Mein Soziologiestudium hat mich zur Kunst gebracht. Vielleicht sollte ich genau damit beginnen, denn trotz meiner Affinität zu schwer verdaulichen Theorien habe ich den Weg der visuellen Medien gewählt – nicht als Flucht vor der Realität, sondern als bewusste Entscheidung für eine Praxis, die eine Funktion in der Gesellschaft erfüllt. Und mit einem Modell des Philosophen Jürgen Habermas lässt sich das ganz konkret darstellen.
Gerade jetzt, da rechte Parteien weltweit erstarken, während zugleich die Budgets für Kunst und Kultur zusammengestrichen werden, wird die Frage nach dieser Funktion wieder laut. Und wieder müssen wir Künstler sie verteidigen, als sei unser Beitrag zur Gesellschaft etwas Willkürliches, das nur in Zeiten des Wohlstands leistbar sei. Der Reflex, erst alles andere als notwendig zu betrachten und Kunst nur als einen nachrangigen Luxus zu akzeptieren, ist tief verankert. Als wäre sie bloß die dekorative Kirsche auf dem Kuchen einer Gesellschaft.
Dabei zeigt ein Blick in die Geschichte: Wenn autoritäre Regime erstarken, gehört die Freiheit der Kunst zu den ersten Dingen, die fallen. Die Bedeutung von Kunst für die Demokratie lässt sich erstaunlich präzise beschreiben – und zwar mit einem weniger bekannten Modell von Jürgen Habermas, das seit meinem Studium mein Selbstverständnis prägt: das Schleusenmodell.
Das Schleusenmodell: Wo die Kunst in der Demokratie steht
Darin beschreibt Habermas, wie gesellschaftliche Problemlagen (issues) – zunächst diffuse, periphere Phänomene – nach und nach in die politische Sphäre einsickern, bis sie als Gesetz oder policy verankert werden (siehe dazu Habermas' "Faktizität und Geltung", 1992). Heute würde man diese frühen gesellschaftlichen Regungen als vibes bezeichnen – und Künstler sind diejenigen, die sie zuerst wahrnehmen.
Wo stehen Kunstschaffende in diesem Modell? In der absoluten Peripherie. Dort, wo Probleme noch unklar, unfassbar und ungeformt sind, wo sie sich noch nicht in Schlagzeilen oder politischen Forderungen manifestiert haben. Hier setzt die Kunst an: Sie gibt Form, wo Sprache noch fehlt.
In diesen frühen Phasen gesellschaftlicher Umbrüche fungieren Künstler als eine Art seismografisches Frühwarnsystem. Sie bemerken Dinge, die noch niemand in Worte fassen kann. Bedeutet das, dass Kunst Politik machen muss? Nein. Aber sie stellt die Fragen, die später in Debatten münden. In einer Demokratie, die deliberativ – also durch offenen Diskurs – funktioniert, ist das nicht optional, sondern essenziell.
Der Künstler als blinder Schmetterlingsforscher
Die Rolle des Künstlers in diesem Prozess ist nicht die eines bloßen Beobachters oder gar eines Kommentators. Es ist auch nicht die Aufgabe von Künstlern, bereits bestehende Diskurse zu bebildern oder die Ästhetik politischer Forderungen zu illustrieren. Wenn Kunst nichts anderes tut, als bekannte Konflikte und Themen zu veranschaulichen, ist sie nichts weiter als Propaganda. Es ist eher so, als wären Künstler blinde Schmetterlingsforscher: Sie fangen Ideen, die noch niemand benennen kann.
Wir fassen nach etwas, das in der Luft liegt, aber noch keine greifbare Gestalt hat. Ein Gefühl, eine Unruhe, ein latentes gesellschaftliches Phänomen, das sich weder in Umfragen noch in Parteiprogrammen wiederfindet – noch nicht. Diese Art der Wahrnehmung, des Spürens und Fixierens ist die eigentliche Funktion der Kunst.
Erst später, wenn das Phänomen greifbarer wird, nehmen Journalisten, Wissenschaftler, Intellektuelle und politische Akteure den Faden auf. Die Kunst war bereits da – als Ersterkundung eines Raums, den andere erst später betreten.
Gatekeeping, Zukunftsblasen und die Ökonomisierung der Avantgarde
Ironischerweise wird genau diese avantgardistische Funktion der Kunst längst als Geschäftsmodell ausgenutzt – nur eben nicht von den Künstlern selbst. In der Kunstwelt wimmelt es von selbsternannten "Brückenbauern" – Beratern oder Strategen, die sich als Mittler zwischen Kunst und Kapital inszenieren und behaupten, Kunst könne die Zukunft vorhersagen.
Das sieht dann so aus: Unternehmen oder Einzelpersonen, häufig aus der Tech- oder Finanzbranche, schaffen Panels, Festivals und Workshops zu buzzword-lastigen, dringlich klingenden Themen wie "Visionen der Zukunft", "New Narratives" oder "Disruptive Creativity", laden Künstlerinnen, Schriftsteller und Designerinnen im Sinne des "Community buildings" ein und lassen sich und/oder ihre Klienten für Summen "inspirieren", die in der freien Szene utopisch erscheinen. Hier, so heißt es dann, sähe man die Welt von morgen.
