Die Kunstwelt befindet sich seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober in einem beispiellosen Selbstzerlegungsakt – dieser Satz ist in den vergangenen Wochen endlose Male wiederholt worden und fast täglich durch neue "Vorfälle" belegt worden, und doch weigere ich mich, ihn zu akzeptieren. Das liegt einerseits daran, dass "die Kunstwelt" eine ziemlich gewagte Verallgemeinerung darstellt und andererseits daran, dass man den "Konflikt", in dem sich diese "Kunstwelt" befindet, Außenstehenden kaum vermitteln kann. Und das nicht, weil er so komplex wäre, sondern eher, weil er so unterkomplex ausgetragen wird.
"Ist es wirklich so schwer beides zu verurteilen, die Hamas-Attacken und die unschuldigen Opfer in Gaza?" – so brach neulich ein "Kunstwelt"-fremder Freund meinen minutiösen Monolog über die Zerwürfnisse, Absagen und Entlassungen, den Artforum-Letter, die Antisemitismusvorwürfe und BDS-Resolutionen, den "Globalen Süden", das Documenta-Debakel, die progressive Linke und all die anderen Aufreger der vergangenen Monate runter. In Anbetracht der Hysterie der Debatte fünf Vorschläge zur allgemeinen Besinnung (zu Weihnachten und hoffentlich darüber hinaus).
1. Dankbarkeit. In Frieden und Wohlstand leben zu können, ist mit Blick auf viele Teile der Welt ein absolutes Privileg. Das Leid in Israel und Gaza ist unermesslich, die Besserwisserei und rhetorische "Aufrüstung" in Teilen der Kunstwelt anmaßend und zynisch. Ein Instagram-Post wird den Konflikt nicht lösen.
2. Abrüsten. Befinden wir uns wirklich in einem großen "Kulturkampf", stehen sich die "Fronten" wirklich so unversöhnlich gegenüber? In ihrem 2023 erschienen, auf einer groß angelegten Studie basierenden Buch "Triggerpunkte" kommen die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser zu einem anderen Ergebnis. Die endlos wiederholte These von der gesellschaftlichen Polarisierung stimmt nicht, vielmehr herrscht auch bei vermeintlichen Streitpunkten wie Migration oder Klimakrise weitgehender gesellschaftlicher Konsens. Sehr wohl aber würden, so Mau und seine Kollegen, durch Triggerworte Reizthemen gesetzt, und zwar vor allem von Politik und Medien, die dadurch politisches oder finanzielles Kapital schlagen wollen. Zu den sogenannten "Polarisierungsunternehmern" zählt in erster Linie auch Social Media, deren Geschäftsmodell auf dem Schüren von Emotionen beruht. Die Algorithmen der sogenannten Sozialen Medien sind auf gesellschaftliche Spaltung gepolt, blutgetränkte Fake News über den Nahost-Krieg werden höher gerankt als eine faktenbasierte Analyse der "New York Times" (und erst recht höher als ein Recherchestück zu den Verbindungen von Tech-CEOs und der Neuen Rechten). Vermutlich werden weder Israel noch die Palästinenser aus dem gegenwärtigen Konflikt als "Sieger" hervorgehen, aber Gewinner gibt es doch, sie heißen Elon Musk und Mark Zuckerberg, X und Instagram. Auch die aktuellen Auseinandersetzungen der Kunstwelt finden überwiegend auf Social Media statt, basierend auf Halbwahrheiten, getrieben vom Drang, sich zu einem "Lager" zu "bekennen". Denn das Toxische von Social Media besteht gerade darin, dass das ständige Einprasseln noch krasserer Bilder, noch radikalerer Meinungen dazu führt, dass die behauptete "Spaltung" irgendwann als Realität erscheint – und jeder und jede von uns entsprechend meint, sich auf eine "Seite" schlagen zu müssen. Es ist bitter, dass gerade auch Teile der Kunstwelt in diese Falle tappen – denn eigentlich sollte gerade sie ein Gegenbeispiel setzen und zeigen, dass Differenzierung möglich ist. Diesen Hut müssen wir uns aber auch selbst aufziehen: Die "etablierten" Medien müssen ein glaubhafter Garant und Forum für eine kritische Öffentlichkeit sein.
