Bevor die Frieze in London eröffnet, steht die kunstinteressierte Stadtgesellschaft am Vorabend auf der Rampe der Tate Modern Schlange, um in die Ehrfurcht gebietende Halle einzutreten. Die Eröffnung der Turbine Hall Commission, wo jährlich ein neues, spektakuläres Werk zu sehen ist, hat etwas von einem fröhlichen Kirchgang. Auch wenn die Kunst von Mire Lee düster ist: Eine gigantische Turbine dreht sich in großer Höhe und wässert mit schlenkernden Tentakelarmen aufgespannte hautfarbene Fetzen.
Gut gelaunte, interessant gekleidete Menschen beobachten und fotografieren das Ganze mit Gelächter, Popcorn und Weißwein von der Brücke der Turbinenhalle aus, keine stiff upper lip, auch nicht die neuere, voluminöse Version, wenig Bling. Eine junge Frau im gelben Mantel eilt ein wenig früher als alle anderen zum Ausgang. Es ist Eva Langret, die Direktorin der Messe Frieze London, die am nächsten Morgen beginnt.
"Wie ist die Stimmung in London?" ist so eine Frage, die gestellt wird, wenn man sich auf den Weg zur Frieze macht. Dabei schwingen diffuse negative Erwartungen mit: Der Brexit, die Wirtschaftslage, die schlechten Auktionsergebnisse, das Wetter, Paris. Beweise für dieses vorgefasste Narrativ liegen aber gar nicht auf der Hand. Eher scheint es, als sei das Klima hier wieder genau richtig für junge, gute Kunst. Denn das war die Messe, gegründet vor 21 Jahren aus der Redaktion eines Kunstmagazins, schon immer: ein Ausweis für den kreativen Spirit Londons.
Power-House will nach London
Gerade in diesen Zeiten, in denen wenig möglich scheint, gibt es auf einmal Galerie-Neugründungen in der Stadt, viele von ihnen sind auf der Messe vertreten, in der Sektion "Focus". Oder internationale Galerien siedeln sich hier neu mit einer Filiale an, wie das Pariser Power-House Perrotin, das für 2025 angekündigt hat, sich in Mayfair niederzulassen. Auf der Frieze zeigt Perrotin eine von Gregor Hildebrandt virtuos mit Stelen, Tapeten und seinen charakteristischen Kassetten-Bildern bespieltes Kabinett.
Währenddessen malt Billy Childish, der als Musiker mit seiner Band Thee Headcoats schon für Jack White oder Kurt Cobain einflussreich war, live Landschaftsbilder, die bei seiner Galerie Lehmann Maupin sofort gekauft werden können. Esther Schipper hat, ebenfalls im vorderen Bereich, viele pinke Ballons von Ugo Rondinone unter die Kojendecke fliegen lassen. Eine Anspielung auf platzende Bubbles, aber zugleich wissen es ja doch alle: Die Kunst macht sowieso weiter.
Das erneuerte Layout der Messe, entworfen von A Studio Between, holt die jungen Galerien ganz nach vorn, statt ihnen hintere Ecken zu geben. Ein intelligenter Beitrag zur vieldiskutierten Fairness unter den auf höchst unterschiedlichen Levels operierenden Kunsthändlern: Erst muss man durch die Anfangsphase, in denen Galerien klein sind und die Risiken groß, die Namen neu, die Preise noch niedrig und die Spannung hoch. Dramaturgisch an den Schluss gesetzt sind die bekannten Marken und hohen Preise.
Um die enormen Gewinne der Großgalerien auf der einen Seite und die verdienstvolle, aber oft nicht einträgliche Arbeit der kleinen und jungen Galerien auf der anderen etwas auszubalancieren, etablieren sich jetzt mehr und mehr Partnerschaften. So hat Zwirner beispielsweise die erst 26-jährige New Yorkerin Sasha Gordon als jüngste Künstlerin ins Programm aufgenommen - und teilt sich die Einnahmen mit ihrer deutlich kleineren Galerie Matthew Brown in Los Angeles.
Der Global Player Hauser und Wirth hatte ähnliche Partnerschaften im letzten Jahr vorgemacht. Vom geteilten Know-How profitieren alle: Große Galerien partizipieren an jungen Karrieren, kleine Galerien minimieren ihr Risiko, Künstler müssen nicht mehr abwandern und die Herzen ihrer Galeristen brechen, die sie aufgebaut haben.
