Dieser Text ist zuerst beim "Philosophie Magazin" erschienen
Vor gar nicht allzu langer Zeit gab es hierzulande noch das merkwürdige Brauchtum, dass Familienmitglieder oder Freunde sich, gerade an Feiertagen, zu Hause trafen und ein gemeinsames Essen zu sich nahmen. Man nannte das etwas altmodisch "Mahl", nach dem althochdeutschen Wort für "Zeitpunkt", denn meistens hatte man sich über einen Termin verständigt; umsichtige Gastgeber erkundigten sich bei ihren Gästen sogar vorher nach kulinarischen Vorlieben, Unverträglichkeiten, Ernährungstabus und passten das Menü entsprechend an. Die Idee war jedenfalls, dass alle mehr oder weniger das Gleiche aßen, auch wenn der eine vielleicht auf das Fleisch verzichtete und die andere auf den Nachtisch. Kaum zu glauben, liebe Kinder, aber so war’s.
Diese Zeiten sind, zumindest wenn man dem aktuellen Werbeplakat eines erfolgreichen Start-Ups und Lebensmittel-Lieferdienstes folgen mag, vorbei. Die Gäste kommen nun offenbar unangekündigt, sonst würde das Kameraauge nicht so erschrocken durch den Türspion starren. Sie haben zwar Geschenke mitgebracht, vor allem aber auch ein Bündel unvereinbarer kulinarischer Forderungen. Der Erste ernährt sich vegan; die Zweite verzichtet auf Kohlenhydrate; der Dritte hält Paläo-Diät, nimmt also nur Nahrungsmittel zu sich, die mutmaßlich bereits in der Altsteinzeit verfügbar waren. Die Vierte schließlich braucht einfach nur schnell irgendetwas zu Futtern, weil ihr der Hunger schon auf Magen und Gemüt schlägt (hungry + angry = hangry). Sie dürfte am einfachsten zufrieden zu stellen sein, zumindest wenn der arme Fahrradkurier es schafft, mit all den Essensbestellungen innerhalb der versprochenen zehn Minuten da zu sein.
Interessant an dem hier entworfenen Diät-Tableau ist, dass keine der Personen irgendwelche religiös grundierten Ernährungsregeln zu befolgen scheint: Niemand isst koscher oder halal — was gerade in einer Großstadt, wo solche Lieferdienste ansässig sind, ja die sehr viel näherliegende Variante wäre. Stattdessen geht es um rein individuelle, moralisch (vegan), physiologisch (low-carb) oder schlicht esoterisch (Essen wie die Steinzeitmenschen? echt jetzt?) begründete Entscheidungen, die sich nur bedingt auf größere Gruppen übertragen lassen. Die vielbeschworene "Gesellschaft der Singularitäten" (Andreas Reckwitz) — hier feiert sie fröhliche Urständ.
Die Konflikte fangen an, bevor die Gäste in der Wohnung sind
Aber: Sie feiert eben nicht gemeinsam. Das Essen und Trinken, schreibt der Soziologe Georg Simmel, sei ohnehin seinem Wesen nach zutiefst egoistisch, da es sich nicht teilen lasse: "was ich sehe, kann ich andere wissen lassen, (…) was ich rede, können Hunderte hören — aber was der einzelne ißt, kann unter keinen Umständen ein anderer essen." Die gemeinsam eingenommene Mahlzeit soll dieser Vereinzelung nun entgegenwirken: Sie schafft einen gesellschaftlichen Rahmen, einen Gesprächsanlass, einen Gegenpol zu dieser Selbstsucht. "Personen, die keinerlei spezielles Interesse teilen", so Simmel, "können sich bei dem gemeinsamen Mahle finden". Noch ein bisschen von dem Rotkohl? Ich platze gleich. Klöße, anyone? Nein, Danke. Magst Du ganz bestimmt keine Gans? Mama, ich bin doch schon seit 20 Jahren Vegetarier.
Zugegeben: Auch bei so manchem Weihnachtsmahl haben sich schon Familien zerstritten, Paare getrennt, Freundschaften aufgelöst. Aber zumindest haben sie sich zuvor noch gemeinsam zu Tisch gesetzt. In der hyperindividualisierten Gegenwart à la Gorillas fangen die Konflikte schon an, bevor die Gäste in der Wohnung sind. Daher der gute Rat, liebe Kinder: Wenn nächstes Mal vier vorwurfsvoll dreinblickende Menschen vor eurer Tür stehen und erwarten, dass ihr sofort per Lieferdienst ihre Diätwünsche erfüllt — lasst sie einfach nicht rein.