Wer denkt, der äußerste Norden der Erde bestehe ausschließlich aus endlosen weißen Weiten, irrt sich. Auf der Suche nach menschlichen Spuren reiste der Tiroler Fotograf Gregor Sailer fünf Jahre lang mit einer analogen Kamera durch die Anrainerstaaten der Arktis und fotografierte das, was man nicht unbedingt erwartet: Militärbasen, Industrie- und Verwertungsanlagen, Funk- und Satellitenstationen sowie Forschungsinfrastruktur. Mit diesen Motiven macht der Fotograf auf die politischen Spannungen aufmerksam, die sich derzeit in der Arktis aufbauen. Das Fortschreiten des Klimawandels lässt das Meereis immer weiter schmelzen und macht die Region und ihre Rohstoffe zu einem Schauplatz wirtschaftlicher Interessen.
Gregor Sailers Projekt "The Polar Silk Road" ist als Bildband erschienen und ab Samstag, 14. Januar, in der Alfred Ehrhardt Stiftung in Berlin zu sehen. Wir haben vorab mit ihm gesprochen.
Gregor Sailer, warum beschäftigen Sie sich eigentlich mit der Arktis?
Ich bin immer auf der Suche nach gesellschaftsrelevanten Themen, die das Potenzial haben, eine neue spannende Position zu schaffen. Und das ist natürlich ein sehr aktuelles Thema, das uns alle betrifft, auch wenn es geografisch weit weg ist. Je mehr die Diskussion um die Klimaerhitzung zunimmt, je mehr die ganzen Auswirkungen bei uns direkt vor der Haustür spürbar werden, desto mehr wird das Thema auch in den Fokus gerückt. In der Arktis, auch in der Antarktis, das darf man nicht vergessen, passiert das in einem sehr viel schnelleren Tempo. Es geht mir aber auch darum, die Menschen zu informieren.
Inwiefern?
Ich habe festgestellt, dass die meisten Leute im Detail nicht wirklich viel darüber wissen. Viele können nicht mal unterscheiden zwischen Arktis und Antarktis, ob Nord- oder Südpol. Auch ist die Medienberichterstattung über die Arktis hier sehr westlich geprägt. In Russland oder auch China herrscht eine ganz andere Sicht der Dinge. Die militärischen Aufrüstungen in der Arktis und die territorialen Spannungen, die vorherrschen, werden dort eher abgeschwächt dargestellt. Meine Zielsetzung war, das Thema, das geopolitisch sehr komplex ist, soweit zu übersetzen, dass es für Außenstehende nachvollziehbar wird und beide Positionen beleuchtet. Nicht nur inhaltlich, sondern auch visuell.
Manche befürchten in der Arktis eine militärische Auseinandersetzung um die Bodenschätze. Wie schätzen Sie diese Situation ein?
Das ist schwer zu sagen. Fakt ist aber, dass eine massive Aufrüstung stattgefunden hat und weiter stattfindet. Je weiter sich das Eis zurückzieht, desto mehr Rohstoffquellen werden frei und desto größer ist das Interesse auch an fossilen Energiequellen. Meines Erachtens werden die Spannungen weiter zunehmen, weil nicht nur die arktischen Anrainerstaaten mitmischen wollen, sondern auch Nationen wie China, das kein direkter Anrainerstaat ist. China erkauft sich den Zugang über Investitionen in Infrastrukturprojekte oder erwirbt beispielsweise Förderlizenzen seltener Erden auf Grönland.
Ihr Projekt heißt "The Polar Silk Road". Was steckt hinter diesem Titel?
Der Begriff "The Polar Silk Road" ist erstmals 2018 im chinesischen "Arctic White Paper" erwähnt worden und beschreibt die chinesische Arktispolitik für die nächsten Jahrzehnte. China geht davon aus, dass diese direkte Nordpolroute, die Transpolarroute, bis spätestens 2050 ganzjährig eisfrei, das heißt auch ohne Eisbrecher befahrbar sein wird. Diese Route ist um einiges kürzer als die Suezkanal-Route, das heißt zeitsparender und günstiger. Ich habe den Titel gewählt, um den Mythos der Seidenstraße, des Handelswegs, zu thematisieren und auf die Großmacht China anzuspielen, die meines Erachtens in Zukunft eine noch größere Rolle in der Arktis spielen wird. Gleichzeitig wurde dieser Begriff auch politisch verwendet, was ebenfalls für die Wahl entscheidend war. Außerdem verweist er auf die Verortung des Projekts.
Sie waren auch in militärischen Sperrgebieten in der Arktis unterwegs.
Für mein Projekt habe ich mit verschiedenen Streitkräften zusammengearbeitet. Zum Beispiel mit der kanadischen Luftwaffe. Vor einem Jahr war ich in der Finnmark an der russischen Grenze. Da habe ich Patrouillen der norwegischen Streitkräfte begleitet, um die nördlichsten europäischen Außenposten, die auch die Nato-Außengrenze markieren, zu dokumentieren. Die norwegischen Soldaten haben mir berichtet, dass es keinerlei Austausch mehr mit den russischen Streitkräften gibt, was in der jüngeren Vergangenheit noch der Fall war. Es gibt regelmäßig Truppenübungen der Nato und der Russen, wobei sich beide Seiten Verletzungen des eigenen Luftraums vorwerfen. Im März letzten Jahres erhielt ich schließlich nach über vier Jahren die Zutritts- sowie Fotogenehmigung für einen unterirdischen U-Boot-Bunker der Nato in Norwegen. Für die Dokumentation einer riesigen Radaranlage, eines Raketenabwehrsystems, die die europäische Nordhalbkugel beziehungsweise den Orbit permanent überwacht, habe ich zudem mit der Royal Air Force kooperiert.