3. Einordnen. Seit dem 7. Oktober wurden Tagungen und Ausstellungen nicht nur von Seiten der Veranstaltern oder Museen gecancelt – auch Künstlerinnen und Künstler haben ihre Teilnahme an Ausstellungen abgesagt. Etwa, weil ein Museum sich angeblich zu israelfreundlich oder auch zu israelkritisch verhalten habe, in der Vergangenheit dieses oder jenes getan habe. Doch auch hier konnte man sehen, dass solcherlei Vorwürfe oft auf kaum mehr als einem über zehn Ecken weiter geleiteten Post beruhen – den jedoch die "richtigen" Leute gelikt haben. Die Angst, die digitale Peergroup zu verprellen, muss enorm sein, aber macht man den gefürchteten Online-Pranger nicht gerade so erst groß? Ist Institutionskritik nicht am besten in den Institutionen aufgehoben, sollte man nicht das Gespräch suchen, statt es abzubrechen? Und sind ein paar Herzchen auf Insta wirklich gewichtiger als eine Museumsausstellung? Check your priorities, liebe Künstler!
4. Institutionen stärken. Social Media vergiftet die Debattenkultur, gefährdet das Ausstellungswesen und befindet sich damit in bester Gesellschaft mit Populisten aller Couleur, die seit Jahren gegen "die Medien", gegen "die Institutionen" wettern. Gerade die Neue Rechte ist äußert geschickt darin, den Antisemitismusvorwurf als Trigger zu instrumentalisieren und so die anderen Parteien vor sich herzutreiben. Das berechtigte Bemühen, Antisemitismus zu bekämpfen, droht so in überzogenen Aktivismus umzuschlagen – wie es etwa der Entwurf für eine verschärfte BDS-Resolution der Ampelfraktionen zeigte, der aktuell nach viel Kritik überarbeitet wird und voraussichtlich im Januar zur Abstimmung im Bundestag kommt. Schon jetzt wird massiver politischer Druck auf Museen und Ausstellungshäusern ausgeübt, umso wichtiger ist es, das allgemeine Bewusstsein für die Bedeutung der Ausstellungshäuser und die Kunstfreiheit zu schärfen. Den Institutionen stehen schweren Zeiten bevor, doch gerade jetzt müssen sie Rückgrat beweisen, sich zusammenschließen und gegen Einflussnahme egal welcher Couleur zur Wehr setzen.
5. Perspektiven weiten. Die Künstlerin Hito Steyerl hat den Begriff der "Bubble Vision" geprägt, um die Entwicklung unserer digital vernetzten Gegenwart zu beschreiben: In ihr weicht die Zentralperspektive einer 360-Grad-Kugelperspektive; wir meinen, die ganze Welt im Blick zu haben, sitzen aber letztlich nur in unseren Filterblasen fest. Die sogenannte internationale Kunstwelt hat dieses Szenario in den vergangenen Monaten beispielhaft vorgeführt und als Kollateralschäden eine vergiftete Debattenkultur, Diffamierungen und beschädigte Institutionen hinterlassen. Derweil wurde der libertäre Populist Javier Milei zum neuen argentinischen Präsidenten, bereit sich Donald "nur-für-einen-Tag-Diktator" Trump auf seine Wiederwahl vor, will die AfD zur nächsten Bundestagswahl einen Kanzlerkandidaten stellen, sind die Polarisierungsunternehmer um weitere Fantastrillionen reicher geworden und wir alle noch ein bisschen neurotischer, narzisstischer und verängstigter. Höchste Zeit, zur Besinnung zu kommen.