Erinnerungen an Documenta-Ikone Human

Hundstage

Auf der Documenta 13 wurde die Hündin Human mit ihrem pinken Bein zum Lieblingstier der Kunstwelt. 2021 ist sie gestorben. Ihr Betreuer Marlon Middeke und der damalige Welpe Señor leben jedoch noch immer in Kassel. Ein Treffen zehn Jahre später

Marlon Middeke war bis zum Schluss bei ihr. Der 33-jährige Kasseler kramt sein Handy aus dem Rucksack und sucht ein Foto aus dem November 2021. Unter einer hellgrauen Decke schaut ein weißer Kopf mit spitzer Nase und großen Ohren hervor. Es ist eines der letzten Bilder der Podenco-Hündin Human, die vor zehn Jahren zum Wappentier und meistfotografierten Motiv der Documenta 13 wurde. Kurz nachdem das Bild aufgenommen wurde, musste sie nach längerer Krankheit im Alter von geschätzten 13 Jahren eingeschläfert werden. Nun ist sie an einem Ort begraben, den sie laut ihrer Menschenfamilie "sehr mochte".

Als sich Marlon Middeke Anfang 2012 als Betreuer für ein Werk des französischen Künstlers Pierre Huyghe bewarb, ahnte er noch nicht, wie sehr dieser ziemlich besondere Sommerjob sein nächstes Lebensjahrzehnt bestimmen würde. Der gebürtige Nordhesse kam gerade von einer Weltreise zurück und musste sich neu sortieren, wie er erzählt. Über die Arbeit wusste er nur, dass sie mit Gärtnern und Hunden zu tun haben sollte, ihn reizte vor allem der Documenta-Kontext. "Ich wollte diesen Job unbedingt und bin ziemlich selbstbewusst in das Auswahlverfahren gegangen", erzählt Middeke. "Was das genau bedeuten würde, habe ich erst später gemerkt."

Für ihre Documenta 13 hatte sich die künstlerische Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev vorgenommen, nicht-menschliche Existenzen in den künstlerischen Fokus zu rücken. Eine Idee, die vor zehn Jahren keineswegs so konsensfähig war wie heute. Eines der zentralen Werke war das Areal "Untilled" von Pierre Huyghe in der Karlsaue, auf dem verschiedene Formen von Leben koexistierten. Auf dem Gelände eines städtischen Komposthaufens wucherten verschiedene Pflanzen, ein Bienenstock summte auf einer steinernen weiblichen Aktfigur, und zeitweilig wohnte dort auch eine Schildkröte. Unangefochtene Stars der Weltkunstschau wurden jedoch die beiden spanischen Podenco-Hunde, die das Revier durchstreiften: die weiße, erhabene Human, der regelmäßig ein pinkes Vorderbein gefärbt wurde, und der hellbraune Welpe Señor, der in seiner jugendlichen Tapsigkeit den Entzückungsfaktor des Kunstwerks erhöhte.

Doppelrolle zwischen Utopie und Realität

Nachdem Marlon Middeke sich tatsächlich gegen alle anderen Bewerber durchgesetzt hatte, war seine Aufgabe die eines "Caretakers". Er sollte einerseits die Rolle eines fiktionalen Gärtners in Huyghes Utopie spielen, hatte aber auch den ganz realen Auftrag, sich um Pflanzen und Tiere zu kümmern. Jeden Tag wurde ein Baum angeritzt, damit er Harztränen weinte, und auch die beiden Vierbeiner brauchten viel Aufmerksamkeit – die eben nicht einfach mit der Schließung der Ausstellung um 20 Uhr endete. So kam der in Haustierfragen eher mäßig erfahrene Middeke plötzlich jeden Abend mit zwei Jagdhunden in seine WG zurück. "Es hat auch mein soziales Umfeld total beeinflusst", erzählt er. "Auf einmal war ich der Typ, der immer die Hunde mitdenken musste." 

