Frau Wegner, Sie sind seit April Rektorin der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB). Zuvor haben Sie noch nie eine Kunsthochschule gearbeitet. Warum haben Sie sich beworben?
Es war klar, dass ich mich neu orientieren muss, da meine Arbeit am HKW, am Haus der Kulturen der Welt, auslief. Ich habe immer in Projekten mit befristeten Verträgen gearbeitet. Das hat mir die Gelegenheit gegeben, neue Perspektiven für mich zu überlegen. Der Schritt in die Lehre war durchaus eine Option, um all das Erfahrungswissen, das ich über die Jahre in der Produktion von Projekten angehäuft habe, an die nächste Generation zu vermitteln. Im HKW habe ich Workshops zum Thema Projektmanagement gegeben, auch in Uni-Kooperationsprojekten mit Studierenden. In dieser Zeit wurde ich auf die Ausschreibung in Leipzig aufmerksam gemacht. Dann war ich auf der Website der HGB und dachte: "Das versuche ich!" Jetzt bin ich glücklich, hier zu sein. Und Leipzig als Stadt war für mich schon immer ein Ort, an dem ich mir vorstellen konnte, zu wohnen. Vielleicht hat das mit meiner Geburtsstadt Rostock zu tun. Von der Hafenstadt in die Handelsstadt ist es mental nicht so weit.
Machen wir Ihr Amt etwas greifbarer: Was sind die Aufgaben einer Rektorin?
Das wird mir ehrlich gesagt, auch erst langsam klarer. In der Vorbereitung auf die Bewerbung habe ich eine Professorin am Haus gefragt: "Was macht denn eine Rektorin?". Sie sagte: "Machen, dass es leichter geht!" Das ist ein toller Satz! Er ist die Abkürzung dafür, dass das Amt die Belange der Hochschule, der Studierenden, der Professorinnen und der Mitarbeiterinnen nach innen und nach außen vertritt, fokussiert und gemeinsam entwickelt. Im Ergebnis kann man dann hoffen, dass es leichter geht. Die Lehre basiert auf dem, was die Professorinnen lehren. Sie darin zu fördern, ist dem sehr ähnlich, was ich bisher getan habe. Ich habe in den letzten Jahren nicht mehr selber produziert, sondern eher dafür gesorgt, dass die Kolleginnen, die die Projekte verantworten, gut ausgestattet sind und ihre Arbeit machen können. Ich habe in der Draufsicht koordinierend Anstöße gegeben und bin den Aufgaben antizyklisch vorweggegangen.
Wie beginnt man so ein Amt?
Ich bin immer noch mitten im Kennlernprozess. Ich gehe in Einzelgespräche mit Mitarbeitenden, stelle mich vor, höre zu und stelle Fragen, lasse mich fragen. Ich arbeite mich in alles ein, in die Abläufe, die spezifische Sprache, in das sächsische Hochschulfreiheitsgesetz, in Diplomfragen oder in das Thema Berufungskommission und in die Budgets der Hochschule. Außerdem gehe ich zu Kennlerngesprächen in die Fachklassen des Hauptstudiums.
Welche Bedürfnisse haben die Studierenden formuliert?
Es geht um Räummangel, die Öffnungszeiten, die Belegungen der Werkstätten, Fragen von Materialrecycling, nach dem sozialen Raum der Hochschule, um Fragen der Diversität, insgesamt um die Arbeits- und Studiensituation. Ich habe auch eine monatliche Sprechstunde eingeführt, für die sich alle Hochschulangehörigen anmelden können.
Welche Termine stehen noch im Kalender?
Ich treffe die Kolleginnen und Kollegen im Ministerium in Dresden und die hochschulpolitischen Sprecherinnen. Die Belange der Hochschule im politischen Feld zu positionieren, ist zentral für das Amt. Ende Mai war ich in Kiel bei der Rektorinnenkonferenz der Kunsthochschulen. Ich besuche Ausstellungen und spreche mit den Leitenden der jeweiligen Institutionen oder Galerien. Ich habe die Geschäftsführerin des Studierendenwerks getroffen. Und letzte Woche saßen wir in der Kantinenkommission der Hochschule zusammen.
Es gibt eine Kantinenkommission?
