als ich sie traf, sah es so aus, als würde ihr Werk nochmal in einem neuen Kontext gesehen.
Protest gegen den laufenden Betrieb
Damals waren ihre Skulpturen gerade in der Pariser Galerie der renommierten Kunst- und Literaturzeitschrift "Cahiers d'Art" gezeigt worden. Sie hatte Anfang der 2000er wieder mit ihrer alten Galerie Max Hetzler zusammengefunden, der sie bereits 1975 vertreten hatte. 2017 widmeten ihr das Düsseldorfer K21 und der Kunstverein Braunschweig Ausstellungen, 2020 dann das Bauhaus in Dessau. Dieser Tag, die Begegnung mit Inge Mahn, war absolut prägend und wichtig für mich - weil sie nach über einem halben Jahrhundert im Kunstbetrieb als Künstlerin und Mensch vorbildlich war, in ihrer Eigenwilligkeit, Bescheidenheit, poetischen Genauigkeit.
Wie soll man ihr Werk beschreiben? Als die Düsseldorfer Kunstakademie 1969 aus Angst vor Jörg Immendorffs Aktionsprojekt Lidl-Akademie und den Studentenrevolten vom Ministerium zwangsgeschlossen wird, setzt die junge Beuys-Schülerin Inge Mahn als Antwort auf die Polizeigewalt zwei Wachhäuschen aus Gips vor den Eingang. Dann baut sie einen Beichtstuhl auf Rädern: für "das verlogene Pack" an der Akademie. Als ihr im selben Jahr in der Beuys-Klasse zu viel diskutiert wird, zieht sie raus auf den Flur und baut sich in einer Ecke ein Gips-Haus, in dem sie alles, auch die Möbel aus Stahl, Holz und Gips modelliert. Mahns Gehäuse ist Werkstatt, soziale Skulptur, Protest gegen den laufenden Betrieb. Ähnlich wie die Bauhütten, die die Handwerker im Mittelalter an den Baustellen der Domen errichteten, klebt ihr Häuschen an der patriarchalen Institution der Akademie, deren Strukturen eigentlich umgebaut werden müssten, was aber natürlich nicht passiert.
Der Gips, das Weiß werden in ihrem Werk bleiben. Mahns Aufmerksamkeit richtet sich nicht auf die großen, sondern die marginalisierten, alltäglichen Dinge, komische, manchmal kitschige, geradezu volkstümliche Details. Auf dem Flur der Düsseldorfer Akademie stellt die angehende Kunsterzieherin 1970 ihre Examensarbeit, die "Schulklasse", aus, eine mehrteilige Gipsskulptur, die aus zehn etwas zu klein geratenen Schulbänken und einem Lehrerpult besteht, Mobiliar für das rigide System, das zwar von linken und anti-autoritären Revolten erschüttert wird, aber weiter an der schwarzen Pädagogik der Nazis, der soldatisch-nationalen Ideologie des Wilhelminischen Zeitalters festhält. Während die Professoren der Akademie darüber diskutieren, ob das überhaupt Kunst sei, wird eben diese Arbeit zwei Jahre später auf Harald Szeemanns legendärer Documenta 5 gezeigt. Da ist Mahn gerade mal 29 Jahre alt.
Zwischen Utopie und dem Nichts
Ähnlich doppelbödig und rigide ist auch ein Werk von 1973, aus Gips nachmodellierte Parkbänke, dazu die passenden vier rechteckigen Gipspapierkörbe, die dieses zusammengeschobene Bank-Quadrat an den Ecken hermetisch abriegeln. Das schnöde, funktionale Stadtmobiliar ist eine Aufforderung sich zu entspannen, zu kommunizieren. Doch in Mahns sperrige Konstruktion kann sich niemand setzten, alle müssen oder wollen draußen bleiben. Die vermeintlich einfache Installation macht komplexe, widersprüchliche Zustände erfahrbar: subtile Klassen- und Kulturunterschiede, die bereits in den 1970er-Jahren formulierte Hoffnung auf eine gerechtere, sozialere Gesellschaft, deren Scheitern aber schon angesichts der bürokratisch-funktionalen Gestaltung des öffentlichen Raumes programmiert ist. Wir brauchen mehr Utopie, mehr Imagination, mehr Mut, scheinen Mahns Werke zu sagen.
Doch da ist auch diese andere, hermetische Seite ihrer Kunst. Das geschlossene, archaische Weiß der Wachtürme, Hundehütten, Mahnmäler, die gewendelten Treppen, die ins Nichts führen, die mickrigen Berggipfel mit Fahnen drauf, die sinnlosen Eroberungen. Jetzt, wo Inge Mahn tot ist, es nicht mehr hört, sich nicht missverstanden fühlen muss, kann ich es ja sagen: Trotz ihrer semiotischen Verspieltheit, ihrer Anarchie, dem Pragmatismus, des absurden Witzes sind Mahns Arbeiten voller Schrecken für mich. Minimal und deutsch wie sie sind, erzählen sie von einer Gesellschaft, in der alles zugekleistert, überdeckt wurde. Und gerade in ihrer zugekleisterten Weiße, wie weiße Schatten, schemenhafte, gleißende Erinnerungen, bergen sie den Schrecken des Krieges, des Holocausts in sich, das Schweigen der Väter.
