Hans Ulrich Obrist: Wie und wann hast du Kasper König kennengelernt?
Michael Diers: Ich weiß es leider nicht mehr genau, irgendwann in den 1970er-Jahren. Ich habe als Student gelegentlich bei Walther König gejobbt, in Köln und in Kassel während der Documenta. Vermutlich habe ich ihn dort ab und zu getroffen, aber immer eher beiläufig. Etwas näher habe ich ihn erst im Rahmen der Skulptur Projekte Münster 1977 kennengelernt. Als begeisterter Besucher der ungewöhnlichen Schau habe ich ihm herzlich gratuliert. Für mich ist damals als angehender Kunsthistoriker deutlich geworden, dass es ein Leben der Kunst auch außerhalb der Accademia gibt und Berufsfelder jenseits der Universität.
HUO: Und dann?
MD: Es hat dann noch rund 20 Jahre gedauert, bis wir in einen ersten konkreten Austausch getreten sind und es zu zwei gemeinsamen Projekten kam – ein Buch der Freunde zum 60. Geburtstag von Walther König 1999 und kurz darauf ein Buch über Hans Haackes Reichstagsprojekt "Der Bevölkerung". Beide Bücher haben wir gemeinsam konzipiert und herausgegeben. Das Haacke-Buch habe ich angeregt, weil ich damals ein Seminar zur politischen Ikonografie an der Humboldt Universität angeboten hatte, und wir dachten, das Thema sei aktuell und auch bestens geeignet, um Studierende einzubeziehen. Im Rahmen dieser Arbeit haben wir uns häufiger getroffen und ausgetauscht. Eine wunderbare Zusammenarbeit, während der ich auch Kasper Königs umfangreiche Adressbücher bewundern konnte: schwarze Leinenbände, prall gefüllt mit eingeklebten Visitkarten und zahllosen eigenhändigen Einträgen, je ein Buch, fast ein Album, für nationale und internationale Adressen. Eines der wichtigsten Arbeitswerkzeuge, über das er sich mit der gesamten Kunstwelt verbinden konnte, schriftlich oder telefonisch. An digitalen Optionen, Personal Computer und so weiter hatte er damals kein Interesse. Seine bevorzugten "Medien" waren das Gespräch, persönlich oder telefonisch, und, nicht zu vergessen, für Kurzmitteilungen die Postkarte, von Hand durch Über- und Aufkleber und launige Zusätze vielfältig als kleine sprechende Collagen gestaltet. Emails habe ich, soviel ich weiß, keine einzige von ihm erhalten, nur sein Büro hat diesen elektronischen Weg genutzt. Und du, wie bist du mit Kasper König in Kontakt gekommen?
HUO: Zuerst durch Gerhard Richter und Katharina Fritsch. Die erste längere Begegnung entstand durch die Vermittlung von Fischli/Weiss, die mich damals, noch als Student der Ökonomie in St. Gallen, aber mehr an der Kunst interessiert, als Mentoren gefördert haben. Kasper König hatte damals für das Heizkraftwerk Saarbrücken Kunst-am-Bau-Projekte verabredet, unter anderem mit Katharina Fritsch und Thomas Schütte, aber eben auch mit Fischli/Weiss, die dort ihren inzwischen berühmten "Schneemann" in einem mit Strom aus der Abwärme geheizten Kühlschrank realisiert haben. Da ich gerade meinen Führerschein gemacht hatte, habe ich mich mit dem Schneemann-Dummy aus Polyurethan auf dem Beifahrersitz meines alten Volvo – vermutlich ein surreales Bild – auf den Weg nach Saarbrücken gemacht, wo mich Kasper König an der Römerbrücke bereits erwartete; er hatte einen Termin mit einem für das Projekt Verantwortlichen und wollte ihm den "Schneemann" vorführen. Das war eine der ersten Begegnungen. Später hat er mich dann in St. Gallen besucht und sich unter anderem von meiner "Küchenausstellung" erzählen lassen.
