Hollywoods Starruhm wäre nichts ohne die Fotografie. Schon während der Stummfilmzeit überflutete die amerikanische Filmindustrie ihr Publikum mit schillernden Bildnissen, die schon durch die Künstlichkeit und Eleganz von Komposition, Lichtsetzung oder Retusche "größer als das Leben" wirkten - und für die sich schließlich, um 1930, ein Begriff etablierte, der noch heute für den Glanz des Kinos steht: Glamour
Die feministische Filmtheorie spricht vom "male gaze“, wenn vom fetischisierenden Blick auf weibliche Filmstars die Rede ist. Nahezu in Vergessenheit geriet dagegen die Zeit, als die Macht und Deutungshoheit männlicher Fotografen im Porträtatelier des größten Hollywoodstudios zu Ende war. Ruth Harriet Louise (1903 -1940) war die erste Person, die vom mächtigen Filmstudio "Metro-Goldwyn-Mayer" als Porträtfotografin angestellt wurde. Von 1925 bis 1930 leitete sie die "Portrait Gallery", das hauseigene Porträtstudio. Nach fast einem Jahrhundert ist es Zeit für die Wiederentdeckung einer wegweisenden Fotografin, die hunderttausende Negative belichtete und die Geschichte der Starfotografie nachhaltig prägte.
Geboren am 13. Januar 1903 als Ruth Harriet Goldstein im New Yorker Stadtteil Harlem, war sie die Tochter einer Wienerin und einem aus London stammenden Rabbiner, der ab 1915 in der Kleinstadt New Brunswick im Bundestaat New Jersey eine progressive Synagoge leitete. Kulturelle Aktivitäten standen in der Gemeinde hoch im Kurs. Ihr Bruder Mark, mit dem sie als Schülerin gemeinsam Stücke aufführte, wurde unter dem Künstlernamen Mark Sandrich später als Regisseur stilbildender Musicals berühmt, gemeinsam mit Größen wie Fred Astaire und Ginger Rogers.
"So wandte sich dem Zweitbesten zu – der Fotografie."
Als Teenager hatte Ruth Harriet ihr Interesse an der Porträtfotografie entdeckt, nachdem sie vom New Yorker Star-Fotografen Nickolas Muray abgelichtet worden war. Bis zu ihrem 16. Lebensjahr hatte sie Malerin werden wollen, zweifelte aber schließlich an der nötigen Begabung. So jedenfalls liest es sich in einem Artikel vom September 1928, aus der seinerzeit populären amerikanischen Filmzeitschrift "Screenland": "Es ist ungewöhnlich für ein Mädchen in diesem Alter, die eigenen Beschränkungen zu erkennen. Sie hatte das künstlerische Empfinden. Sie verstand etwas von Komposition und Linie, aber es mangelte ihr an der Fähigkeit, ihre Ideen auszudrücken. So wandte sie sich dem Zweitbesten zu – der Fotografie."
Nach einer Lehrzeit bei Muray machte sie sich im Herbst 1922 mit einem Studio in New Brunswick selbstständig; im Folgejahr änderte sie ihren Namen in Ruth Harriet Louise. Weitere Angestellte gab es nicht, aber ihren (für ein provinzielles Fotoatelier) hohen Anspruch bezeugt ein eigener Artikel in einer Lokalzeitung: "Gute Fotografien besitzen, wie gute Bücher oder eine gut klingende alte Violine, eine Seele."
Nach zweieinhalb Jahren beendete Louise die wenig befriedigende Unternehmung und folgte ihrem Bruder im März 1925 nach Hollywood, der dort in wenigen Jahren vom Requisiteur zum Regisseur aufgestiegen war. Auch dort eröffnete sie sogleich ein kleines Fotostudio. Dass auch diese Unternehmung nach einem halben Jahr wieder schloss, war dagegen eine gute Nachricht: Gerade 22 Jahre alt wurde sie von Studiochef Lewis B. Mayer entdeckt, nachdem er eine Fotoserie gesehen hatte, die sie von ihrer Cousine, der Schauspielerin Carmel Myers, aufgenommen hatte. Auch Myers hatte es in Hollywood – meist besetzt als verführerischer Vamp - zu beachtlichem Erfolg gebracht und spielte gerade in einer der aufwändigsten MGM-Produktionen der Stummfilmzeit: "Ben Hur".
