So lange ich sie besuche, war noch jede Documenta ein Ärgernis, ein Skandal, die misslungenste Ausgabe der Großausstellung, die es jemals gegeben hat. Noch jeder Kurator oder jede Kuratorin musste sich zu Beginn des Kunstspektakels erst mal von der Kritik anhören, wie er oder sie es diesmal verpfuscht hat. Doch bei jeder Documenta blieb auch spätestens nach der Schließung eine deutlich mildere Erinnerung an eine Ausstellung, die dann doch nicht ganz so schlecht war, Arbeiten, die im Gedächtnis blieben, Debatten, die weitergingen, und ein paar Kunstwerke, die die Stadt Kassel langfristig bereichert haben.
Bei dieser Documenta könnte das anders sein. Die Ausstellung, die in ihren letzten Tagen endgültig in einem Malstrom von berechtigter Kritik, wütender und oft ungerechter Polemik, beleidigten Kuratorenstatements, zweifelhaften Akademiker-Einschätzungen und sehr viel schlechter Laune versinkt, könnte langfristig vor allem als Fehlschlag mit unverzeihlichen politischen Fauxpas in Erinnerung bleiben.
Es soll hier nicht abermals um offenen oder unterschwelligen Antisemitismus in einigen Arbeiten gehen. Diese Debatte wird nicht mehr mit einem Kompromiss oder einer Einigung auf einer höheren dialektischen Ebenen enden, sondern nur mit unversöhnlichen und unauflösbaren Gegensätzen. Vielmehr soll zum Schluss noch einmal die Ausstellung und die Kontroversen, die sie ausgelöst hat, mit dem abgeglichen werden, was das Kuratorenkollektiv Ruangrupa als Programm angekündigt hatte, um die Frage zu beantworten, ob sich die Probleme mit der diesjährigen Documenta möglicherweise aus genau diesem Programm ergeben haben.
Als etwas nie Dagewesenes verkauft
"Grundsätze von Kollektivität, Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung stehen im Mittelpunkt der kuratorischen Arbeit und prägen den gesamten Prozess" wird auf der Website der Ausstellung immer noch als Prinzip der kuratorischen Arbeit bei der Documenta beschrieben. "Die Arbeitsweise des Kollektivs beruht auf einem alternativen, gemeinschaftlich ausgerichteten Modell der Nachhaltigkeit in ökologischer, sozialer und ökonomischer Hinsicht, bei dem Ressourcen, Ideen oder Wissen geteilt werden, sowie auf sozialer Teilhabe." Nicht die Arbeiten von individuellen, autonomen Kunstproduzentinnen sollten also im Mittelpunkt der Schau stehen, sondern gemeinsam entwickelte Projekte.
Es war für mich von Anfang an verblüffend, dass Ruangrupa dieses Programm als etwas bei der Documenta nie Dagewesenes verkaufen konnte. Die wohlmeinende Bereitschaft von Documenta-Unterstützern, dieses Programm als vollkommen neuartiges Organisationsprinzip für eine Kunstausstellung zu akzeptieren, war befremdlich. Es sagt viel über den Kulturbetrieb der Gegenwart, dass Ruangrupa ihr Konzept vorstellen konnte, als hätten sie gerade das Pulver erfunden. Und dass niemandem aufgefallen ist, dass es solche künstlerischen Herangehensweisen bei der Documenta seit 1972 regelmäßig gegeben hat.
Der Dauereklat um die Documenta in diesem Jahr hat allerdings gezeigt, dass Ruangrupa letztlich wenig Interesse daran hatte, an die historischen Erfahrung der kollektiven Kunstproduktion und -präsentation – die gerade auch bei vergangenen Versionen der Documenta stattfanden – anzuknüpfen. Das wäre bei einer Gruppe, die ausdrücklich für sich in Anspruch nahm, sowohl die gewachsenen Strukturen vor Ort wie auch künstlerische Archivpraktiken zu berücksichtigen, nicht zu viel verlangt gewesen. Viel von den Konflikten, die es bei dieser Documenta gab, hätten möglicherweise vermieden werden können, wenn man Lehren aus dieser Vergangenheit gezogen hätte.