MD: Und das hat euch zusammengebracht?
HUO: So sind wir allmählich näher in Kontakt gekommen, sodass er mich 1990 gefragt hat, ob ich mit ihm den neuesten Band der Reihe "Jahresring", herausgegeben vom Kulturkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie e.V., konzipieren und realisieren wolle. Unter dem Titel "Der öffentliche Blick" versammelt der Band zahlreiche Künstlerbeiträge von Dennis Adams bis Heimo Zobernig. Auch die Anzeigen, das war Königs Idee, wurden von den Künstlern gestaltet und damit eingepasst in den Band, der als "Quellenbuch" im Übrigen ohne Kommentar auskommt. Paul Virilio hat für den Band ein mit mir geführtes Gespräch über das öffentliche Bild beigesteuert. Aus dieser Zusammenarbeit ist bald darauf auch das Projekt "Der zerbrochene Spiegel" im Auftrag der Wiener Festwochen erwachsen, das heißt Kasper König hat mich gefragt, ob ich Interesse hätte, an der Ausstellung zu "Positionen der modernen Malerei" mitzumachen. Sie wurde 1993 in Wien und später auch in Hamburg gezeigt. Ich habe damals viel gelernt, bin mit König oder auch allein gereist, zum Beispiel nach Prag, Stockholm und Malmö, auch nach New York, um zu recherchieren und vor allem Künstler und Verabredungen zu treffen.
MD: Wie war das?
HUO: Zur Vorbereitung haben wir bei mir zu Hause die in zahlreichen Kisten zusammengetragenen aktuellen Kunstkataloge durchgesehen, um geeignete, weniger bekannte malerische Standpunkte zu finden. Kasper König war durchaus beindruckt von der Fülle meiner Literatur, nicht zuletzt, weil er selber auch mit Bücherkisten operierte. Ich hatte mir in meiner kleinen Studentenwohnung, von seinem Archiv inspiriert, eine eigene Architektur aus Kisten errichtet, um alles unterzubringen. Er war allerdings auf die Idee gekommen, seine Sammlung alphabetisch anzulegen. Das "Modell" habe ich anschließend übernommen ...
MD: Kataloge und andere Kunstbücher gehören ja gleichfalls zum Handwerkszeug eines Ausstellungsmachers. Das klingt banal, aber wer Kasper König kannte, weiß, dass er im besten Sinne von Büchern (und Schriften aller Art) als Informationsträgern besessen und immer von ihnen umgeben war. Die Liebe zum Buch hat ihn früh auch zu den Künstlerbüchern geführt, eine Gattung, die er selber intensiv gefördert hat, indem er Künstler und Künstlerinnen nicht unbedingt beauftragt, aber doch darin bestärkt hat, Bücher zu entwickeln und zu gestalten. Damit hat er eine in den 1960er-Jahren aktuelle Idee aufgegriffen, ein Konzept, das zumal in den USA en vogue war. Nach seiner Zeit in New York ist König ja mit einem Zwischenstopp in Antwerpen als Assistenzprofessor an das Nova Scotia College of Art and Design in Halifax berufen worden. Ein Vortrag mit dem Titel "Das Buch als primäres Medium für neue Kunst" hat das Institut damals für ihn als Dozenten eingenommen. Und prompt wurde dort eine Künstlerbuch-Reihe gegründet, in der unter anderem Martha Rosler, Hans Haacke oder Yvonne Rainer publiziert haben. Selbstverständlich spielte es nicht nur im Hintergrund eine Rolle, dass Kaspers Bruder Walther mit seiner Buchhandlung in Köln in allen Fragen des Kunst- und Künstlerbuches, nicht zuletzt als ebenso begeisterter wie eifriger Sammler, flankierend zur Seite stand. Sie haben damals zusammen den Verlag Gebr. König gegründet und einige Zeit gemeinsam geführt. Als Postkartenverlag existiert er bis heute. Auf den Aspekt Postkarte sollten wir noch zurückkommen. Eine Ausstellung über die Künstlerbuchsammlung von Walther König war übrigens das dritte Projekt, das wir gemeinsam besprochen haben, dazu ist es am Ende aber leider nicht gekommen.
