Dafür, dass Gerhard Richter ein Künstler von kaum zu überschätzendem Einfluss ist, dessen Schaffen mehr als 60 Jahre umspannt, war er bemerkenswert wenig in institutionellen US-Ausstellungen präsent. Die letzte große Retrospektive hatte der Kölner in New York im Jahr 2002, als das Museum of Modern Art "40 Jahre Malerei" feierte. Nun hat sich das Metropolitan Museum in Manhattan an das schier unmögliche Projekt gewagt, die komplizierte und facettenreiche Geschichte von Richters Arbeit zwischen 1957 und 2017 zu erzählen: Seit Anfang dieser Woche sind im Met Breuer, dem Ableger des Met für zeitgenössische Kunst, unter dem Titel "Painting After All" 100 Werke Richters auf zwei Etagen zu sehen.
Es ist eine interessante Wahl für das altehrwürdige Haus, das in dem markanten Bauhaus-Bau an der Madison Avenue seit vier Jahren versucht, sich mit innovativen Beiträgen in die aktuellen Kunst-Diskurse einzumischen. Dort war viel Erfrischendes zu sehen, Ausstellungen zu Kerry James Marshall und Lygia Pape etwa oder thematische Schauen wie die Eröffnungsausstellung "Unfinished Art" oder der Show zu den "Grenzen der Vernunft".
In diesem Sommer muss das Met den Breuer-Bau in der Upper East Side aus Kostengründen wieder aufgeben und so ist Richter das Ausrufezeichen hinter diesem Experiment. Es ist eine vergleichsweise sichere Nummer, denn bei dem Star-Status, den Richter auch in den USA genießt, wird man sich um Besucherzahlen kaum sorgen müssen.
Richter als Meister der unauflösbaren Ambivalenz
Met-Direktor Max Hollein begründet die Wahl derweil mit der Universalität des heute 88-Jährigen, der sich Zeit seines Lebens mit den großen Themen der modernen Kunst auseinander gesetzt hat: den Grenzen der Kunst und der Darstellbarkeit etwa oder der Erinnerung. So bilden zwei Werke den Anfangs- und den Endpunkt der Ausstellung, die sich ganz direkt diesen Fragen zuwenden. Wenn man im dritten Stock des Met Breuer aus dem Aufzug kommt, wird man neben einer der Spiegel-Arbeiten Richters von dem Gemälde "September" begrüßt.
Es ist eine Arbeit aus dem Jahr 2005, in dem Richter sich mit dem 11. September 2001 beschäftigt und der Undurchdringlichkeit der Bilder, die an jenem Tag um die Welt gingen. Wie Richters Arbeiten zur deutschen Vergangenheit ist auch dieses Bild Widerstand gegen ein vermeintlich einfaches Verstehen. Es zeigt den Ursprung der Welt, in der wir heute leben, als Quelle von Fragen, auf die es keine Antworten geben kann. So setzt die Eröffnung der Ausstellung den Ton für die Präsentation von Richter als Meister der unauflösbaren Ambivalenz. Richters Ouevre erscheint als ein unabschließbares Sich-Abmühen mit der Unzulänglichkeit der Kunst.
Birkenau-Zyklus mit Original-Fotos
100 Werke später mündet die New Yorker Ausstellung in einen Raum, der ausschließlich dem Birkenau-Zyklus von 2014 gewidmet ist. Nach den Kontroversen um diese Arbeit in Deutschland ist auf die Präsentation allergrößte Sorgfalt verwendet worden. Richter und das Kuratorenteam unter Leitung von Benjamin Buchloh hat gleich mehrere Sicherheitsstufen eingebaut, um erneuten Vorwürfen der Spektakularisierung des Holocaust zu entgehen.
So werden die großflächigen Wandtafeln, auf denen Richter die Originalfotografien aus dem Konzentrationslager Schicht um Schicht in Schwarz- und Rottönen übermalt und verwischt hat, den digitalisierten Drucken derselben Bilder gegenüber gehängt. Richter hatte diesen Trick, den Status sowohl des Originals als auch der Kopie in Frage zu stellen, bereits angewandt, als er den Zyklus 2015 zum ersten Mal in Dresden zeigte. Die Installation in New York fügt jedoch eine weitere Schicht der Komplexität hinzu. Man wagt es, die Original-Fotos zu zeigen.
Die vierte Wand des Raumes gehört wiederrum einem grauen Spiegel – einer Glasarbeit Richters aus dem Jahr 2018. Der Spiegel setzt den Betrachter selbst in das Zentrum der Installation, die als Einheit erfahren wird. Thema des Werks wird somit das Betrachten selbst, die mühevolle Suche nach dem Signifikat von Richters Schaffen, dass sich, wie stets bei ihm, desto mehr verflüchtigt, je mehr man es zu fassen versucht.
Malerei als Leitmedium
Zwischen diesen beiden Polen zeigt die Ausstellung in großen Schritten die Entwicklungsstufen Richters, von den Familienbildern der 50er- und 60er-Jahre über seine Landschaften bis hin zu den großen abstrakten Tableaus, der vergangenen zehn Jahre.
Dabei wird, wie der Titel der Ausstellung "Painting After All" schon sagt, Richters lebenslange Erforschung der Malerei ins Zentrum gestellt. Es ist das Medium, auf das er immer wieder zurück kommt und das er an seine Grenzen getrieben hat, wie vielleicht kein anderer Künstler. Das ist vielleicht keine neue Erkenntnis über Gerhard Richter. Aber sie bei der Betrachtung seines Werkes in den Vordergrund zu stellen, ist gewiss das große Verdienst der New Yorker Retrospektive.