Wie gefährlich war es dort für Sie?
Grundsätzlich ist es in den Sperrgebieten, in denen ich bisher war, immer auch gefährlich. Ich war militärischer Willkür ausgesetzt, arbeitete in Schussweite des Gegenübers oder bewegte mich durch Minenfelder. Ich hatte auch schon Probleme mit Geheimdiensten. Bei dem Arktisprojekt war es weniger gefährlich, weil es dort keine verminten Gebiete gibt. Hier stellten mich mehr die Unberechenbarkeit des Klimas, die sich schnell ändernden Wetterverhältnisse wie etwa extrem niedrige Temperaturen, Stürme oder das White-out, vor große Herausforderungen. Und nicht zuletzt auch die Wildnis mit Eisbären, Wölfen und Grizzlies.
Sind Sie allein gereist?
Bis auf eine Norwegenreise war ich immer allein. Einerseits aus Kostengründen, weil ich die ganze Projekt-Realisierung selbst finanziere. Ein anderer Grund ist, dass die Genehmigungen für die Sperrgebiete oder auch der Sitzplatz auf Spezialflügen oft nur für eine Person erteilt werden. Was das Arbeiten vor Ort betrifft, hätte ich mir häufig mehr Assistenz gewünscht, allein schon wegen des Equipments, das um die 30 Kilo schwer ist. Aber auch das Arbeiten bei extremen Temperaturen, zum Beispiel bei -55 Grad Celsius in Kanada, das geht an die Substanz. Du musst mental sehr stabil sein und eine gute Kondition haben. Stürme, Tiefschnee, die permanente Gefahr von Erfrierungen oder einer vereisten Lunge ziehen Energie.
Gab es Momente, in denen Sie das Projekt abbrechen wollten?
Die Einsamkeit schlägt schon aufs Gemüt. Und auch der Druck im Vorfeld, wenn man Arbeit, Zeit und Geld investiert hat und immer das Risiko mitschwingt, es wegen des Wetters nicht zum Zielort zu schaffen. Ich war oft am Rande des Scheiterns, aber auch das gehört dazu. Von militärischer Seite wurde viel geblockt, und ich bin permanent gegen Mauern gelaufen. Ich war sehr stark abhängig von der politischen Grundstimmung in den jeweiligen Regionen und natürlich letztendlich von den Zutritts- und Fotogenehmigungen. Aber ich war nie kurz davor, alles tatsächlich hinzuwerfen. Da ist auch immer ein starker innerer Antrieb, der mich dazu bringt, weiterzumachen.
Warum haben Sie sich dazu entschieden Architektur abzubilden? Sie hätten ja auch Menschen porträtieren können, die dort leben.
Es ist eine persönliche Herangehensweise, eine ganz individuelle Interessenshaltung, dass mich mehr die Spuren des Menschen im Bild interessieren als das Abbild des Menschen selbst. Das macht das Ganze nicht einfacher. In diesen Breitengraden existiert sehr wenig Architektur. Es war Teil meines Konzepts, die Objekte in ihrer endlosen Umgebung zu zeigen, um diesen surrealen Charakter menschlichen Einwirkens in diesen Gebieten zu verdeutlichen.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Objekte ausgewählt?
Ziel war, alle arktischen Anrainerstaaten zu inkludieren, letzten Endes war die finale Auswahl aber abhängig von den Genehmigungen, die vor Ort erteilt wurden. Generell aber war es mir wichtig, dass die Objekte eine Symbolrolle spielen, dass sie stark genug sind, den Inhalt zu transportieren. Das Objekt selbst muss aber auch eine gewisse Ästhetik in sich tragen und im Kontext der gegebenen Landschaft funktionieren. Vor Ort bewege ich mich zuerst ohne Kamera durch den Raum, um zu entscheiden, welche Aspekte wesentlich sind, um ein Porträt erstellen zu können. Erst dann konzentriere ich mich auf die Komposition.
Ist das Ergebnis für Sie künstlerisch oder dokumentarisch?
Das finale Ergebnis ist für mich künstlerisch. Auch wenn die Herangehensweise, zum Beispiel die Recherche, Züge von investigativem Journalismus hat und der dokumentarfotografische Ansatz erkennbar ist, habe ich das Endresultat immer im Kunstkontext platziert. Die Bildästhetik ist mir genauso wichtig wie die inhaltliche Ebene. Ich selbst würde mich als Ästhet bezeichnen, weshalb ein gewisser Perfektionismus bezüglich der Komposition durchaus mitschwingt. Ich arbeite meistens mit diffusem Licht, ohne Schatten und Reflexion. Die Kameratechnik, das statische und langsame Arbeiten, führt zu einer ruhigen Bildsprache. Das ist mir sehr wichtig. Ich suche nach einer möglichst großen Reduktion im Bild, um die Informationen so kompakt wie möglich transportieren zu können. Ich glaube, dass die Menschen zwischen den Bildern, die täglich auf uns einprasseln auch nach einer gewissen Ruhe suchen.
Was sagen Sie rückblickend: Hat sich dieser ganze Aufwand gelohnt?
Ja, unbedingt. Auch wenn es die Pandemie nicht leichter gemacht hat, im Gegenteil. Reisen waren nicht mehr möglich, ich musste Alternativen entwickeln. Dennoch konnte ich das Projekt glücklicherweise mit dem gewünschten und notwendigen Volumen abschließen. Mich reizen unbekannten Territorien, Orte, die die meisten Menschen nie zuvor gesehen haben. Meine Hauptaufgabe als Künstler oder Fotograf sehe ich auch darin, Zugänge dorthin zu ermöglichen. Diesen Anspruch sehe ich in diesem Projekt verwirklicht.