Somi Sim, Sie arbeiten zwischen sehr unterschiedlichen Metropolen. Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen Seoul und Paris? Und gibt es auch Gemeinsamkeiten?
Vom kulturellen Hintergrund her gibt es sowohl interessante Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Städten. In Paris überschneiden sich Tradition und Gegenwart. Die Kultur schichtet sich wie die Erdschichten auf. Seoul hingegen ist zwar in der Geschichte verwurzelt, aber dennoch eine Stadt, in der die gegenwärtige Kultur im Mittelpunkt des täglichen Lebens steht. Der gesellschaftliche Wunsch, ständig etwas Neues zu schaffen, ist signifikant. Um eine Metapher zu gebrauchen: Wenn Paris sich auf seine Wurzeln und seinen Stamm konzentriert, ist Seoul eine Stadt, die wie ein Baum mit jeder Jahreszeit prächtig blühen will. Eine Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden Städten liegt in ihrem großen Interesse an der Kultur. Von der zeitgenössischen Kunst, dem Design, dem Film, der Musik, der Mode, der urbanen Kultur bis hin zum Essen – beide Städte sind endlos fasziniert von Kultur.
Was bedeutet das in Bezug auf die Zeitlichkeit? Ist also etwas dran am Klischee, dass in Paris alles gleich bleibt und in Seoul alles ständig im Wandel ist?
Ich sehe "Zeitlichkeit" als ein Merkmal der heutigen Gesellschaft. Es gibt ein französisches Wort "Ephémère", das von Baudelaire stammt und in dem die Merkmale der modernen Gesellschaft symbolisch durch die Gegenwärtigkeit, das Verschwinden der Zeit, zum Ausdruck kommen. Paris mag aufgrund seiner gut erhaltenen Geschichte und Kultur als eine "unbewegliche" Stadt erscheinen, doch ein genauerer Blick auf seine Oberfläche offenbart ein vielfältiges Muster kontinuierlicher Veränderungen. Selbst während der Covid-Zeit konnte man anhand der veränderten Werbung auf den Straßen, am Graffiti an verschiedenen Ecken und der Veränderungen in der Mode beobachten, dass sich die Stadt ständig weiterentwickelt. Im Gegensatz dazu ist Seoul eine Stadt, die sich schnell verändert und entwickelt hat, aber sehr beständig ist. Etwa, wenn man an das traditionelle koreanische Essen denkt. Betrachtet man die kulinarische Kultur, die Sprache und die Bräuche, so zeigt sich ein deutlicher gesellschaftlicher Hang zum "Bleibenden" in Bezug auf den Lebensstil.
Sie arbeiten mit Künstlern zusammen, die mit Zeit arbeiten. Was für ein künstlerisches Material ist Zeit?
Die Art und Weise, wie wir in unserem Alltag Zeit messen und berechnen, ist vorgegeben. Aber die Herangehensweise von Künstlern an alternative Perspektiven öffnet das Reich der Zeit für die Bereiche der Wissenschaft und des Universums. Im Rahmen der Partnerschaft zwischen der Kunstmesse Frieze und Breguet wollte ich Künstler vorstellen, die verschiedene Möglichkeiten der Zeitwahrnehmung erkunden. Es war faszinierend, Künstler vorzustellen, die die Zeit auf der Grundlage des historischen und kulturellen Erbes von Breguet neu interpretieren. Dabei überwindet der Kontext, den die Künstler einbringen, Grenzen von Branchen und Kulturen, Vergangenheit und Gegenwart, Individuum und Gemeinschaft, von Menschlichem und Nicht-Menschlichem.
Das Ziffernblatt einer Uhr mit Zeigern (oder die Digitalanzeige seit den 1970er-Jahren) ist eine allgemein akzeptierte Art der Zeitmessung. Künstler hinterfragen solche Konzepte. Messen Künstler die Zeit anders?
Darauf bezieht sich die auf der Frieze London gezeigte Präsentation "Resisting Time“. Die Art und Weise, wie die heutige Gesellschaft die Zeit misst, ist eher fragmentiert und kurzlebig. Zeit wird in Sekunden, Zahlen und dem wirtschaftlichen Wert dieser Zahlen wahrgenommen und verstanden, ähnlich wie der unendliche Feed der sozialen Medien. Die Werke der beiden Künstler, der deutschen Künstlerin Hanne Darboven und des französischen Künstlers Julien Coignet, stellen die Normen und die Logik der Zeitmessung in Frage. Hanne Darbovens Arbeit weicht von Berechnungssystemen ab. Sie schafft ihr eigenes System zur Messung von Zeit und bricht mit den etablierten Konventionen, die mit Zahlen einhergehen. Die Gemälde von Julien Coignet hingegen beginnen mit täglichen Collagezeichnungen, bei denen er Flugblätter und Broschüren in der Stadt sammelt. Sein täglicher Prozess des Dekonstruierens und Wiederzusammensetzens von weggeworfenen Bildern und Wörtern offenbart den kreativen Ansatz des Künstlers, die Zeit mit seinen eigenen Handlungen und Erfahrungen zu messen.
