Ist das noch glamourös oder schon trashig, noch sexy oder schon vulgär? Marilyn Minters Close-up eines Mundes – saftig hyperrealistisch gemalt wie mit Lipgloss – glänzt so verführerisch wie ein Anzeigenmotiv. Doch vor lauter Perfektion gerät das Motiv ins Straucheln, kriegt die Inszenierung Risse. Möglicherweise ist der Atem, der aus diesem Bild strömt, sehr kalt.
Das Werk der US-Künstlerin ist in seiner Widersprüchlichkeit wegweisend für die Gruppenausstellung „In aller Munde“ am Kunstmuseum Wolfsburg, eine Schau rund um den Mund. "Vermutlich ist kein Körperteil so komplex und ambivalent besetzt wie der Mund. Er verspricht schönste Gelüste, seien sie kulinarischer oder sexueller Art, oder aber auch Höllenschmerzen wie die Torturen bei einer Wurzelbehandlung", sagt Museumsdirektor Andreas Beitin. "Der Mund wird fetischisiert – denken wir an Sexpraktiken oder die diamantenbesetzten grills, die in der Hip-Hop-Szene als Zahnschmuck getragen werden. Er kann aber auch schnell eklig werden durch schlechten Atem oder faulige Zähne."
Dieses breite Spektrum abdecken wird die Wolfsburger Schau mit rund 150 Werken von Albrecht Dürer bis zu Louise Bourgeois, dazu Stücke aus ethnologischen und naturwissenschaftlichen Sammlungen, Film und Werbung, Musik und Literatur. Als Leihgabe vom Kunsthistorischen Museum Wien kommt das älteste Exponat, eine 2600 Jahre alte ägyptische Figur einer brustgebenden Göttin. Die Grundidee zur Ausstellung stammt von dem Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme und der Zahnärztin Beate Slominski, konzipiert wird sie im Kunstmuseum Wolfsburg von Uta Ruhkamp. Durch den Mund, so Böhme, findet eine zweite Geburt statt, wir müssen uns die Welt buchstäblich erschmecken.
Versprechen von individueller Freiheit
Gerade die Alten Meister lehren uns dabei auch den Schrecken des Mundes. Werke von Pieter Bruegel und Hieronymus Bosch zeigen den Mund als Höllenschlund, der zum dunklen Weltinnenraum führt und durch den allerlei fiese Kreaturen herausgekrochen kommen. In der klassischen Moderne fürchtet sich Alfred Kubin vor Monstermäulern und Edvard Munch vor Vampirbissen, der notorische Hypochonder Andy Warhol widmet Saint Apollonia, der Schutzheiligen von Zahnärzten, ein Porträt. Erotischer geht es in den Werken von Picasso oder Wolfgang Tillmans zu, die die Sinnlichkeit der Lippen und des Kusses betonen.
Wie viel Mund die Besucher zeigen dürfen, wenn sie über den zungenpinken Teppich in die zum riesigen Mund umgebaute Haupthalle wandeln, ist offen. „Die Ausstellung wurde lange vor Corona konzipiert“, erzählt Beitin. "Aber natürlich hat der Mund als locus horribilis der Corona-Ära höchste Aktualität." Auf die kulturwissenschaftliche Schau folgt eine höchst politische: "Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters" blickt auf einen Stoff, der unsere Gegenwart geprägt hat wie kaum ein anderer. Ob Flugzeuge oder Panzer, Weltraumraketen oder Autobahnen, Plastik oder Kosmetika – nichts davon wäre ohne Erdöl entwickelt worden. Andreas Beitin hat die Ausstellung noch von seinem Vorgänger übernommen – und das "gerne, eben weil sie beide Seiten einer Medaille zeigt. Denn man kann so ökologisch eingestellt sein, wie man will: Wir alle haben Produkte an uns und in unserem Alltag, die in irgendeiner Form mit Öl zu tun haben – das fängt schon morgens beim Duschen an."