Reflexion dieser Geschichte nicht wahrnehmbar
Nach den ersten Selbstäußerungen von Ruangrupa über ihre Documenta wollte ich wissen, ob die Gruppe sich mit der Vorgeschichte von derartigen Praktiken und den Implikationen für ihre eigenen Praxis bei der Documenta auseinandergesetzt haben. Darum habe ich vor der Documenta-Eröffnung mit einigen Vertretern der Gruppe ein Interview über die Documenta, über Joseph Beuys und sein Konzept der "sozialen Plastik" geführt, an die mich das Lumbung-Konzept erinnerte – auch weil diese Idee Künstler rund um den Globus dazu gebracht hat, ihre individuelle Kunstpraktik in kollektive kreative Prozesse zu überführen. Bei Ruangrupa fand man das interessant, aber eine Reflexion dieser Geschichte war bei der Documenta Fifteen nicht wahrnehmbar.
Spätestens seit Fluxus war es eine immer wieder erprobte künstlerische Strategie, kollektive ästhetische Prozesse zu ermöglichen und sich Freiräume für kollektive Kreativität zu schaffen – wozu auch das gehört, was Bazon Brock in seinen verbitterten, boshaften Einlassungen zur Documenta als "gemeinsames Abhängen" bezeichnet hat. Als zumindest peripherer Teilnehmer der Fluxus-Bewegung müsste er eigentlich wissen, dass Fluxus-Gründer George Maciunas genau solche herrschaftsfreie, nichtkommerzielle und letztlich utopische Orte schaffen wollte, an denen Künstler "abhängen" und ohne den Druck des Marktes arbeiten konnten, als er in SoHo in Manhattan ab Mitte der 60er-Jahre die Gebäude der Fluxhouse Cooperative zusammenkaufte, oder in den 70er-Jahren eine Art autonomer Künstler-Land-WG in Massachusetts aufzubauen versuchte.
In diesem Umfeld entstand in den 60er-Jahren mit der Mail Art, die zunächst stark von Künstlern der Fluxus-Szene getragen wurde, eine erste globale, kollektive Kunstpraxis; es folgten Künstlerinnengruppen wie General Idea, Image Bank, Guerilla Girls, ACT UP, Group Material, Survival Research Laboratories, Ocean Earth, Endart, Frigo, M. Raskin Stichting, Clara Mosch, Neue Slowenische Kunst (NSK), etoy, JODI und und und und.
Öko-soziale Kollektivkunst gab es schon 1972
Diese Gruppen waren keine Künstlervereinigungen wie der Blaue Reiter oder die Gruppe Spur, sondern haben ihre Kunst wirklich kollektiv geschaffen. Es mag sein, dass diese Kollektive in der Kunstwelt nie denselben Status erlangt haben wie individuelle – und in der Regel männliche – Künstlergenies. Das sagt aber mehr über die auf Ausnahmeerscheinungen fixierte Kunstwelt aus als über die Qualität der Arbeit dieser Kunstkollektive.
Gerade die Documenta hat seit dem "Büro für direkte Demokratie" 1972 und der "Free International University" 1977 von Fluxus-Mitglied Beuys mit ihren soziopolitischen Vorträgen und endlosen Debatten immer viel Raum für solche kollektiven Praktiken gelassen. Zumal diese sich oft genug um genau die "Nachhaltigkeit in ökologischer, sozialer und ökonomischer Hinsicht" drehten, die Ruangrupa für sich beanspruchten. Beuys' "7000 Eichen" sind wohl bis heute das erfolgreichste Modell für diese Art von öko-sozialer Kollektivkunst – ohne die Kasseler Bürgerinitiative, die mit rhetorischer und finanzieller Unterstützung von Beuys dafür gesorgt hat, dass heute in Kassel wirklich an jeder Ecke Eichen mit Basaltstelen stehen, wäre das Kunstprojekt wohl gescheitert.
Viel von dem, was Ruangrupa bei der diesjährigen Documenta präsentierte, gab es bei der Ausstellung also schon vor Jahrzehnten. Zum Beispiel Medienwerkstätten – anders als in diesem Jahr nicht nur eine Old-School-Siebdruckwerkstatt zum Zugucken in der Documenta-Halle, sondern Orte, die wirklich mediale Produktion der Besucher möglich machten. Bei der Documenta 1972 zeichnete die Gruppe Telewissen Diskussionen unter Passanten in Kassel über die Ausstellung mit dem damals neuen Medium Video auf und zeigte die Tapes in der Ausstellung. 1987 richtete das Kunstkollektiv Minus Delta T einen Piraten-Radiosender ein, der mit jedem Radio in der Stadt empfangen werden konnte, komplett mit einem eigenen Medienbus, in dem man damals selbst Mitmachen, Videos schneiden oder eine Mailbox nutzen konnte. Im Vergleich dazu wirken die Dauerschleifen, die Radio Lumbung im Internet sendet, doch etwas lazy.