Ja, die heißt wirklich so! Es ist wichtig, die Hochschule darin zu stärken, ein sozialer Ort zu sein. Gerade nach Corona. Es gibt seit längerem die Überlegung, den zentralen Lichthof als einen sozialen Ort zu etablieren. Das ist überhaupt nicht trivial in all den Anforderungen der Studierenden und in der kollegialen Zusammenarbeit mit dem Catering im Haus. Zentral ist jetzt für mich in Zusammenarbeit mit dem Kollegium und den Studierenden zu formulieren, was einen Ort wie die HGB auszeichnet, ihn außergewöhnlich und zeitgenössisch brisant macht. Was liefert die beste Basis für Studierende, damit sie dieses Haus verlassen und etwas gelernt haben? Und wie möchte diese Schule in die Gesellschaft strahlen?
Die Frage nach der Relevanz von Kunsthochschulen wird immer wieder gestellt. Zuletzt formulierte der Maler Pulad Mohammadi im Interview mit Monopol, dass Kunsthochschulen eine Blase seien, die die besten Leute ausbildet, obwohl die Nachfrage nicht da ist. Warum braucht unsere Gesellschaft weiterhin Kunsthochschulen?
Das ist eine Frage, der wir uns immer wieder stellen müssen. Es ist richtig, wenn wir sagen "Eine Gesellschaft braucht Kreativität! Eine Gesellschaft braucht freies Denken! Eine Gesellschaft braucht genau diese Art von demokratisch gelebter Individualität, wie sie Künstlerinnen vertreten!" Ich will dies perspektivisch anhand der Lebens- und Arbeitsmodelle der Alumni dieser Schule belegen. Es gibt die, die die Hochschule verlassen, erfolgreich mit Galerien und öffentlichen Ausstellungshäusern arbeiten und damit ein ganz wichtiges Segment der Kunstproduktion füllen und leben. Andere gehen in die Lehre oder Berufe, die sie aus diesem Studium heraus selber erfinden. Dafür bringen sie ihr Studium und ihre hier gelernte Art und Weise in der Welt zu arbeiten, sich zu entwickeln und sich Gegenständen und Diskursen anzunähern, ein. Es gibt etwa Beispiele für eine engagierte Stadtteilarbeit. Oder Menschen, die mit einem Halbtagsjob erfolgreich in Betriebe oder Unternehmen gegangen sind, weil ihr Tun in der Kunst dort abfärbt und gewinnbringend eingesetzt wird.
Fakt ist, die wenigsten können nach dem Studium von der Kunst allein leben. Ist es Aufgabe der Hochschule, noch besser auf alternative Erwerbsmodelle vorzubereiten?
Die Antwort möchte ich zusammen mit den Lehrenden suchen, weil sie am besten wissen, was ihre Studierenden vom Studium erwarten und wie sie nach dem Abschluss in die Welt gekommen sind. Möglicherweise ist es eben genau nicht Aufgabe der Hochschule, weil es wichtiger ist, die freie Kreativität zu fördern. Trotzdem finde ich es gut, aufzuzeigen, wie Wege sein können, damit Absolventinnen und Absolventen, wenn sie in der Realität des Berufsalltags ankommen, Perspektiven im Kopf haben.
Was sind weitere großen Themen und Ziele für die nächsten fünf Jahre?
Die grundlegende Frage ist: Wie führt man eine so fantastische Institution mit großen Idealen und Ideen, wenn die räumliche, finanzielle und auch personelle Ausstattung begrenzt ist. Das wird ein Thema sein, das mich fortwährend begleitet. Inhaltlich bin ich mit den drei Schwerpunkten Digitalisierung, Diversität und Nachhaltigkeit angetreten. Die sind in ihrer Schlagworthaftigkeit so gegenwärtig, dass sie einen fast langweilen. Aber in der Tiefe sind sie interessant und zeitgemäß und Ausdruck unserer gesellschaftlichen Transformation.
Gehen wir in die Tiefe: Was bedeutet Digitalisierung für die HGB?
In allen Bereichen der künstlerischen Produktion ist Digitalisierung präsent. Seit den 1990er-Jahren wurden an diesem Haus viele Investitionen getätigt, um Digitaldruck, 3-D-Druck und die audiovisuellen Werkstätten auszubauen. Gemeinsam mit den historischen analogen Werkstätten öffnen sie einen großen Möglichkeitsraum. Das volle Potenzial ist noch gar nicht gehoben. Ich möchte diese Möglichkeiten mit allen Fragestellungen auch in Hinblick auf den ästhetischen Ausdruck mit den Studierenden und mit den Lehrenden diskutieren: Wie entstehen diese Medien? Welche Relevanz haben sie? Wo sind kritische Betrachtungen notwendig? Die Studierenden sollen mit einer hohen Kompetenz als Mediennutzerinnen und Mediengestalterinnen ausgestattet werden.