Gerade in der Nachkriegszeit sprudeln mit dem schwarzen Gold futuristische Versprechen von grenzenloser Mobilität und individueller Freiheit an die Oberfläche. Es läuft und läuft und läuft – bis es nicht mehr läuft, unzählige Kriege ums Öl geführt werden, die Zerstörung des Planeten unübersehbar wird. Heute stehen wir am Ende des Erdölzeitalters – und so wirft "Oil" als "weltweit erste Retrospektive der weltumspannenden Erdölmoderne" den Blick zurück auf eine Welt, von der wir uns gerade zu verabschieden beginnen.
Die ökonomische Dimension des Lichts
Natürlich passt eine solche Schau thematisch in die Volkswagenstadt. Lokale Anbindung bietet auch der Ort Wietze, wo Mitte des 19. Jahrhunderts die industrielle Förderung von Erdöl begann und heute ein Erdölmuseum steht. Doch ist der Ansatz umfassender. So kommt urzeitliches Material zum Einsatz, wie ein Dinosaurierskelett, das in der Region ausgegraben wurde – Öl besteht ja aus abgestorbenem organischem Material. Vor allem aber untermauern die aus allen Weltregionen stammenden Kunstwerke der Schau die globale Dimension des Themas. Große Namen wie William Eggleston oder Sylvie Fleury sind dabei, Teilnehmer wie Kader Attia, Hans Haacke, Rena Effendi, Santiago Sierra oder Taryn Simon versprechen politische Brisanz.
Das Thema Licht klingt zunächst weniger brisant. Lichtkunst kennt man von den gleißenden Neonröhren eines Dan Flavin, von Landart-Protagonisten wie James Turrell oder Mary Corse. Doch Andreas Beitin nähert sich dem Medium aus einer anderen Richtung und zeigt in "Macht! Licht!" Werke, die die politische, soziale, ökologische oder wirtschaftliche Dimension des Lichts kritisch kommentieren. „Wie das Öl ist auch das Licht mit Wohl und Wehe verbunden“, erklärt Beitin. "Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist das Licht ausschließlich positiv besetzt – wohl jede Weltreligion spielt mit dem Licht als Metapher für das Göttliche. Aber mit der Erfindung des elektrischen Lichts schlagen die Konnotationen ins Negative um. Heute denken wir an Lichtverschmutzung und Energieverschwendung."
Klare politische Botschaften
Den extremsten Umschlag von der Utopie zur Dystopie beschreibt der Begriff "weiße Folter". Beitin erinnert an George Orwells Romans "1984", der auf einen Ort verweist, an dem es keine Dunkelheit gibt. Als Leser hofft man, dass die Romanfiguren diesen vermeintlich utopischen Ort endlich erreichen werden, bis man am Ende merkt: Ein Ort, wo das Licht nie ausgeht, ist ein Ort der Folter. In der Ausstellung lässt eine Installation von Gregor Schneider die Brutalität dieser "weißen Folter" erahnen. Licht ist auch Teil der modernen Kriegsführung, Überwachungstechnik, eine Waffe.
Was das Licht mit Fragen des Rassismus zu tun hat, ist das Thema einer abstrakten Lichtarbeit von Theaster Gates. In Wolfsburg wird es auch verschwenderisch-schöne Werke geben, in denen man Licht physisch spürt und merkt, wie viel Energie bei den meisten Lichtquellen als Wärme verloren geht. "Es wird eine ästhetisch sehr ansprechende Ausstellung, aber auch eine mit klaren politischen Botschaften", sagt Andreas Beitin. Wir sind auf jeden Fall schon mal elektrisiert!
Aktuelle und kommende Ausstellungen: Barbara Kasten: "Works" sowie Ulrich Hensel: "Zwischenwelten", bis 8. November. "Checkpoint. Grenzblicke aus Korea", 5. Dezember bis 31. Januar 2021. "In aller Munde", 31. Oktober bis 5. April 2021. "Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters", 5. Juni 2021 bis 26. September 2021. "Macht! Licht!", 27. November 2021 bis 20. März 2022