Die großen Blue-Chip-Dealer mussten warten
Alle großen Namen nebeneinander zu platzieren, und zwar hinten, ist mutig, aber stimmig. Kann man doch gewiss sein, dass ohnehin jeder zu White Cube, zu Sadie Coles, Gagosian oder Ropac finden wird. Die Blue-Chip-Dealer wie David Zwirner oder Jay Jopling warteten nach der VIP-Eröffnung am Mittwochmorgen um elf dann auch fast eine halbe Stunde auf die Welle der Sammlerinnen und Sammler, unter ihnen internationale Größen wie Maja Hoffmann, Dakis Joannou und Patrizia Sandretto Re Rebaudengo, die entweder in den schmalen Verbindungsgängen zwischen den Zelten feststeckten, oder erst später in den weiter hinten liegenden Teil der Messe vordrangen. Vielleicht, weil sie sich bei "Focus" von der jungen Kunstszene fesseln ließen.
Hier schwirrte bei Ginny on Frederick das Publikum wie magisch angezogen um Charlotte Edeys abstrakt-surrealistische, taktile Mixed-Media-Stickereien herum. Bei Rose Easton stehen zwei durchschnittliche Sofas über Eck auf Standard-Auslegeware, an der Wand Bilder von brennenden Häusern, alles von Eva Gold. Nicoletti zeigt die überzeugenden formalistischen Skulpturen aus Glas von Divine Southgate-Smith (1995 in Togo geboren, studierte und lebt in London). Oswaldo Nicoletti ist mit seiner Galerie gerade in größere Räume umgezogen. Dabei arbeiten die jungen Galerien in London hart gegen ihre steigenden Fixkosten an, stellen kaum ein, gehen Risiken ein.
Diesen Mut zu fördern, darum gehe es in diesen Zeiten, sagt Martin Clark, Direktor des Camden Art Centre bei der Verkündung des Gewinners des begehrten Camden Art Prize am Stand von Brunette Coleman. Hier sind Nat Faulkners analoge Fotografien in warmen Kodak-Farben zu sehen. Der Künstler macht Handabzüge, bearbeitet sie weiter und erhält so kontrollierbare und unkontrollierbare Bildfehler.
Für sein Werk bekam Faulkner (Jahrgang 1995) am Eröffnungstag der Frieze den renommierten Nachwuchspreis verliehen. Die Galerie Brunette Coleman, gegründet wurde sie von einem jungen Paar und benannt nach dem Pseudonym des Dichters Philip Larkin, nahm zum ersten Mal überhaupt an der Frieze teil. Wie stark das Engagement der Institutionen der Stadt in die Messe und die Karrieren hineinwirken, sieht man auch am Frieze Tate Fund: Ausgestattet mit 150.000 Pfund, läuft ein Team von externen und Tate-Kuratoren über die Messe, um Werke für die Sammlung anzukaufen.
Auch die Kuratorin des Frieze-Skulpturenparks, Fatos Üstek, betont das gut funktionierende Londoner Netz, über das Kunst und Stadt traditionell eng miteinander verknüpft sind: Ihre Schau – und es ist ihr wichtig, dass man die Frieze Sculptures als Ausstellung begreift – eröffnete bereits vor der Messe zur Skulpturenwoche im September, unter Schirmherrschaft des Bürgermeisters, als auch die "Fourth Plinth" auf dem Trafalgar Square enthüllt wurde. "Es geht darum, eine Verbindung zur Struktur der Stadt herzustellen, aber gleichzeitig auch neue Einflüsse und neue Inspirationen einzubringen. Und das ist genau das, was ich hier versuche", sagt Üstek, die zum zweiten Mal für die Frieze den Regent’s Park mit Skulpturen bespielt.
Mehr als die Hälfte sind neu entstanden, ein tanzendes Fabelwesen der Surrealistin Leonora Carrington von 2011 bildet einen furiosen Auftakt. Auch die goldschimmernde, mannshohe Skulptur von Kirstine Roepstorff in Form einer länglichen Seeschnecke zieht die Energie an: Sie funktioniert als Blitzableiter an einem sanften grünen Hang, als Empfänger für gebündelte Power, die hier in den Grund geleitet wird.
Auch Albano Hernandéz‘ poetischer Eingriff "The Shadow" unter einem der Parkbäume ist regelrecht mit dem Park verwurzelt. Nur durch verstärktes Wässern des Rasens hebt sich die Silhouette des Baumes satter und grüner als der umliegende Boden ab. Einmal am Tag stimmen der Umriss und der tatsächliche Schatten des Baums miteinander überein. Wo gewässert wird, sprießt es. Wie die Stimmung in London ist? Sicher, Paris steht bevor. Aber im Moment ist das Gras auf dieser Seite des Kanals sehr grün und sehr frisch.