Zu den nicht digitalen Werkstätten gehören zum Beispiel die Grafischen Werkstätten, mit Handsatz, Buchdruck, Reproduktion, Offsetdruck und Bucheinband, dazu kommen Werkstätten für Fotografie, Radierung, Siebdruck, Holzschnitt. Möchten Sie diese erhalten?
Unbedingt! Dass wir eine solche Vielfalt und Größe am Haus haben, ist einmalig in Deutschland. Alle Grafikerinnen, mit denen ich vor meiner Bewerbung gesprochen habe, bestätigten mir, dass sie in den analogen Werkstätten viel über Drucktechniken, über Grafik und über Typografie verstanden haben.
Zweites Stichwort: Diversität. Was bedeutet Diversität an einer Kunsthochschule?
Diversität wird hier großgeschrieben, sei es mit der Akademie für Transkulturellen Austausch, der Willkommenskultur für Geflüchtete, zuletzt auch aus der Ukraine, in den Ausschreibungstexten, in der Besetzungspolitik. Unter meinem Vorgänger Thomas Locher sind viele Frauen an die Hochschule gekommen, sodass wir jetzt eine Quote von 47 Prozent Frauen innerhalb der Professorinnenschaft haben. Wir werden ein Diversitätsmanagement aufbauen, das diskriminierungsfreie Lehre, die Ausrichtung des Lehrkörpers, die Internationalisierung bei den Studiengängen und vielleicht auch Begegnungsformen in den Blick nimmt und weiterentwickelt.
Seit 2016 bietet die HGB das bundesweit erste Studienangebot für geflüchtete Menschen im Bereich Bildende Kunst und Grafik-Design an, bei dem die Studierenden regulär immatrikuliert sind. Ist die Finanzierung der Akademie für transkulturellen Austausch (ATA) dauerhaft gesichert?
Inhaltlich steht die ATA auf guten Füßen und erfährt innerhalb der Hochschule große Unterstützung. Wir geben geflüchteten Kunst- und Designstudierenden eine Basis, sich für ein mögliches Studium an unserer Schule zu qualifizieren und in Leipzig wieder einen Alltag zu finden. Wir arbeiten eng mit dem Studierendenwerk zusammen. Das dortige Beratungsangebot zu organisatorischen und vor allem auch zu sozialen Fragen wird rege genutzt. Ende des Jahres läuft jedoch die aktuelle Finanzierung der ATA durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst aus und wir haben noch keine Antwort auf eine verbindliche Anschlussfinanzierung. Aber wir arbeiten daran.
Ist eine Vollfinanzierung über den Freistaat Sachsen ab 2024 denkbar?
Der Freistaats Sachsen finanziert anteilig die Sprachkurse. Wir haben eine Person eingestellt, die in die Drittmittelakquise geht, sodass wir auf breiter Linie daran arbeiten, dass dieses Programm gesichert werden kann.
Stichwort Nachhaltigkeit: 2010 übernahmen Sie die kaufmännische Leitung des von der Bundeskulturstiftung geförderten Projekts ÜBER LEBENSKUNST am Haus der Kulturen der Welt, das sich über eine Laufzeit von drei Jahren mit Nachhaltigkeitsperspektiven in der zeitgenössischen Kunst- und Kulturproduktion befasste. Wie kann eine Hochschule wie die HGB sich nachhaltiger aufstellen?
Wir haben damals mit Wissenschaftlerinnen vom Max-Planck-Institut, vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung und mit vielen internationalen Expertinnen zusammengearbeitet. Die Prognosen über die Entwicklung des Wetters und über das Artensterben waren damals schon in einer Weise bedrohlich, dass es kaum auszuhalten war. Mich hat das nachhaltig beeinflusst. Ich möchte erreichen, dass die Hochschule sich unter meinem Rektorat eine Strategie für Nachhaltigkeit gibt. Sowohl hinsichtlich des Betriebs, aber auch in der Lehre. Es geht auch darum zu fragen, welche ästhetischen Praktiken mit Nachhaltigkeit zusammengehen, ohne dass es ein Paradigma gibt, dem Lehrende und Studierende folgen müssen. Fragen der Nachhaltigkeit werden von den Studierenden zunehmend und zu Recht gestellt. Da ist die Hochschule derzeit nur punktuell antwortbereit. Mir ist es ein zentrales Anliegen, in alles, was an diesem Haus passiert, ein Bewusstsein darüber einzuschreiben, was es für einen Fußabdruck hinterlässt. Und ein Wissen, wie dieser minimiert werden kann. Der Klimawandel wird unser größter Gegenspieler sein und viele Krisen auslösen. Es ist notwendig, die Augen zu öffnen und mit positiven Optionen ins Handeln zu kommen.