Alle Stars kamen unters Dach
Unvermittelt genoss Louise als erste festangestellte Porträtistin beim Branchenprimus ideale Arbeitsbedingen. Ihr Atelier wurde in der Dachetage eines der höchsten Studiogebäudes eingerichtet. Zwischen 1925 und 1930 porträtierte sie sämtliche großen Stars, die dort unter Vertrag waren. Darunter Joan Crawford, Norma Shearer, Marion Davies, John Gilbert, Lon Chaney, Buster Keaton, Robert Montgomery und natürlich die weltweit bewunderte Schönheit, die Schwedin Greta Garbo, deren Erscheinungsbild sie maßgeblich prägte. Auch die wichtigsten Regisseure des Studios setzte Louise für Pressefotos in Szene, darunter den auf Monumentalfilme spezialisierten Cecil B. DeMille und Fred Niblo, verantwortlich für die 4-Millionen-Dollar-Produktion "Ben Hur".
Deutlich beeinflusst von der New Yorker Broadway-Fotografie und ihrem Lehrer Nickolas Muray bilden Ganzkörperstudien einen Großteil ihres Werkes. Behutsam tastet sie sich vor zur Großaufnahme. Die großformatigen 8 x 10 Zoll-Negative (25 x 30 Zentimeter) erlaubten ihr beliebige Ausschnittvergrößerungen im Labor. So entstand eine faszinierende Gleichzeitigkeit von Distanz und Nähe, Natürlichkeit und Stilisierung, die das Werk von Ruth Harriet von denen vieler anderer Hollywoodfotografen unterscheidet. John Kobal, der Sammler und Hollywoods-Fotografie-Historiker, fand in den vielen tausend Negativen seiner Sammlung keine Großaufnahme, die Louise belichtet hatte.
In der Tat scheint sie die nur schwer bewegliche Kamera nie näher als in Brustbild-Distanz eingesetzt zu haben. Erst im Labor legte sie die Ausschnitte ihrer oft erstaunlich intimen Porträtstudien fest – darunter die heute noch oft reproduzierten Studien von Greta Garbos Gesicht. Neben einem Assistenten war ein Retuscheur in ihrem Studio beschäftigt: Andrew Korf, der meist direkt auf den Negativen arbeitete. Man kann sich gut vorstellen, dass ihr ihre privilegierten Arbeitsbedingungen die Eifersucht ihres männlichen Kollegen Clarence Sinclair Bull, des Leiters der Standfotoabteilung, eintrug. "Sie war jedenfalls die bessere Fotografin", bemerkte später ihr zeitweiliger Assistent, der Fotograf Al St. Hilaire.
Eine besondere Spielfreude
Louise arbeitete in ihrem Studio wie eine Filmregisseurin. Die Schauspielerin Lillian Gish verglich sie mit dem Filmemacher, der sie selbst – und dem amerikanischen Kino – mehr als ein Jahrzehnt zuvor neue künstlerische Perspektiven eröffnet hatte: "Ihre Fotografien waren großartig. Ich nahm Regieanweisungen von ihr an, wie ich es von D. W. Griffith getan hätte."
Umso mehr müssen die vielen jungen Talente von der Zusammenarbeit mit einer gleichaltrigen Frau in dieser wichtigen Position beeindruckt gewesen sein. An der umfangreichen Zusammenarbeit mit der heute kaum noch bekannten Marceline Day – Buster Keatons Filmpartnerin in "The Cameraman" (1928) - lässt sich eine besondere Spielfreude ablesen. Unabhängig von konkreten Filmstoffen posierte sie in freien Inszenierungen – wie etwa in der Studie, bei der sie mit den Fingern das Schattenbild eines Hündchens formt.
Die Autorität, mit der sich die junge Fotografin in der Männerdomäne des Filmstudios behauptete, wurde in zeitgenössischen Artikeln besonders hervorgehoben. "She Bosses the Stars" ist Katherine Alberts Porträtartikel in "Screenland" überschrieben, der mit den Zeilen beginnt: "Wenn Sie sie über das Lot spazieren gehen sähen, würden Sie denken, sie sei ein Star auf dem Weg von einem Set zum anderen. Sie ist so hübsch wie ein Star aber statt einer zu sein, kommandiert sie diese." Eine andere Filmjournalistin titelte: "Directing Directors: Ruth Harriet Louise, Only Woman Photographer in Hollywood. Doesn’t Mind 'Bossing' Megaphone Men Now".