HUO: Du hast eben im Vorübergehen auch Antwerpen erwähnt. Wenn man sich die wechselnden beruflichen Stationen von Kasper König in Erinnerung ruft, dann stellt das kleine Kunstzentrum A 379089, eine Art Fluxus-Station, in Zusammenarbeit mit Isi Fiszman entstanden, eine wichtige institutionelle Erfindung dar, ein Mittelding zwischen Galerie, Atelier und Künstlerwohngemeinschaft. Wenn man Königs Biografie überblickt, dann hat er ungewöhnlich viele unterschiedliche Formate bedient oder erfunden – von Großausstellungen wie "Westkunst" und "Von hier aus" über den räumlich überschaubar großen Portikus-Container bis hin zur Wohnzimmergalerie. Von der künstlerischen Leitung der Expo 2000 in Hannover ganz zu schweigen. "In Between" hieß bezeichnenderweise das dort gemeinsam mit Wilfried Dickhoff realisierte Großprojekt. Dabei fällt mir ein, dass Kasper gern einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin an seiner Seite hatte, von Projekt zu Projekt meist wechselnd, sodass insgesamt viele, meist junge Leute als Kolleginnen und Kollegen zum Zuge gekommen sind. Du gehörst ja wie ich ebenfalls dazu. "Learning on the job" lautete die Devise.
MD: Und er lehrte auch.
HUO: Auch seine Lehrtätigkeit reicht von der Assistenzprofessur in Halifax über die Düsseldorfer Kunstakademie, wo er den Schwerpunkt "Kunst und Öffentlichkeit" vertreten hat, bis zur Städelschule, wo er zunächst unterrichtet und später als Rektor fungiert hat. Immer interessiert daran, alles zum Besten der Kunst, der Künstler und der Studierenden zu gestalten. Bis hin zur Städelschul-Cafeteria, die er als wichtigen Ort des Austauschs begriffen und von Peter Cook entsprechend hat gestalten lassen.
MD: Ich denke, dass für ihn in jeder Phase und in jeder Institution der direkte Austausch mit den Künstlern maßgeblich war. Den Künstlern, aber auch Architekten, Musikern und Tausendsassas wie Peter Weibel ein Podium zu verschaffen, um ihre Ideen präsentieren und diskutieren zu können, war der Leitgedanke. Das könnte als selbstverständlich gelten, war es aber aufgrund vieler einschränkender bürokratischer und behördlicher Strukturen keineswegs. Er wusste oft, wie man sich durchsetzen konnte. Die Städelschule war damals als Hochschule international höchst renommiert. Wie ist ihm eigentlich der intensive und enge Austausch mit den Künstlerinnen und Künstlern gelungen? Hat er bei Projekten Vorgaben gemacht, sind sie ihm oder ist er ihren Vorschlägen gefolgt?
HUO: Das war immer ein Austausch.
MD: Hat sein Erfolg als Ausstellungsmacher auch damit zu tun, dass die Politik in den 70er- und 80er-Jahren noch deutlich mehr Interesse an der bildenden Kunst gezeigt hat und die Städte ringsum stärker miteinander gewetteifert haben, in Sachen Kunst mitreden zu können? Anders wären Großschauen wie "Westkunst" oder "Von hier aus" oder "Der zerbrochene Spiegel" doch gar nicht möglich gewesen, oder?
