Wie erklärt man jemanden außerhalb der Kunstwelt das Phänomen Hans Ulrich Obrist? Der Schweizer Kurator ist der Igel, der uns Hasen an jedem Pilgerort der Kunst "Ick bün al hier!" zuruft, egal ob wir zu einer Messe in Indien fliegen oder auf eine Biennale in Brasilien. Jeder nennt ihn nur HUO, drei Großbuchstaben wie die WHO oder der IWF. Der 52-Jährige leitet nicht nur als künstlerischer Direktor der Londoner Serpentine Gallery eine Institution, er selbst ist eine weltumspannende Organisation.
HUO, der seit einer Ausstellung 1991 in seiner eigenen Küche als Wunderkurator gilt, führt am eigenen Leibe vor, dass nicht allein objektförmige Kunstwerke die Atome sind, aus denen sich die Branche zusammensetzt, sondern zu Netzwerken verwebte Kommunikationspartikel: Er praktiziert das Gespräch als Live-Performance in Marathon-Interviewsessions, postet bei Instagram Fotos aus den Ateliers dieser Welt und reicht jeden Neuankömmling im Smalltalk sofort mit den Worten "Do you know each other?" an einen Umstehenden weiter.
Kein anderer Protagonist der Kunstwelt steht so sehr für Wissen und Macht, das auf Beziehungen aufbaut. Beziehungen gar nicht mal im negativen Sinne von Klüngel und Vitamin B, sondern als Empathie und Austausch. Grundlage dafür ist die körperliche Anwesenheit an Hotspots und bei Top-Events, was mit einem unglaublichen Reisepensum verbunden ist und dem Vernehmen nach sogar gelegentliche Helikopterflüge mit einschließt.
"Dieser Umfang der Reisen ist nicht tragbar"
Deshalb ist es eine Nachricht, wenn Obrist jetzt ankündigt, vor dem Hintergrund der Klimakrise seine Flugreisen "sehr stark" zu reduzieren. "Während sich die Serpentine Gallery anpasst, muss ich auch meine eigene Arbeitsweise genau unter die Lupe nehmen", schreibt der Kurator in "The Art Newspaper". "Künstler haben mir die Welt geöffnet, und ich habe den Globus umrundet und Verbindungen zwischen ihnen hergestellt. Dies ist zu einer wesentlichen Funktion des zeitgenössischen Kurators geworden. Ich bin mir sehr wohl bewusst, welche Rolle mein Werdegang dabei gespielt hat und dass dieser Umfang der Reisen nicht tragbar ist."
Seit Jahren würde er Treibhausgasemissionen von Flugreisen bei Kompensations-NGOs ausgleichen, "aber das reicht nicht aus". Er möchte nun "Methoden des Austauschs" unterstützen, "die für das Wohlergehen des Planeten tragfähiger sind."
Sicher, es ist weniger schwer, auf Reisen zu verzichten, wenn man bereits überall war und dabei ausreichend Ruhm, Wissen und Netzwerk angehäuft hat. Bei HUO hat man sich genauso wie bei seinem Freund und Kollegen Klaus Biesenbach ohnehin gefragt, welche Konstitution man für eine dermaßen große Reiselust benötigt. Wie gehen Körper und Geist mit den ständigen Jetlags um, wie mit dem wenigen Schlaf, wie mit anderen Strapazen des Unterwegsseins? Wie tiefgreifend ist der Austausch eigentlich, wenn man jeden und jede kennt? Und irgendwann auch: Wie glaubwürdig kann man ökologische Inhalte vertreten, wenn man selbst den Planeten kaputtfliegt?
Der Wandel hat Konsequenzen für Berufsbilder
Die Entscheidung von HUO ist ein Fanal für die Kunstwelt. Zwar überwindet der Universalismus-Anspruch der Gegenwartskunst tatsächlich Grenzen und bringt Menschen zusammen. Doch der Status Quo aus endlosen Kunstmessen, Biennalen und Ausstellungen, die sich jeweils an ein globales Publikum wenden und auf Wachstum ausgerichtet sind, ist nicht aufrechtzuerhalten. Dieses Umdenken, das sich in der doch so aufgeklärten Kunstwelt überraschend spät durchsetzt, hat auch Konsequenzen für ganze Berufsbilder: für den Kurator und die Kritikerin, den Kulturmanager und die Galeristin. Das mag zunächst beunruhigend wirken, doch hält die Praxis vieler Künstlerinnen und Künstler schon einige Lösungen bereit (etwa die Wertschätzung "armer" Materialien, "Upcycling" durch das Readymade-Konzept oder die Feier von Langsamkeit in der "Endurance Art"). Neue Formen der Kunstproduktion und Kunstrezeption werden entstehen.
Und auch in der Grundidee des Kuratierens liegt doch das Kümmern, die Pflege, Kontemplation und Auswahl – und damit also schon der Verzicht. Selbst die Idee von einem "globalen Museum" und die Öffnung des Kanons – in den vergangenen Jahren die dringlichste Arbeit von Kuratorinnen und Kuratoren – darf nicht einfach mehr Flugmeilen für alle Beteiligten bedeuten. Die Kuratorin mit türkischen Eltern, der indonesische Künstler, sie wohnen vielleicht längst direkt neben dem Museum. Die soziale und ökologische Wirklichkeit liegt vor der eigenen Haustür.
In vielen Artikel und Gesprächen über Hans Ulrich Obrist ging es bislang um die Allgegenwärtigkeit des Kurators, um das strenge Schlafregime, das er sich auferlegt hat, um Assistenten, die nachts Emails beantworten, um die Fähigkeit, Menschen zusammenzubringen. Die Bewunderung, die sich in solchen Berichten ausdrückte, übertrug einen Rest des mittlerweile verpönten Geniekults um Künstler in die Sphäre des Kuratorentums. Wenn HUO jetzt Ernst macht und seine Flugscham in weitgehenden Flugverzicht verwandelt, hat er tatsächlich Bewunderung verdient. Dann ist er wieder ein Igel, der schon da ist, wo viele Hasen noch hinwollen.