Bis auf wenige Tage, an denen er durch seinen Mitbewohner vertreten wurde, verbrachte der Kunst-Hüter den ganzen Sommer zwischen verwunschener Vegetation und Besuchermassen auf dem Huyghe-Areal. Dabei machte ihm bei aller Idylle vor allem ein Rollenkonflikt zu schaffen: Nach den Vorstellungen des Künstlers sollte er ein schweigsames Mysterium sein. Das von so viel Flora und Fauna oft verwirrte Publikum sprach ihn natürlich trotzdem an. Und wurde teilweise ausfällig, wenn Middeke bei seiner wortkargen Vorgabe blieb. "Es hat gedauert, bis ich da einen Umgang für mich gefunden habe", erzählt er. "Einerseits gab es meinen Platz in einem Kunstwerk, andererseits mich als private Person. Die Grenzen waren fließend, und für die Besucher war ich eine Projektionsfläche für alles mögliche."

Auch die körperliche Verfassung von Human und Señor sorgte im Sommer 2012 für Diskussionen. Vielen Documenta-Gästen fielen die sichtbaren Rippen der Hündin auf; die Schlussfolgerung "Die sind viel zu dünn" zog sich durch die kompletten 100 Ausstellungstage. Es folgte sogar eine Anzeige wegen Tierquälerei. Das Veterinäramt stellte jedoch fest, dass der schmale Körperbau der "Exponate" ihrer Windhund-ähnlichen Rasse geschuldet war. Auch Marlon Middeke bestätigt einen gesunden Appetit bei seinen Schützlingen.

Die Königin ihres Reiches

Man kann natürlich darüber diskutieren, ob es generell eine gute Idee ist, Tiere als Kunst zu präsentieren. In der jüngeren Vergangenheit ist die Toleranz der Öffentlichkeit für Lebewesen im Ausstellungskontext offenbar gesunken. Zuletzt wurde das Kunstmuseum Wolfsburg vom Veterinäramt verwarnt, weil es eine Arbeit von Damien Hirst zeigen wollte, in der Fliegen zuerst schlüpfen und dann im ungünstigsten Fall in einer elektrischen Falle verenden. Doch auch, wenn die Kreaturen während eines Projekts unversehrt bleiben, gibt es immer wieder Proteste. Es ist auch das Paradox der Installation von Pierre Huyghe: Er schafft einen Raum, in dem nicht-menschliches Leben gewürdigt wird, spannt dieses aber in seine eigenen Konzepte und Bedingungen ein. Andererseits: Ist der Hund nicht sowieso das vermenschlichste Tier von allen? So tritt beispielsweise die Philosophin Donna Haraway dafür ein, in der Beziehung zwischen Haustieren und Menschen eine Ethik des Andersseins zu erlernen.

Marlon Middeke sieht das Documenta-Werk heute differenziert: "Dort bot sich eine besondere Möglichkeit, in Beziehung mit einem lebendigen Kunstwerk zu treten", sagt er. "Oft ähnelte das Betrachten aber eher einer Ikonisierung zum Kunst-Objekt als dem Aufbau von Verständnis für ein lebendiges anderes Wesen mit individuellen Bedürfnissen. Der Hund weiß nicht, was Kunst ist und was nicht, aber die Form der Begegnung mit dem Menschen versteht er."

Middeke ist überzeugt, dass sich die beiden Podencos auf ihrem Gelände in der Karlsaue wohlgefühlt haben. "Man muss sich vorstellen, dass Human ein Straßenhund mit traumatischen Erfahrungen und eigentlich sehr schüchtern war", sagt er. "Wir mussten sie erstmal richtig aufpäppeln und eine Beziehung aufbauen. Auf dem Documenta-Areal war sie aber irgendwann sehr selbstbewusst. Ihr war klar, dass es ihr Zuhause ist. Je nachdem, wie die Besucher sich verhalten haben, wurden sie als Gäste empfangen oder als Eindringlinge angebellt."
 