HUO: Ja, das denke ich auch. Kasper war mit Kulturpolitikern im Gespräch und hat ihr offenes Ohr gesucht, statt bloß Konzeptpapiere einzureichen. Er konnte auch sehr emphatisch, engagiert und einnehmend für eine Sache sprechen und am Ende überzeugen. Aber es ging den Städten auch nicht nur um Fragen des Geldes und der Finanzierung bei solchen Veranstaltungen, sondern auch um das Image einer Kunststadt und das damit verbundene Prestige. Ich denke zum Beispiel an die Arbeit von Hilmar Hoffmann als Kulturdezernent in Frankfurt. Solche Leute sind in der Politik sehr selten.
MD: Mein Eindruck ist, dass Kasper König ein großer Vermittler war, dass er zwischen Kunst und Politik, Kurator und Künstlern und Publikum versucht hat zu vermitteln – eine Art Mediator. Ein Medium dieser Vermittlung waren seine herausragenden Kenntnisse, kaum jemand ist damals so viel gereist wie er, auch zu kleineren Ausstellungen und Ereignissen, und seine Fähigkeit zu begeistern. Im Gespräch konnte er überzeugen und für eine Sache gewinnen. Ist mit ihm eine Ära zu Ende gegangen?
HUO: Das ist mir zu nostalgisch gedacht. Im Blick nach vorn geht es doch eher darum, zu prüfen, was an dem, was und wie er es gemacht hat, richtig und wichtig war und wie man damit fortfahren oder es weiterentwickeln kann. Wir sollten das Exemplarische seiner Arbeit herausstellen und fragen, was aus der Werkzeugkiste, die Kasper König bereitgestellt hat, relevant für die Zukunft sein kann.
MD: Die Nostalgie erwächst vielleicht aus der Trauer. Aber du hast recht, man sollte fragen, was für die Zukunft an seinem Konzept der Kunstschule, der Ausstellung, des Museums – das Museum der Wünsche – weiterhin Sinn macht und von Nutzen ist.
HUO: Er hätte vermutlich in seinen mittleren Jahren gern gezeigt, wie man die Documenta in Kassel neu erfinden kann. Aber das hat nicht geklappt, ich glaube, diese Aufgabe hätte er gern übernommen. Aber flankierend gab's ja die von ihm auf Anregung von Klaus Bußmann erfundenen Skulptur Projekte Münster, vergleichbar ambitioniert und zeitlich jeweils parallel zur Documenta anberaumt. Die alle zehn Jahre stattfindenden Skulptur Projekte gehören zu den wichtigsten Ritualen in der Kunstwelt und haben über das Ereignis hinaus die Stadt nachhaltig verändert. Rund 30 Werke sind auf Dauer installiert.
MD: Gibt es in deinen Augen etwas, das in seinem Portfolio an Aktionen und Ambitionen gefehlt hat? Hat er vielleicht rückblickend etwas Wichtiges übersehen?
HUO: Lass uns lieber noch kurz über die Postkarten sprechen.
MD: Du hast recht. Die beiden letzten Postkarten, die ich von ihm erhalten habe, betrafen die Ausstellung von Ulrich Rückriem in der Neuen Nationalgalerie. König war mit Rückriem eng befreundet. Im Dezember hat er mich auf die Ausstellung mit knappen Worten aufmerksam gemacht: "nur noch 3 Wochen". Diesen Hinweis habe ich so verstanden, dass es nicht nur lohne, sich die Schau anzusehen, sondern eventuell auch darüber zu schreiben, um etwas Werbung zu machen. Beides habe ich getan. Postwendend kam im Januar ein Dankschreiben, wieder via Postkarte: "Sehr guter Text zu U.R. in der Nationalgalerie. Lieber M. Diers, das hat deutlich die Sache geklärt. Beste Grüße Ihr Kasper König". Die Rückseite der Karte zeigte kein Bild, sondern einen typographisch gestalteten Text: "mañana/ Spanisch, Substantiv/ unbestimmter Zeitpunkt in der Zukunft, wahrscheinlich aber nie".
HUO: So war er. Und das Buch über seine Postkarten sollten wir bald in Angriff nehmen. Dann kommt er wieder selbst zu Wort - und seine großartigen Bildcollagen zum Vorschein.