Gastbeitrag

Marcel Duchamps Pissoir ist von Marcel Duchamp

"Fountain", fotografiert von Alfred Stieglitz
Foto: Alfred Stieglitz, CC via Wikimedia Commons

"Fountain", fotografiert von Alfred Stieglitz

Seit Jahren wird spekuliert, dass Marcel Duchamps "Fountain" eigentlich von seiner Freundin Elsa von Freytag-Loringhoven geschaffen wurde. Dabei werden Fake News gegen Fakten ausgespielt. Eine Erwiderung von Duchamp-Experte Thomas Girst

Marina Abramović ist eine Satanistin, die Mona Lisa ist ein Mann, Albrecht Dürer war ein jüdischer Rebell und der englische Maler Walter Sickert war Jack the Ripper. Verschwörungstheorien in der Kultur verhalten sich zur faktenbasierten Kunstgeschichte wie "Pizzagate" zur tagtäglichen Politik in Washington. Fake News bleiben hängen, sind spannend und werden lanciert, um die Historie umzuschreiben oder Gegner zu beschädigen. 

So bezichtigen Glyn Thompson und Julian Spalding den Avantgardisten Marcel Duchamp der Lüge, des Betrugs und des Diebstahls. Nicht er habe 1917 ein handelsübliches Pissoir mit dem Pseudonym "R. Mutt" signiert und bei einer Ausstellung der Society of Independent Artists in New York eingereicht, sondern seine Künstlerkollegin Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven. So skurril, so bekannt. Gleichwohl geht es hier um viel. Denn immerhin handelt es sich bei dem mit "Fountain" betitelten Urinal um den Nukleus der Moderne, laut Umfrage der BBC das einflussreichste Kunstwerk des 20. Jahrhunderts. 

Aktuell ist die Zuschreibung an die Baroness indes nicht. Die Aussagen um ihre vermeintliche Rettung vor der kulturellen Aneignung Duchamps geistern bereits seit eineinhalb Jahrzehnten durch die Welt und wabern als "Clickbaiting" unermüdlich durch Social Media. Umso erstaunlicher, dass sich der Kunstkritiker und Autor Hanno Rauterberg den Behauptungen um die Zuschreibung von "Fountain" erst jetzt annimmt ("Wer war’s?", "Zeit" 3/2024) und die Diskussion dazu als neu bezeichnet. Als wägender Beobachter will er Indizien für die eine wie für die andere These versammeln und übersieht dabei, wie er Fake News gegen Fakten ausspielt. 

Was hat die Baroness mit alldem zu tun?

Doch der Reihe nach: Duchamp ist 1917 Mitglied des Komitees der Society of Independent Artists, deren Ausstellung unter dem Motto "No Jury, No Prizes" verspricht, wirklich jede Zusendung auszustellen. Wohl auch, um einen Skandal zu provozieren und dabei nicht als Autor entlarvt zu werden, sendet er unter dem Pseudonym "R. Mutt" ein Pissoir an seine Kollegen im Ausschuss. Es kommt zum Eklat. "Fountain" wird nicht gezeigt, einige Mitglieder der Society treten gemeinsam mit Duchamp zurück, der berühmte Fotograf Alfred Stieglitz lichtet das Porzellanobjekt in seiner Galerie ab, bevor sich dessen Spur verliert. 

Damit teilt es das Schicksal zahlreicher Ready-Mades von Duchamp: von ihm ab 1913 signierte Gebrauchsgegenstände, die wir einzig von alten Abbildungen her und in Museen nur noch als Repliken und Reproduktionen kennen. Auf dem Foto von Stieglitz ist links unten das Etikett deutlich lesbar, welches der Einsendung diente. Die Adresse verweist auf die Dadaistin und Autorin Louise Norton, von deren Wohnung aus Duchamp das Urinal eingereicht hatte, um bei der Scharade nicht selbst in Verdacht zu geraten. Und was hat die Baroness mit alldem zu tun? 

Nun, überhaupt nichts. Zwar schrieb Duchamp zu dieser Zeit an seine Schwester in Paris, eine seiner Freundinnen ("une des mes amies") habe das Pissoir eingereicht – wohlgemerkt eingereicht ("avait envoyé"), nicht gemacht ("avait fait") – gemeint sein muss damit aber Louise Norton. Duchamp wollte zu diesem Zeitpunkt eben auch seiner Schwester gegenüber nicht auffliegen. 

Bereits 1914 in den Notizen

Auch für Norton selbst ist alles glasklar. In einem späteren Interview erklärt sie, keinerlei Kenntnis von Elsa von Freytag-Loringhoven zu haben und berichtet zudem von der Affäre um "Fountain" bei vollem Zuspruch der Autorschaft an Duchamp. Letzterer hatte bereits 1914 in seinen Notizen ein Pissoir erwähnt, und seine komplexen Gedanken zu signierten, maschinell gefertigten Objekten finden sich bereits ein halbes Jahrzehnt vor der Ablehnung des Urinals als Ausstellungsstück. 

