"Ein Ohrring im rechten Ohrläppchen kann andeuten, dass der Träger bei sexuellen Aktivitäten gern die passive Rolle übernimmt", steht neben dem Porträt eines Mannes im Halbprofil mit Schnauzbart und Ohrstecker. In derselben nüchternen Sprache wird weiter darauf hingewiesen, dass dies aus verschiedenen Gründen kein hundertprozentiges Kennzeichen sei, weder für sexuelle Vorlieben noch für sexuelle Orientierung.
Ein anderes Bild der Serie erklärt die Bedeutung des Tragens von farbigen Stofftüchern in Gesäßtaschen: Der "Hanky Code", eine Geheimsprache, die mittels Accessoires die Präferenzen beim Sex mitteilt, wird hier erläutert wie ein Flaggen-Alphabet. Blaues Tuch, linke Tasche: Der Träger nimmt gerne den aktiven Part ein. Rotes Tuch, rechte Tasche: Der Träger führt gerne extreme Aktionen aus und nimmt dabei den passiven Part ein.
Hal Fischer, Künstler, Kurator und Kritiker, hat seine Erfahrungen und Beobachtungen im Viertel Haight-Ashbury im San Francisco der 70er-Jahre in Konzeptkunst umgesetzt. Gewissenhaft wie ein Archivar fächerte er den ganzen Katalog des damaligen schwulen Lebens auf. Seine berühmteste Serie: "Gay Semiotics" ist geschult an den Text-Bild-Arbeiten Joseph Kosuths, am Strukturalismus von Roland Barthes und Claude Lévi-Strauss.
Katalog des Begehrens
"Gay Semiotics" kommt wie Lehrmaterial zum Thema "Homosexuelle identifizieren" daher: sachliche Beschreibung, exemplarische Schwarz-Weiß-Fotografie. Der Kontext "Schwule Ästhetik der 70er" ist eindeutig da, aber wer kann das Klima von damals mit Bestimmtheit definieren? Wozu identifizieren? Aus heutiger Sicht ist von „typischen Zuschreibungen“ immer Abstand zu nehmen, sind sie doch meistens zum Nachteil der Abgebildeten. Damals hatten die Lehrtafeln auch den Charakter einer Selbstbestimmung.
Ist die Entschlüsselungshilfe der Symbole der schwulen Gemeinschaft als Angebot an die restliche Gesellschaft gemeint? Oder eine Persiflage auf den Strukturalismus? Ist Selbstironie dabei? Hal Fischers Katalog des Begehrens zeigt die Modelle nicht selten mit Schalk im Blick. Diese Selbst-Identifizierung und Selbstüberzeichnung war 1977 im liberalsten Teil der damaligen Welt vielleicht auch ein großer Spaß. Nehmen wir den "Jock": Erkennbar an glänzenden kurzen Turnhosen, weißen Tennissocken und Adidas-Turnschuhen. Oder den "Geschäftsmann", der als gut gekleideter Großstadtbewohner mit erhobenem Kinn seinen Platz in der besseren Gesellschaft offen einfordert.
Hal Fischers Blick von außen auf die eigene Community denkt beides mit: die grobmotorische Aufteilung in Archetypen und Klischees, wie Uneingeweihte und Nichtmitglieder sie vornehmen. (Es ist noch gar nicht so lange her, da wurden noch öffentlich-rechtlich bezahlte Witze in diesen Mustern gemacht.) Damals war das als Mainstream noch nicht möglich, heute wäre es nicht mehr möglich. Das große Vergnügen am Vertiefen und Übertreiben dieser Klischees ist spürbar. Auch der Spaß, der entstehen muss, wenn es um etwas Paradoxes wie das Kategorisieren von Lust geht.
Insgesamt 26 Galerien zeigen in der "Feature"-Sektion der Art basel bis zum 16. Juni kuratierte Einzel- oder Doppelausstellungen.
Hal Fischer wird präsentiert von der Galerie Project Native Informant