Mahns Werke sind "schwierig", auf eine notwendige Weise. Auch daran kann es liegen, dass ihre Skulpturen in der Öffentlichkeit noch immer zu wenig bekannt sind. Mahn war zwar eine Künstlerin für Künstlerinnen und Künstler, fast eine Legende, aber wurde nie wirklich berühmt. "Das weiß man schon früh, ob man in das System passt oder nicht", sagte sie damals. Trotz ihres frühen Ruhms passte sie nicht. Ebensowenig wie all die Gipshäuser, Nester, Türme, Säulen und Barrikaden, die sie in den letzten vier Jahrzehnten gebaut hat. Zu obskur und zu erzählerisch, um in den Kanon von Minimalismus und Konzeptkunst zu passen, zu reduziert und zu streng, um ein breites Publikum zu erwärmen.
"Ich hatte immer einen Plan B im Kopf", erzählte sie. "Wenn das mit der Kunst nicht klappt, werde ich Mutter im SOS-Kinderdorf." Doch es kam anders. Über 20 Jahre war sie Professorin, zunächst in Stuttgart und dann bis 2009 in Berlin-Weißensee, wo sie Bildhauerei unterrichtete. In Groß Fredenwalde hatte sie dann das Haus mit einem Atelier im Garten und eröffnete 2012 ihr Stallmuseum. Hier präsentierte sie nicht ihr eigenes Werk, sondern stellte Künstler wie Hans-Peter Feldmann oder den vergessenen Richter-Schüler Klaus Kehrwald aus.
Sie zeigte aber auch Ausstellungsstücke, die von den Familien im Ort stammten, persönliche Erinnerungsgegenstände, Haushaltsgeräte, Fundsachen. Gleich neben dem Museum gründete sie einen Tauschladen, in den die Leute aus der Gegend ihre alten Bücher, Kleidung und Spielzeug bringen und die Sachen von anderen mitnehmen konnten. Der Tauschladen hatte immer auf, 24 Stunden. Das klappte gut. Wer das jetzt wohl weiter führt? Ob sie auch in ihrem Dorf vermisst werden wird?
Der Tod ist omnipräsent
Ich habe Inge Mahn als unglaublich zugewandt, sozial, aufmerksam erlebt. Zugleich strahlte sie für mich etwas Unergründliches aus, eine fast mystische Einsamkeit, die ich auch in ihren Werken sehe. Damals führte sie mich raus aus dem Dorf, zu einer Scheune unter einem Busenhügel, in der sie ein privates Schaulager eingerichtet hatte. Hier waren sie, die gipsernen Hundehütten, der vier Meter hohe Glockenturm aus dem Frühwerk, gefallene Sterne mit Eisenketten. Sie stellte einen nadelnden, mit Elektromotor betriebenen Weihnachtsbaum mit silbernen Kugeln an, der sich wie ein Derwisch drehte. "Stuhlkreis" heißt eine Skulptur, die an eine Séance denken lässt. Auch sie ist elektrisch angetrieben. Kristalle, an ein Aluminiumrohr gehängt, schlugen Gläser an, die auf Gipsstühlen stehen, die wie eine Uhr angeordnet sind, tick, tock.
Ich denke, der Tod ist in Mahns Arbeiten omnipräsent. Ein Meister aus Deutschland. Er irrt wie ein Poltergeist durch Schulen, Fußgängerzonen, prangt als gipserne Jagdtrophäe über Stammtischen und Wohnzimmersesseln, steht preußisch stramm um das Festmahl herum. Und ganz undidaktisch bieten diese Werke keine Lösung, keine Erlösung, keine Antwort. Sie stehen einfach da, wie ungeklärte Fragen. Dafür liebe ich Inge Mahn, ihre schwierige, komische, hermetische Kunst. Ich liebe sie in diesen Zeiten, in denen gar nichts geklärt ist, in denen fast 20 Prozent der deutschen Bevölkerung morgen eine rechtsextreme Partei wählen würden, in denen die meisten irgendwie weitermachen wollen.
Inge Mahn wollte nicht einfach weitermachen. Sie hat ganz unprätentiös, anti-monumental, ohne Pathos immer wieder interveniert. An ihrem mutigen Werk, das sie zu einer der wichtigsten deutschen Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts macht, sollten wir uns ein Beispiel nehmen.