Das Problem? Die Künstler dürfen auf der Bühne sitzen, während Investoren am Büfett Deals abschließen. Honorare? Zumeist Fehlanzeige, wenn überhaupt, gibt es exposure - Sichtbarkeit. Ihr kulturelles Kapital wird instrumentalisiert, um Unternehmen Innovationsvorsprünge zu verschaffen. Doch bezahlt werden in erster Linie die Veranstalter, nicht die künstlerischen Köpfe dahinter.
Kunst ist nur erwünscht, wenn sie sich verwerten lässt
"Community Building" - ein Schlagwort, das oft nur als Vorwand dient, um Kreativität in wirtschaftlichen Nutzen zu verwandeln, ohne sie angemessen zu entlohnen. Das Geschäftsmodell ist klar: Wer im kulturellen Diskurs frühzeitig Themen setzt, wird als relevanter Akteur sichtbar und kann dafür auch fantastische Preise abrufen. Doch während sich die Märkte an der Ästhetik der Avantgarde bedienen, kämpfen Künstler aktuell ums Überleben.
Was auf den ersten Blick nur wie ein ökonomisches Ungleichgewicht erscheint – Kunst als unbezahlte, aber prestigeträchtige Ressource für die Innovationsmaschinerie –, ist in Wahrheit Teil eines tiefergehenden Musters. Wenn Kunst auf den Markt reduziert wird, bleibt sie nur so lange erwünscht, wie sie sich verwerten lässt. Jene Künstler, die sich nicht in diese Logik fügen, werden aus dem Diskurs gedrängt. Das ist keine neue Entwicklung. Es ist ein bekanntes historisches Schema.
Beispiele zeigen, dass eine Demokratie, die Kunst marginalisiert, sich selbst schwächt. Diktaturen haben immer Angst vor Kunst. Warum? Weil sie Fragen stellt, bevor Systeme darauf Antworten haben. Ob unter Stalin, Pinochet oder im NS-Regime – zuerst trifft es die Kunst, dann die Meinungsfreiheit.
Warum die Kunst als erstes angegriffen wird
Die Nazis schufen mit der "Entarteten Kunst"-Ausstellung 1937 nicht nur eine propagandistische Diffamierung moderner Strömungen, sondern etablierten ein umfassendes System der Kontrolle und Lenkung kultureller Produktion. Die Ausstellung war nicht bloß eine einzelne Maßnahme zur Diskreditierung avantgardistischer Kunst – sie war Teil eines viel weitergehenden Projekts: der ideologischen Gleichschaltung aller Kulturinstitutionen.
Moderne Kunst wurde nicht etwa nur deshalb verbannt, weil sie formal oder ästhetisch nicht dem nationalsozialistischen Ideal entsprach, sondern weil sie eine Alternative zum offiziellen Weltbild darstellte. Sie verkörperte das Unkontrollierbare, das Uneindeutige, das Ambivalente – und genau das war der eigentliche Feind eines totalitären Systems. Wer Ambivalenz zuließ, stellte die Idee einer absoluten Wahrheit infrage. Wer komplexe Fragen stellte, entzog sich der totalitären Logik der eindeutigen Antworten.
Das NS-Regime ließ deshalb nicht nur Werke aus den Museen entfernen, sondern sorgte auch für eine totale Umstrukturierung der Kunstwelt. Galerien wurden geschlossen, Sammlungen "gesäubert", Kunstakademien und Museen personell umgebaut. Künstler, die sich der propagierten Ästhetik widersetzten, wurden mit Berufsverboten belegt, ins Exil gezwungen oder als "undeutsch" diffamiert. Während die einen als "entartet" abgestempelt wurden, nutzte der NS-Staat gleichzeitig Kunst als Machtinstrument: Monumentale, heroische Darstellungen arischer Körper, idealisierte Landschaften und militaristische Bildwelten waren nicht nur Dekoration, sondern fester Bestandteil der Propaganda.
Hier zeigt sich ein zentrales Muster: Der Wert von Kunst wurde nicht an ihrer inhaltlichen Qualität gemessen, sondern an ihrer Funktion für den Staat. Kunst war nicht mehr Ausdruck individueller oder gesellschaftlicher Reflexion, sondern wurde zum Mittel politischer Kontrolle. Sie diente entweder dazu, die Ideologie des Regimes zu untermauern – oder sie wurde vernichtet.
Und wo sind wir heute?
Kulturministerien und kommunale Verwaltungen kürzen die Budgets mit dem Argument der Sparsamkeit, während sie gleichzeitig Milliarden in andere Projekte stecken. Dabei entsteht ein Paradox: Eine unterfinanzierte Kunstszene wird nicht freier, sondern oft abhängiger – sei es von privaten Mäzenen, wirtschaftlichen Interessen oder ideologisch aufgeladenen Stiftungen. Die Frage ist also nicht nur, ob Kunst finanziert wird, sondern wer darüber entscheidet und unter welchen Bedingungen.
