Vor 54 Jahren erklärte das mittlerweile legendäre Londoner Künstlerpaar Gilbert & George sich selbst zur Skulptur und machte sich damit zum Zentrum ihrer Kunst. In den folgenden Jahrzehnten lenkte das Duo die Blicke immer wieder durch ihren anti-elitären, provokativen Ansatz auf sich. Nun eröffnen sie ihr eigenes Ausstellungszentrum in London. In maßgeschneiderten, aufeinander abgestimmten Tweed-Anzügen heißen Gilbert Prousch und George Passmore die Öffentlichkeit willkommen.
Bereits in den 1960er-Jahren zogen die beiden nach Spitalfields in den Londoner Osten. Damals war dies ein heruntergekommener Stadtteil mit überfüllten und schlecht instandgehaltenen Wohnungen und hohen Armuts- und Arbeitslosenraten. Heute wimmelt es dort von hippen Cafés, Streetart, überteuerten Vintage-Läden und unbezahlbaren Wohnungen.
In diesem Stadtteil, in dem die beiden seit einem halben Jahrhundert leben und arbeiten und dem sie sich so verbunden fühlen, liegt nun auch das Gilbert & George Centre. Das Gebäude in der Heneage Street – eine 200 Jahre alte ehemalige Brauerei mit malerischem Innenhof – haben die Künstler in Zusammenarbeit mit Sirs Architects renoviert und umgebaut. Mit ein- bis zweimal jährlich wechselnden Ausstellungen machen sie hier nun, getreu ihrem Motto "Kunst für alle", ihre Arbeiten kostenlos zugänglich.
Eine konservative Insel im Linksliberalismus der Kunst
Ein von dem Duo selbst entworfenes, grünes, handgeschmiedetes Tor, bildet den Besuchereingang auf das Grundstück. Kitschig und kunstvoll zugleich schreibt das Eisenwerk "G & G" in großen, schwungvollen grünen Buchstaben und erinnert an eine wappenhafte Grafik.
In derselben Schrift, nur kleiner und golden, dekorieren außerdem die Initialen von König Charles III. das Tor – eine subtile Anspielung auf die Reizthemen der letzten Jahrzehnte, an denen sich das Künstlerduo abgearbeitet hat. Seit Jahren kritisieren sie den standardmäßigen Linksliberalismus der Kunstwelt und haben sich ihre eigene Position des Thatcherismus, der Royalisten und der Reaktionären erarbeitet. Das Leben von Gilbert und George ist eine Performance, und Kontroversen sind ein Teil davon.
Vom gepflasterten Innenhof gelangt man in die drei großzügigen, schlichten Ausstellungsräume, die sich auf drei Ebenen verteilen. Mit 25 Werken der Serie "Paradisical Pictures", lädt die Eröffnungsausstellung Besucher in exzentrische, psychedelische Bildwelten ein. Die großformatigen fotografischen Pop-Montagen von 2019 waren vor zwei Jahren bereits bei Sprüth Magers in Berlin zu sehen und sind nun zum ersten Mal in London ausgestellt.
Üppig und grotesk, himmlisch und höllisch
Die Werke zeigen Gilbert & George inmitten grell gefärbter organischer Formen. Die Blumen, Blätter und Früchte wirken sowohl üppig als auch grotesk, himmlisch und höllisch. In manchen Bildern verwandeln sich die Köpfe des Duos in Datteln, Steine oder Magnolien. Das ist ein Paradies ganz im Sinne der Künstler, gefüllt mit Pflanzen, Bildern von sich selbst und ihrem markanten schelmischen Humor, der sich auch in den Titeln der Werke widerspiegelt (eins trägt den Namen "Bettnässen").
Nichtsdestotrotz geht das Duo mit dieser Serie für die Eröffnung auf Nummer sicher. Die großen, farbenfrohen Arbeiten haben Anziehungskraft und sind bei weitem weniger konfrontativ als frühere Werke, die mit Nacktheit, Exkrementen, Drogen und einer Vielzahl von Schimpfwörtern spielen.
Inspirationen für die neuesten Werke fanden Gilbert und George, wie so oft, auf ihren Spaziergängen durch die Nachbarschaft. Sie betonen in Interviews immer wieder, dass sich das Kernthema ihrer Kunst, die moderne conditio humana, auf den Straßen Ost-Londons widerspiegelt.
Unterstützung von der Blue-Chip-Galerie
Mit dem Ausstellungszentrum wollen sie der Gegend etwas zurückgeben und sich in Spitalfields verewigen, gemeinsam mit ihrem Image als exzentrische Außenseiter im Kulturbetrieb: konservativ und gleichzeitig konfrontativ.
Inwieweit Gilbert & George im Kulturbetrieb noch als Underdogs wahrgenommen werden können, bleibt jedoch fragwürdig: Nach einer großen Retrospektive in der Tate Modern 2007 und zahlreichen internationalen Ausstellungen gehören die beiden zu den bekanntesten Vertretern der Gegenwartskunst, folgerichtig herrscht am Eröffnungstag großer Andrang. Die Blue-Chip-Galerie White Cube rührt zusätzlich die Medientrommel und zeigt mit einer Solo-Show pünktlich zur Einweihung des Gilbert & George Centre Arbeiten der "Außenseiter" in einer der größten Galerien Londons.