Thompson und Spalding halten dagegen. So sei das Alias "R. Mutt" aufzulösen in "Mutter" und "Armut", zwei deutsche Worte, die nur von der Baroness als "Easter Egg" so intendiert gewesen sein können. Dass Duchamp selbst Deutsch sprach, dass "R. Mutt" die Initialen mit dem Ready-Made teilt, dass der Schachspieler Duchamp "mutt“ (englisch ausgesprochen: "matt") aus dem Begriff "Schachmatt" kennen musste und selber zeitlebens als Erklärung für das Pseudonym den bekannten Comic "Mutt & Jeff" sowie den Urinalhersteller "J.L. Mott" anführte – all das findet keinerlei Berücksichtigung. 

Auch eignete sich Duchamp nicht erst Jahrzehnte später das vermeintliche Urinal der Baroness als eigentlicher Urheber an. Im Katalog der berühmten Ausstellung des Museum of Modern Art "Fantastic Art, Dada and Surrealism" erzählt ein unkompromittierbarer Georges Hugnet bereits Mitte der 30er-Jahre ausführlich die Geschichte von Duchamps "Fountain", ohne dass jemand Einspruch erhob. 

Dünne Vermutungen gegen harte Fakten

Warum auch? Bei Thompson und Spaldings versuchter Neuzuweisung steht eben nicht Aussage gegen Aussage sondern dünne Vermutungen gegen harte Fakten. So räumt Rauterberg schließlich selbst ein, "sehr wenig spricht für die Baroness als Fountain-Erfinderin". Aber die Geschichte um das Urinal ist eben kein "Wettbewerb der Unwahrscheinlichkeiten" und mitnichten ein vollends freies Spiel der Zuschreibungen. Vor allem war Duchamps "Fountain" nie eine "Heldengeschichte ohne jedes Fragezeichen", die nun erstmals angezweifelt werden darf. Die Fragezeichen hat Duchamp stets selbst zuhauf gestreut und am Helden (französisch "héros") hat den wortspielenden Kanon-Zerschmetterer stets nur der "Éros" interessiert. 

Viel spannender (und das ohne aus den Leitplanken einer faktenbasierten Wissenschaft sensationsheischend auszuscheren), wäre im Kontext der Exegese von "Fountain" etwas anderes gewesen: der Hinweis, dass John Cotton Dana, der Direktor des von New York nur einen Steinwurf entfernten Newark Museums schon 1915 drei Porzellan-Urinale ausstellte und ihnen im Begleittext die gleiche "Genialität und Könnerschaft" wie Ölgemälden zusprach. Ohne jeglichen Skandal. 

Und Duchamp und die Frauen? Der Künstlerin Beatrice Wood steckte er Geld zu, als er selbst wenig hatte, Florine Stettheimer richtete er nach deren Tod eine erste Retrospektive im Museum of Modern Art aus. Und bereits 1943 initiierte er für Peggy Guggenheims New Yorker Galerie die bahnbrechende Ausstellung "31 Women", die eben auch seine vergessene Bekannte Elsa von Freytag-Loringhoven gebührend würdigte. Er selbst ließ sich bereits 1920 von Man Ray in Frauenkleidung als sein weibliches Alter Ego Rrose Sélavy (ein Wortspiel mit "Éros, c’est la vie", deutsch: "Eros ist das Leben") ablichten. 

Der Baroness einen Bärendienst erweisen

Wer indes den kruden Theorien von Thompson und Spalding folgt, der diskreditiert nicht nur Duchamp und Louise Norton, sondern ebenso die Baroness selbst sowie die unermüdliche Arbeit der Kunsthistorikerin und Avantgarde Spezialistin Dawn Ades, die akademische Beiträge und Leserbriefe schreibt, wann immer man Freytag-Loringhoven die Autorschaft von "Fountain" zusprechen will. Erst im Juni vergangenen Jahres sah sie sich in der britischen Tageszeitung "The Guardian" bemüht, erneut die falschen Behauptungen ihrer Kollegen zurückzuweisen und gab zu bedenken, wie sehr man der Ausnahmekünstlerin und Dichterin schade, wenn man sich nur noch im Zusammenhang der Fehlzuschreibung des Urinals an sie erinnern sollte. 

So wichtig es ist, dem strafbar vernachlässigten und oft unter widrigsten Umständen erschaffenenen Werk von Künstlerinnen durch die Jahrhunderte hindurch endlich gerecht zu werden, und so sehr sich das für manche Männer wunderbar wohlig anfühlen mag, diesen Kampf mitzukämpfen, um sich dabei doch wieder einmal als wahre Gatekeeper zu generieren, so wohlfeil bleibt die fahrlässige Inthronisierung der Baroness als "Fountain"-Künstlerin. Der man damit eben nur einen Bärendienst erweist.

Rauterberg beendet seinen Beitrag mit dem Wunsch, "Elsa von Freytag-Loringoven eine große Retrospektive auszurichten". Dass Cecilia Alemani die Künstlerin 2022 im Rahmen ihrer Venedig-Biennale ausstellte, oder Daria Khans Schau "The Baroness" im Londoner Mimosa House im vergangenen Jahr bleibt dabei unerwähnt.