In Berlin sind aktuell zahlreiche Förderprogramme für Künstler bedroht – ausgerechnet in einer Zeit, in der die Demokratie selbst unter Druck steht. Wer an Kunst spart, spart letztlich an der Fähigkeit einer Gesellschaft, sich kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen. Das bedeutet nicht, dass staatliche Förderung Kunst automatisch schützt – sie kann genauso gut zur Konditionierung führen. Gerade deshalb braucht es nicht weniger, sondern eine diversifizierte, widerstandsfähige Förderstruktur, die Unabhängigkeit ermöglicht, statt Konformität zu belohnen.
Wenn heute in Deutschland oder anderen westlichen Ländern Kulturförderungen gekürzt werden, dann ist das zwar kein direkter Vergleich mit historischen Diktaturen – aber es ist ein strukturell ähnlicher Reflex: Kunst als das verzichtbare Extra, das man in Krisenzeiten als Erstes opfert. Und genau das ist der Punkt: Kunst ist keine Dekoration. Sie ist eine Struktur, die Demokratien resilient macht, weil sie Ambivalenzen aushält, Komplexität visualisiert und Unausgesprochenes in eine Form gießt.
Das Berliner Paradox: Kunst als Wirtschaftsfaktor – aber ohne ökonomische Anerkennung
Wenn Kunst gleichgeschaltet wird, untergräbt dies nicht nur die Widerstandsfähigkeit der Demokratie, sondern auch die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Berlin: Die Kunst erfährt keine Wertschätzung, obwohl sie maßgeblich an der Wertschöpfung der Stadt beteiligt ist - ganz so, als säge man an dem Ast, auf dem man sitzt.
Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensembles, hat das kürzlich in einer Rede zur Kulturfinanzierung treffend zusammengefasst. Die Argumentation, Kunst sei nicht profitabel, sei nicht nur falsch, sondern auch wirtschaftlich kurzsichtig. Berlin beispielsweise lebt von seiner Kulturszene. Und doch werden genau hier die Budgets gekürzt.
Die Zahlen sind eindeutig: 2024 haben 12,7 Millionen Gäste insgesamt 30,6 Millionen Übernachtungen in Berlin gebucht. Die Stadt profitiert massiv von ihrer kulturellen Attraktivität: Der Tourismus generierte im Jahr 2024 rund 17 Milliarden Euro Umsatz.
Die Gesellschaft muss erklären, wie sie ohne Kunst überleben will
Berlin macht also Milliarden mit Touristen, die wegen Kultur und der Geschichte der Stadt kommen. Und was tut die Politik? Sie kürzt genau dort. Dass Kunst ein Wirtschaftsfaktor ist, reicht offenbar nicht als Argument – aber auch die Vorstellung, dass eine unterfinanzierte Kunstszene automatisch freier wäre, ist eine Illusion. Kunst braucht Räume, Ressourcen und Strukturen, die sie unabhängig halten – nicht, um sie staatlich einzuhegen, sondern um genau das zu verhindern.
Normalerweise schreibe ich keine Texte dieser Art. Unter normalen Umständen verlasse ich mich auf meine künstlerische Praxis, weil ich davon überzeugt bin, dass Bilder in ihrer Vielschichtigkeit oft präzisere Aussagen treffen als Worte es können. Aber ich bin es leid, dass Künstler immer wieder erklären müssen, warum sie überhaupt existieren. Denn in Zeiten, in denen sich Demokratien verändern, die Grenzen des Sagbaren nach rechts verschoben werden und kulturelle Mittel gekürzt werden, ist es eben nicht so, dass die Kunst erst dann kommt, wenn alles andere gesichert ist. Es ist genau umgekehrt: Künstler müssen nicht erklären, warum sie existieren, die Gesellschaft muss erklären, wie sie ohne Kunst überleben will.
Unsere Gesellschaft muss entscheiden, ob sie Kunst als etwas betrachtet, das man mal finanziert und mal nicht, oder sie aber als unverzichtbaren Teil des empfindlichen Sensoriums einer Demokratie anerkennt. Denn das ist der Punkt: Wenn wir Habermas’ Schleusenmodell ernst nehmen, geht es nicht allein um finanzielle Förderung, sondern um die fundamentale Fähigkeit einer Demokratie, die frühen Schwingungen gesellschaftlicher Veränderung wahrzunehmen – die vibes, die Vorzeichen, das Unausgesprochene. Schrumpfen jedoch jene Räume, in denen dieses feinsinnige Spüren möglich ist, verkümmert auch das Sensorium der Demokratie, ihre Fähigkeit zur Früherkennung. Dann wird es nicht nur eng für das politische System. Es besteht sogar die Gefahr, dass die Demokratie gänzlich erblindet.