Kunstruhm und Realitätscheck

Nach dem Ende der Documenta 13 blieben Human und der gar nicht mehr so kleine Señor bei ihrem "Caretaker", der sie ins normale Hundeleben zurückführte. Eine Aufgabe, die Middeke ohne die Unterstützung seiner Familie nicht hätte bewältigen können. Noch heute wohnt der inzwischen zehnjährige und kniehohe Señor in Fuldabrück bei Kassel und verlangt seine täglichen drei Spaziergänge.

Ganz normal wurde das Hundeleben dann aber doch nicht. Denn nach dem großen Erfolg von Huyghes Kunstwerk auf der D13 ging "Untilled" in den Folgejahren auf Tour – zuerst ins Pariser Centre Pompidou, dann ins Museum Ludwig nach Köln und ins Lacma Los Angeles. Also wieder Hundebein einfärben und einen neuen Raum besetzen. In den geschlossenen Kunsthallen schien sich Human weniger wohl zu fühlen als an der Kasseler Frischluft – und Marlon Middeke hatte entsprechend viel care work zu leisten. Wenn sie nicht allein sein wollte, öffnete die Hündin schonmal Haustüren.

Für Middeke folgte nach dem temporären Kunst-Ruhm oft ein Realitätscheck in der Heimat – und die Frage, was mit dem erworbenen Tier- und Pflanzenwissen eigentlich anzufangen sein könnte. Inzwischen studiert er bildende Kunst in Kassel und hat sich vom Zeichnen und Fotografieren in Richtung Performance gearbeitet. Auch der Umgang mit der eigenen Umgebung spielt eine Rolle: Auf dem Kasseler Friedrichsplatz mähten er und seine Mitstreiterinnen 2021 das Gras öffentlichkeitswirksam mit der Sense, um auf die Relevanz von naturnahen Grünflächen in der Stadt hinzuweisen.

Senor
Foto: Courtesy Marlon Middeke

Podenco-Hund Señor im nordhessischen Wald bei Kassel

 

Auch an der Documenta 15 ist Middeke beteiligt, wenn auch nicht ganz so prominent wie 2012: Vor dem Start der Weltkunstschau nahm er an einem Seminar der Ruangrupa-Mitglieder Reza Afisina und Iswanto Hartono teil. Daraus entstand ein loses Kollektiv aus Künstlerinnen und Künstlern, das vor kurzem zum ersten Mal im Ruru-Haus, dem Multifunktionszentrum der aktuellen Documenta, performte. Außerdem war Marlon Middeke Model bei einer Modenschau der Füchtlingsaktivisten von Trampoline House aus Kopenhagen.

Der Komposthaufen in der Aue, der nach der D13 komplett umgegraben und "entkunstet" wurde, ist in diesem Sommer ebenfalls wieder ein Documenta-Standort. Dort gibt es zwar diesmal keine Hunde, aber auch das Kollektiv La Intermundial Holobiente beschäftigt sich mit Naturutopien und mit einer Weltsicht, bei der nicht der Mensch im Zentrum stehen soll. Marlon Middeke hat dort schon öfter vorbeigeschaut und sich mit der Künstlerin Claudia Fontes ausgetauscht. Dass der Ort, der ihn in vielerlei Hinsicht geprägt hat, nun mit neuer Kunst "überschrieben" wird, interessiert ihn. "Ich freue mich sehr darüber, weil ich die Arbeit von Intermundial Holombiente wirklich schätze", sagt er. "Nicht der alleinige Botschafter des dort erfahrbaren Wissens zu sein, hilft auch, ein Stück weit loszulassen."

Über der aufgeschütteten Erde hängt in diesem Sommer ein hauchzartes Banner mit Baummotiv, das auf romantische Weise mit der Umgebung verschmilzt. Außerdem soll in einem Container bis zum Ende der Ausstellung ein Buch entstehen, das "nicht von menschlichen Autoren verfasst" wurde. Ein ganz eigenes Documenta-Universum der unterschiedlichsten Geschöpfe – und trotzdem erwischt man sich beim flüchtigen Gedanken, ob Human vielleicht doch noch um die Ecke kommt.