Das Bild der männlichen Traumfabrik gerät ins Wanken
Taucht man in die alten Filmzeitschriften ein, gerät das Bild einer ausschließlich männlich dominierten Traumfabrik ins Wanken. Es waren weibliche Journalistinnen, die für eine mehrheitlich weibliche Leserschaft aus der Filmmetropole berichteten. Louise erscheint in diesen Texten als eine selbstbestimmt arbeitende Künstlerin.
Um die bei den meisten Stars unbeliebten Fototermine zwischen Dreharbeiten attraktiver zu machen, hatte sie in einer Ecke des dreiräumigen Ateliers ein Grammophon aufgebaut, in einer anderen servierte sie Tee. Requisiten und Geschenke füllten einen gemütlichen Salon. Eine reiche Plattensammlung erlaubte ihr, nicht nur den Geschmack ihrer Gäste zu treffen, sondern, entscheidender, den erwünschten Stimmungsgehalt eines Porträts zu stimulieren.
Diese Methode entsprach dem permanenten Musikeinsatz, den ihre Modelle von Filmaufnahmen in der Stummfilmzeit gewohnt waren. Durch geschickte Musikauswahl gelang es Louise aber auch ihre oft nach langen Dreharbeiten erschöpften Studiogäste wenn nötig aufzubauen. "Gute Ergebnisse bei Fotos werden oft auf merkwürdige Weise errungen", wird Louise zitiert, "Ich erinnere mich an eine der besten Sitzungen, die ich je mit Joan Crawford hatte – und von der ich dachte, sie würde schrecklich. Ich musste etwas mit spanischen Kostümen machen. Es sollte lebendig und spritzig sein, und Joan hatte den ganzen Tag fürchterlich hart auf dem Set gearbeitet … Aber sie hat das Kostüm trotzdem angezogen, und ich spielte die wildeste spanische Musik, die ich hatte und redete sehr schnell auf sie ein über Spritzigkeit und Lebendigkeit und bat sie dann vor die Kamera… Wunderbar! Du bist genau wie eine spanische Señorita. Das ist es, zeig deine Zähne, Wunderbar! Die ganze Zeit lief die wilde Musik und nach ein paar Minuten war Joan in genau der richtigen Stimmung, und ich finde, die Ergebnisse sind die besten, die ich je mit ihr hatte."
Ihr Werk geriet in Vergessenheit
Zu Beginn der 1920er-Jahre bildeten sich in der Starfotografie bis heute gültige Muster heraus, die Louise bei MGM entscheidend professionalisierte. Das klassische Studiosystem, das bis etwa 1960 in Hollywood existierte, war ein Starkino, ihr Erfolg bestimmte den Umsatz. Auch bei ihren Experimenten stand die Herausarbeitung des individuellen Ausdruck im Vordergrund – etwa bei einer Serie von Porträts, bei denen Gesichter mit den Mitteln des schwarzen Theaters die Umrisse von Masken reduziert wurden.
Doch wie so oft in Hollywood obsiegte auch in der Starfotografie das Formelhafte über das Experiment. Zum Jahr 1930 wurde Louise‘ Vertrag mit MGM nicht mehr erneuert und mit George Hurrell ein Vertreter des gerade aufkommenden, artifizielleren Glamour-Stils eingestellt. Ihre letzte bekannte Session entstand 1933 im Auftrag des Produzenten Samuel Goldwyn und zeigt den russischen Star Anna Sten. Die feine Lichtzeichnung beweist Louise‘ Meisterschaft auch auf diesem Gebiet, doch längst war ihr Platz besetzt.
1927 heiratete sie den Filmregisseur Leigh Jason. Ihre Ehe war überschattet vom Verlust des ersten Sohns, der mit sechs Jahren an Leukämie starb. Sie selbst starb 1940 im Kindbett mit dem zweiten Sohn. Nach Louise erhielten über Jahrzehnte nur noch männliche Fotografen feste Anstellungen in Hollywood-Studios. Ihr Blick veränderte auch die Sicht auf die weiblichen Stars und beflügelte eine andere, eher fetischisierende Ästhetik. Louises oft spielerische Arbeit mit den Stars auf Augenhöhe geriet lange in Vergessenheit - gemeinsam mit der Unschuld des amerikanischen Stummfilms.
Daniel Kothenschulte ist Autor und Filmkritiker. Eine Auswahl von Vintage prints aus seiner Sammlung von Louise-Fotografien ist noch bis zum 6. Februar im Kunsthaus Göttingen zu sehen.