Neben gutem Grafikdesign ist die Leipziger Hochschule bekannt für die Tradition im Bereich Malerei und Grafik, insbesondere für figurative Malerei, Stichwort Neue Leipziger Schule. Mit Annette Schröter ist im vergangenen Jahr die letzte Professorin für Malerei und Grafik im Hauptstudium in Rente gegangen, die selbst noch hier an der Hochschule ausgebildet worden ist. Viele fragen sich, ob dies auch das Ende der Figuration an der HGB bedeutet.
Ich finde es gut, das Angebot der Hochschule nicht darauf einzuschränken, sondern einen offenen Raum zu schaffen, der ein Ausprobieren und auch ein formales Forschen ermöglicht. Es gibt am Haus weiterhin die Möglichkeit, sich in einem figürlichen Malstil ausbilden zu lassen. Wer sich künstlerisch in diese Richtung entwickeln möchte, findet hier weitreichende Angebote, das zu lernen. Insofern halte ich die Sorge für unberechtigt. Ich finde es auch nicht richtig, das konfrontativ zu formulieren. Die formale Setzung der Figuration führt in die Ausrichtung der Kunsthochschule zu DDR-Zeiten, aber auch in die unmittelbare Nachwendezeit zurück. Dies kategorisch in einer Art Selbsttradierung fortschreiben zu wollen, kommt mir künstlich vor.
Die sorgenvolle Beobachtung dieser Entwicklung geht bei einigen sicher auch mit Erfahrungen aus den 1990er-Jahren einher. Auch wenn Arno Rink als Professor trotz Systemwechsel im Amt blieb, berichten viele von internen Kämpfen und Überlegenheitsgesten von Menschen aus dem Westen, die der HGB erklären wollten, wie es mit der Kunst nun richtig geht. Der internationale Erfolg der Leipziger Malerei kam erst später.
Kunst an sich ist so ein schwerer Beruf, der viele Verletzungen und Ausgrenzungen mit sich bringt. Das ist hier durch die Wende-Erfahrung verdoppelt worden. Aber 30 Jahre später steht die Hochschule gesellschaftlich anders da. Mir ist die Auseinandersetzung in Bezug zur Gegenwart auch angesichts des Erstarkens von sehr konservativen bis rechten Tendenzen wichtig: Wie sind die begründet? Und wo können wir in unserem Wirken Türen öffnen, damit Dialoge bestehen bleiben und diese Kräfte nicht die Überhand gewinnen?
Was halten Sie von einer Quote für Professorinnen und Rektorinnen mit Ost-Biografie?
Quoten sind in den Genderfragen erfolgreich eingesetzt worden. Und wo immer Institutionen, auch in der Parteienlandschaft, sich eine Quote gegeben haben, hat es dazu geführt, dass diese Institutionen, Parteien und Einrichtungen sehr viel erfolgreicher darin waren, eine Genderbalance zu etablieren. Insofern finde ich Quoten nicht falsch. In unserer Gegenwart, in der wir auf Diversität angelegt sind, weiß ich gar nicht genau, was in Hinblick auf DDR-Biografien zielführende Instrumente sind. Denn dann ist auch die Frage: Geben wir uns eine Quote für Lehrende mit Migrationshintergrund? Welche Migrationshintergründe sind das dann? Und inwieweit fließt in die Fragen der Diversität auch die DDR-Vergangenheit ein?
Sie sind 1966 in Rostock geboren. Welche Konsequenzen hatte die Maueröffnung 1989 für Sie?
