Fotografen haben sich schon immer vom Zirkus, von Jahrmärkten und von Schaustellern angezogen gefühlt. Im 19. Jahrhundert fotografierte Charles Eisenmann in New York Artisten und "Freaks" - oft im Auftrag zur Herstellung von Kabinettkarten für die Artisten. August Sander porträtierte für seine "Menschen des 20. Jahrhunderts" Zirkusleute jenseits der Manege, und legendär sind die Arbeiten der beiden Magnum-Fotografen Bruce Davidson und Mary Ellen Mark, die US-amerikanische und indische Zirkusleute vor, während und nach ihrer Arbeit begleiteten. Auch Diane Arbus, die sich ohnehin immer von den Außenseitern und Sonderlingen der Gesellschaft angezogen fühlte, fotografierte Artisten, und selbst der Designer und Architekt Charles Eames hielt die bunten Schriften, Ornamente und Kostüme in Farbfotografien fest.
Bei allen Unterschieden haben sie eines gemeinsam: Die genannten Fotografinnen und Fotografen betrachten den Zirkus fast ausnahmslos als eigenständigen, von der übrigen Welt abgetrennten Kosmos. Entsprechend fokussiert ist ihr Blick auf die Artisten, Schausteller und Tiere - ein Bezug zur "Außenwelt" fehlt.
Schon deshalb sind die jetzt in dem Buch "Ohne Vorstellung" veröffentlichten Fotografien von Heinz Neumärker eine Ausnahme und eine absolute Bereicherung. Der Wahl-Leverkusener war Amateurfotograf im besten Sinne und hinterließ ein riesiges Archiv mit 200.000 Zirkusfotos aus fünf Jahrzehnten: Sobald Sarrasani, Krone oder Hagenbeck in der Region gastierten, griff Heinz Neumärker zur Kleinbildkamera und dokumentierte das exotische Treiben. Eine kleine Auswahl von 121 Schwarz-Weiß-Bildern aus den 1950er- und 1960er-Jahren hat sein Sohn Carsten Neumärker nun in diesem Buch veröffentlicht.
Fremdkörper in den grauen westdeutschen Nachkriegsstädten
Im Vergleich zu den eingangs erwähnten Fotografen sind Neumärkers Aufnahmen eher unspektakulär und sachlich. Eher nüchtern dokumentiert er die Ankunft auf den Zugwagen und den Marsch der Zirkusleute mit ihren Pferden, Watussirindern, Kamelen und Elefanten durch die Innenstädte von Leverkusen, Opladen und Krefeld, umringt von zahlreichen Schaulustigen.
Es folgen Sequenzen vom Aufbau des Zirkusdorfes und der Zelte bis hin zur fertigen, aber menschenleeren Manege. Die Darbietungen selbst bekommen wir nicht zu sehen - und das ist gut so, denn diese Bilder kennen wir schon zur Genüge. Neumärker war nie Teil der Zirkuswelt - und er gaukelt es uns auch nicht vor. Für ihn war der Zirkus selbst das Spektakel und eine willkommene Abwechslung vom Alltag seines Angestelltendaseins, er war der Fremdkörper in den grauen westdeutschen Nachkriegsstädten, und so betrachtet ihn Neumärker auch: neugierig und wohlwollend, aber auch distanziert.
Zugleich setzt er die aufregende und exotische Zirkuswelt mit ihren Wagen und Zelten, ihren Akrobaten, Clowns, Dompteuren und wilden Tieren fast immer in Beziehung zu jener bürgerlichen Gesellschaft, die sich nach dem Krieg wieder zu etablieren versucht.