"Ich mag keine Verlogenheit", sagt Joan Mitchell im einzigen längeren Videointerview, das es von ihr gibt, und wählt dafür einen Ausdruck aus ihrer Jugend: "phony", das ultimative Negativ-Attribut aus J. D. Salingers Roman "Der Fänger im Roggen". "Ich möchte kein verlogenes Bild malen. Man malt kein Schwarz, wenn man sich nicht nach Schwarz fühlt, und damit meine ich die Farbe und nichts Depressives. Ich könnte Ihnen leicht einen 'phony Mitchell' malen, ein bisschen Farbe hier und da, natürlich gar kein Problem. Aber ich kann Verlogenheit nicht ausstehen." Für einen kurzen Augenblick lacht die Malerin unter ihren dicken dunklen Brillengläsern und pinselt pantomimisch etwas Hübsches in die Luft.
Keine Frage, das Interview, dem das Kölner Museum Ludwig einen eigenen Raum eingerichtet hat, steuert für Mitchell ebenfalls gerade in die "phonyness". Den Fragenkatalog der Interviewerin Kate Horsfield für ihr heute unschätzbares Oral-History-Projekt quittiert sie gerne mit einem "Ist das Ihr Ernst?" oder: "Wollten Sie da etwa auf etwas Feministisches heraus? Ich sah mich nie in Konkurrenz zu Männern."
Mit der zuvor in Bregenz gezeigten Joan-Mitchell-Retrospektive schließt das Museum eine Bildungslücke. Leider nur vorübergehend. Yilmaz Dziewior, seit 2015 Direktor in Köln, macht sich keine Hoffnungen, den Millionenbetrag für eine Erwerbung aufzutreiben. Außerhalb von Mitchells US-amerikanischer Heimat und ihrem langjährigen Wohnort Paris fehlen ihre Bilder in den Museen.
Rückblickend ist das kein Wunder. Zwar war die 1925 geborene Künstlerin lange vor ihrem Tod 1992 hoch angesehen. Doch dem Schubladen-Kanon der Moderne verweigern sich die großformatigen Gemälde in jeder Hinsicht. Für den abstrakten Expressionismus sind sie weder abstrakt noch expressiv genug: Offen bekannte sich Mitchell zu Inspirationen aus der Natur und zu einer Innerlichkeit als Gestaltungsimpuls, der im krassen Gegensatz stand zum Begriff des Action Painting. Dem einflussreichen Malerei-Lehrer Hans Hofmann kehrte sie durchaus respektvoll den Rücken. "Ein wunderbarer Mensch. Ich verstand kein Wort von dem, was er sagte." Ihre Farbpalette bricht mit den ungeschriebenen Dogmen einer noch immer gültigen Moderne, wenn sie in einigen ihrer großen Meisterwerke – wie dem Plakatmotiv "Untitled", 1961 – Türkis und Lila gegeneinandersetzt. Es gibt nichts Formalistisches in ihrer Malerei, vergeblich sucht man nach dem Gesetz der Serie, wie es nicht erst die Pop-Art festschrieb.
Jedes Bild ist anders, vergeblich sucht man nach dem "phony Mitchell". Man kann die Künstlerin kaum schöner erleben als in den Kölner Räumen. Der sogenannte Heldensaal wirkt wie gebaut für vier voluminöse Quadriptychen der frühen 80er-Jahre. Jedes Museum, das Matisse und Twombly in seiner Sammlung hat, bemerkt spätestens angesichts dieser Bilder den gewaltigen Platz dazwischen. Er gehört Joan Mitchell.