Ich habe in den Vorwendejahren in einem Jugendclub und ab 1988 frei im Umfeld der Autoperforationsartisten gearbeitet. Das ist nach der Wende auch noch eine Weile weitergegangen. Ich habe in der Zeit den Galeristen Judy Lybke getroffen. Wir sind im März 1990 mit einem verbeulten Wartburg-Kombi nach Frankfurt am Main gefahren und haben dort auf der Messe ausgestellt. Für mich war das ein Neulernen von allem: Was bedeutet Kunst in dieser Situation? Welche Butter kaufe ich? Wie ziehe ich mich an? Wie sind die kulturellen Codes? Welche Musik höre ich? Das ist eine einschneidende Erfahrung gewesen. Vieles galt plötzlich nichts mehr.
Spielte Ihre Herkunft aus dem Osten im Zuge Ihres beruflichen Weges eine Rolle?
Das haben mich Studierende auch gefragt. Ich merke jetzt, dass ich mich länger nicht damit auseinandergesetzt habe – weder in Bezug auf mich selbst noch auf meinen institutionellen Alltag. Die großen Verletzungen im Zuge des Eliten- und Systemwechsels kenne ich eher von anderen. Aber diskriminierende Sätze habe ich auch abbekommen: "Ossis mögen wir ja hier nicht so, aber die aus Rostock gehen." Oder: "Du siehst gar nicht aus wie ein Ossi!" Im Arbeitskontext spielte meine Herkunft weniger eine Rolle. Mit Mitte 30 stand ich im Vergleich zu meinen Freundinnen aus dem Westen an der gleichen Stelle. Nur die, die finanziell durch ihre Familien anders ausgestattet waren, und die ganz großen Talente waren schon drei Schritte weiter. Für mich war ab dem Moment klar: Ich bin kein Opfer, und ich kann diesen Weg weitergehen und mich in diesem Land entwickeln. Ich bemühe mich um eine Sprache, die den Ost-West-Konflikt nicht perpetuiert, zumal sich das Thema in der jungen Generation sozusagen verwächst. Das Land, wo ich geboren wurde, heißt jetzt Mecklenburg-Vorpommern. Das ist 33 Jahre nach der Wiedervereinigung kein neues Bundesland mehr. Ich bin froh, dass ich so jung war, als die Wende kam. Alle, die schon 30, 40, 50 waren, hat es oft anders erwischt als mich.
Sie haben Kunstwissenschaft und Wirtschaftswissenschaften studiert. Eine pragmatische Kombination oder echte Leidenschaft für wirtschaftliche Fragen?
Ich habe mich nie als die Superkreative gesehen. Und ich wollte mich nie mit einem eigenen Produkt in die erste Reihe stellen müssen. Aber ich habe immer die Nähe zur Kunst gesucht. Und ich wusste, dass ich ein Organisationstalent habe. Ich habe Volkswirtschaftslehre studiert. Das war ein toller Spaß. Mich hat dieser Blick auf ökonomische Strukturen innerhalb einer Gesellschaft fasziniert: Wie funktionieren Versicherungen als Solidarprinzip? Wie sind Risikoabwägungen? Warum darf ein Skifahrer wie irre den Hang herunter brettern und wird gesellschaftlich versichert? Die Diskussion darüber, was eine Gesellschaft sich leistet, um in den verschiedensten Ebenen des Gemeinwesens in allen Facetten, und Kunst gehört dazu, eine reiche Gesellschaft zu bilden, finde ich weiterhin total interessant.
Von 2009 an waren Sie Teil des Berliner "Art Critics Orchestra" (ACO), bestehend aus fünf Musikern und Musikerinnen, die hauptberuflich im Kunstbetrieb und vor allem als Kunstkritiker tätig sind. Wann haben Sie zuletzt auf einer Bühne gesungen?
Vor Corona habe ich mit dem ACO im Haus am Lützowplatz noch einmal ein kleines Konzert gespielt. Aber das war irgendwie schwierig, weil ich gemerkt habe, dass ich älter geworden war. Mein körperliches Gefühl zur Präsenz auf der Bühne war ein anderes und ich konnte das der jüngeren Frau nicht ohne Weiteres erzeugen. Wenn ich wieder auf einer Bühne singen würde, müsste ich mir eine neue Form geben mit meinem Älter-geworden-Sein. Die Band gibt es auf jeden Fall noch. Als Rektorin bin ich auch ein bisschen wie die Frontfrau einer Band: Wer am Mikrofon steht, macht keine Alleingänge und ist nicht allein. Die Band ist immer da.
Unsere Autorin hat selbst an der Leipziger Hochschule studiert und ist Mitglied in deren Freundeskreis