Sie arbeiten mit der Uhrenmanufaktur Breguet zusammen, die in der Geschichte der Zeitmessung eine bedeutende Rolle spielt. Wie bringen Sie diese Geschichte in die Gegenwart?
Die Erfindung von Abraham-Louis Breguet hat mich dazu inspiriert, mich mit den mechanischen, wissenschaftlichen, künstlerischen und handwerklichen Beiträgen zur Zeitmessung zu befassen, die die menschliche Instabilität überwinden. In diesem Zusammenhang faszinieren mich besonders die Erfindungen des Tourbillons und des Chronometers. Das Tourbillon war eine hochentwickelte Erfindung, mit der die Auswirkung der Schwerkraft auf mechanische Uhren eingeschränkt werden konnte, was letztlich zu einer genaueren Zeitmessung in der Geschichte der Menschheit führte. Außerdem entwarf er ein Marinechronometer für die Navigation auf See, er war Uhrmacher der Royal Navy und Mitglied des Bureau des Longitudes. Seine avantgardistischen Kreationen prägten die Uhrmacherei. So wie Breguet sich die Ängste der Menschheit vorgenommen und sie mit seinen Entwicklungen überwunden hat, ist es ein unglaublich spannendes Unterfangen, zu erforschen, wie wir die Herausforderungen unserer Zeit durch Kunst durchleben und überwinden können.
Was fasziniert Sie an einer Marke mit einer Geschichte wie der von Breguet?
Bei meinem Besuch in der Schweizer Manufaktur von Breguet im Frühjahr 2023 haben mich die Handwerker und Uhrmacher sehr beeindruckt. Ich hatte die Gelegenheit, bei Techniken wie der Guillochierung dabei zu sein. Bei der manuellen Ausführung dieser äußerst filigranen Kunstfertigkeit musste ich meinen ganzen Körper, von den Adern bis zu den Gehirnzellen, konzentrieren. Als ich die Hingabe beobachtete, mit der Handwerker und Uhrmacher Körper und Geist in Einklang brachten, geriet ich selbst in einen Zustand, in dem ich kreativ die Zeit maß. Ich dachte an Künstler, die mit der mikroskopischen Welt bis hin zum Kosmos in Verbindung stehen. Die künstlerische Praxis steht im Einklang mit Breguets Erfindung komplizierter, aber höchst kreativer Zeitmesser.
Wie interagieren die beiden Sphären – die Uhrmacherei und die zeitgenössische bildende Kunst – miteinander?
Die reiche Geschichte und der gesellschaftliche, industrielle und kulturelle Kontext der Breguet-Uhrmacherei waren für mich eine tiefgreifende Quelle des Lernens. In der Kunst hat sich das Konzept der Zeit seit den 1960er-Jahren zu einem wichtigen Thema entwickelt, insbesondere im Bewegtbild, in der Postmoderne und der Urbanisierung. In der heutigen Gesellschaft wird die Zeit als ein fließenderes und unbestimmteres Konzept wahrgenommen als in der Vergangenheit. Betrachtet man die Entwicklung der Uhrmacherei in diesem Kontext, so wird deutlich, dass die Technologie der genauen Zeitmessung für die Bewältigung unserer unberechenbaren Umwelt und unserer Zeit grundlegend war. Breguet hat immer gestalterischen Mut und Sensibilität bewiesen, um die Kluft zwischen Kunst und Technologie zu überbrücken, und schafft damit Raum für Mehrdeutigkeit und Dialog mit dem Unbekannten.
Ihre aktuellen kuratorischen Ideen waren auf der Frieze in London zu sehen und werden im Februar in Los Angeles gezeigt. Können Sie schon verraten, was wir dort sehen werden?
Die Partnerschaft zwischen Frieze und Breguet umfasst vier Ausstellungen, jede mit zyklischem Verlauf. Die Frieze Los Angeles ist die letzte Station und markiert sowohl den Abschluss unserer Partnerschaft als auch einen Neuanfang. Ich werde das kuratorische Thema "Inhabiting Time" präsentieren, das sich auf die organische und zyklische Natur der Zeit sowie auf die räumlichen Aspekte einer nachhaltigen Zeit konzentriert. In der Ausstellung werden die Arbeiten eines Architekten und eines Künstlers zu sehen sein, die eine räumliche Erfahrung und aktive Auseinandersetzung mit Zeit bieten. Ich hoffe, dass "Inhabiting Time" auf der Frieze Los Angeles die oft gegensätzlichen Beziehungen von Zeit und Raum, Mensch und Objekt sowie visueller und physischer Erfahrung architektonisch vermitteln wird. Auf diese Weise hoffe ich, ein Netzwerk zu schaffen, das dem Publikum ermöglicht, den Lauf der Zeit organisch zu erleben und mit ihm zu interagieren.