Gregor Hildebrandt in Berlin

Leise segeln meine Lieder

Der Künstler Gregor Hildebrandt bringt mit seinen Arbeiten das Mies van der Rohe Haus in Berlin zum Klingen. Dort thematisiert er Musik und Sound, ohne dass die Werke einen Mucks machen

Träumen Sie auch gerade jede Nacht von San Pedro? "The sun would set so high", wissen wir von Madonna; und weil die von ihr besungene "La Isla Bonita" gar nicht wirklich existiert, weiß das Inselparadies nichts von Kälte, Corona, Covidiotie. "I want to be where the sun warms the sky". Exakt.

Gleich zweimal ist Madonnas Sommerhit von 1987 in Gregor Hildebrandts Soloschau im Berliner Mies von der Rohe Haus – nicht zu hören, aber zu sehen. Der Berliner Künstler appliziert bespielte Tonbänder auf Leinwände. Auf der Streifenstruktur der unterschiedlich großen Formate erscheinen zusätzlich Pinselgesten, die an fernöstliche Kalligrafien oder Malerei des Informel erinnern.

"Im Sturz durch Raum und Zeit" lautet der Ausstellungstitel. Das ist erstens eine Zeile aus einem Song von Nena, lässt zweitens aber auch die großräumige Geste anklingen, mit der Hildebrandt seine Werke nicht nur im ehemaligen Landhaus Lemke in Berlin-Alt-Hohenschönhausen zeigt (der letzten Architektur Ludwig Mies van der Rohes im Vorkriegsdeutschland), sondern mit der Kunst auch den Garten und sogar den angrenzenden Obersee bespielt.

Die Werke wirken wie freigelassen

Weil der 1974 in Bad Homburg geborene Künstler den Außenraum konzeptuell mit einbezieht, wirken die beiden gleich dimensionierten, rechtwinklig aneinander stehenden Gebäudeflügel wie aufgeklappt – und die Werke im Garten wie freigelassen. Eine über zwei Meter hohe Schachfigur aus Bronze steht im Gras. Ein Bauer, der dem Schachbrett entflohen ist.

In den Innenräumen ist unübersehbar, dass für Hildebrandt die Analog-Ära noch nicht vergangen ist. Aus zersägten weißen Vinylschallplatten ist das Intarsienbild "Keramik" zusammengesetzt, das tatsächlich an Scherben erinnert und somit doppelt Sound thematisiert, obschon das Werk keinen Mucks macht.

Die schon genannten Magnetbandbilder gehen auf die Mixtapes auf Musikkassetten zurück, mit denen eine noch nicht durchdigitalisierte Jugend noch vor 20, 25 Jahren den Freundeskreis beschenkte. Auf ein Mixtape aus Lieblingstiteln war sozusagen die individuelle Persönlichkeit des Urhebers draufmagnetisiert.

Ein ironischer Reflex auf die alte Ordnung

Mit einem Stück der Einstürzenden Neubauten (lasst das nicht Mies van der Rohe hören!) entdeckte Hildebrandt Ende der 1990er, dass man Tonbänder – später übrigens auch Videobänder – streifenweise in die Fläche bringen kann. Neben den Magnetbändern kommen noch Klebefilm und Fixativspray zum Einsatz, die oben beschriebenen Kalligrafien entstehen durch Vermalen des noch feuchten Fixativs mit einem Pinsel. Dessen Spuren sind sichtbar, weil die Magnetschicht von Tonbändern an Klebefilm plus Fixativ nicht haftet. Ohnehin bleibt das Kunststoff-Trägerband bei diesem Quasi-Druckverfahren bestehen – so erhält Hildebrandt aus einem Arbeitsgang zwei Bilder: ein Positiv und ein (dunkleres) Negativ. Die Paare nennt der Künstler "Rip Off Couples".

Im für das Ehepaar Lemke in den frühen 1930ern erbauten Haus zeigt sich eine kulturelle Differenz der Geschlechter, die heute im Schwinden begriffen ist. Der Flügel mit der Küche ist weiblich, jener mit dem Arbeitszimmer eher männlich konnotiert. Hildebrandt nimmt diese Polarität auf, indem er hier "Positive" und "Negative" nicht durcheinander hängt, sondern in gleichen Gruppen pro Hausflügel verteilt. Ein ironischer Reflex auf die alte Ordnung.

Im ehemaligen Schlafzimmer hängt das "positive" Bild "Das Raumschiff", dessen Maße dem Ehebett des Künstlerpaares Alicja Kwade und Gregor Hildebrandt entsprechen. Ihr kleiner Sohn ist durch die Bilderserie "Horatio Herzchen" repräsentiert. Auch hier stammt das Material aus Musikkassetten: Auf weißem Grund ist jeweils ein Raster aus roten, rechtwinklig aufeinander geklebten Vorspannbandstückchen verteilt.

Soundtrack für derzeitige Alpträume

In Hildebrandts Bildwerken stecken Zuneigung und Passion. Abstraktion geht bei ihm nie mit Strenge oder Kühle einher. An der frischen Luft sind neben der Schachfigur, die in einer bayerischen Glockengießerei produziert wurde und "Der Klöppel" heißt, noch das Bild "Schach und Rosen in Stein" zu sehen – als Lasergravur auf Granit an die Hausmauer gedübelt, das Denkmalamt hat’s gnädig erlaubt –, außerdem eine Arbeit im Obersee, die leider nur noch rudimentär zu sehen ist. Bloß ein Mast auf einem schwimmenden Ponton erinnert an das "Segel", das vor fünf Jahren in einer Segeltuchmanufaktur aus verschiedenen Audiotapes gewebt wurde.

Bei der Ausstellungseröffnung Anfang Oktober wurde das swingende Segel kurz gehisst und dann wieder eingeholt. Es ist Teil einer Performance, die Hildebrandt 2017 auf dem Mittelmeer aufführte. Der Wind trieb ihn im Segelboot von Zypern nach Israel. Am Mast flatterte unter anderem "Love among the Sailors" von Laurie Anderson. Ein elegisches Anti-Isla-Bonita-Lied, vielleicht sogar der Soundtrack für derzeitige Alpträume:

There is a hot wind blowing
it moves across the oceans and into every port.
A plague. A black plague. There's danger everywhere
And you've been sailing.
And you're all alone on an island now tuning in.
Did you think this was the way
Your world would end?