Was, wenn einige Aussagen auf den Index gehören?
1992 organisierte die Gruppe Van Gogh TV unter dem Titel "Piazza Virtuale" eine eigene Fernsehstation, die täglich per Satellit und auf 3Sat sendete und aus heutiger Sicht die sozialen Medien der Gegenwart vorwegnahm. An dem Projekt waren Hunderte von Künstlern in Europa beteiligt, und das Programm wurde von Hunderttausenden gesehen. Die Gruppe führte übrigens schon zu dieser Zeit selbstbewusst eine "Zensur" durch, die heute wohl eher als content moderation bezeichnet werden würde: So wurden Beispiele von "gruppengezogener Menschenfeindlichkeit" von Teilnehmern unterbunden, die sich in dem Programm antisemitisch, rassistisch oder sexistisch äußerten. Was wäre aus der Documenta Fifteen geworden, wenn man sich von Anfang an darauf geeinigt hätte, dass manches von dem, was einige über Israel "einfach mal sagen" müssen, auf den Index gehört?
Nicht erst seit jener Zeit nahmen Kunstkollektive, die oft auch das Publikum in ihre Arbeit einbezogen, bei der Documenta immer einen breiten Raum ein, man denke nur an die Beiträge von Künstlerkollektiven wie Huit Facettes, Le Groupe Amos, Raqs Media Collective, Critical Art Ensemble, Park Fiction (weitere Beispiele bitte aus dem Gedächtnis ergänzen). Man konnte auf der Documenta selbst angebaute Beeren, Kräuter und Samen an einem Stand der amerikanischen Künstlergruppe And And And kaufen, die genau solche urbanen Gärten angelegt hatten wie bei dieser Documenta Nhà Sàn Collective.
Es gab ein Sozial-Kaufhaus der Geschwister Hohenbüchler und die irreale Forschungsstation Makrolab von Marko Peljhan in der Mitte von Nirgendwo. Selbst auf einer Halfpipe wie der, die Baan Noorg Collaborative Arts and Culture diesmal in der Documenta-Halle aufgebaut haben, konnte schon 2002 beim Beitrag des Architekturkollektiv Simparch bei der Documenta skaten.
Diskurs-Formate gehören zum guten Ton
Neben solchen partizipatorischen Kollektivprojekten gab es auch bei jeder Documenta seit 1977 jede Menge von Künstlern betriebene Orte zum "Abhängen" wie den von dem Kölner Design-Kollektiv Pentagon gestalteten Club New York (1987), oder den Pavillon des Electronic Café International (1992). Einen diskursiven Rahmen zur Ausstellung mit Vorträgen und Diskussionen wie im RuruHaus gab es zum Beispiel bei der Documenta 10 mit "100 Tage 100 Gäste" und dem "Hybrid Workspace", wo die Organisatoren – wie bei der Documenta Fifteen – von der Documenta ein Budget erhielten, um ein eigenes Programm zu machen; später wurden solche Formate unter anderem bei den "Plattformen" der Documenta 11 global, also unter Einschließung des globalen Südens, bei der Documenta 13 mit ihren Satellitenausstellungen und bei "100 Notizen – 100 Gedanken" oder dem "Parlament der Körper" bei der Documenta 14 realisiert. Ehrlich gesagt gehören solche Diskurs-Formate heute bei Großausstellungen wie der Documenta mehr oder weniger zum guten Ton.
Kollektive Strukturen und gemeinschaftliche Kunstproduktion in allen Hemisphären gab es bei der Documenta also lange bevor sich irgendjemand zum Protagonisten solcher Aktivitäten erklärte. Was bei dieser Documenta neu war, war der Versuch, die ganze Ausstellung in Zusammenarbeit mit den eingeladenen Künstlern zu gestalten. Dieser Prozess, der von Ruangrupa mit Begriffen wie Lumbung, Gado-Gado (kollektives Wohnzimmer) und so weiter beschrieben wurde, ist aufgrund der Debatten über Antisemitismus bei der Ausstellung kaum noch reflektiert worden.
Er hätte sonst durchaus interessant sein können. Allerdings haben Ruangrupa nach ihren Anfangsstatements und ausführlicher Darstellungen ihrer Methode im Katalog nach Ausstellungsbeginn die konkrete Arbeit kaum noch transparent gemacht. Wie einzelne Künstler und Arbeiten auf die Documenta gekommen sind, war für das Publikum im Grunde ebenso eine "Black Box" wie bei einer Ausstellung mit einem individuellen, eigenverantwortlichen Kurator. Fairerweise muss man aber auch sagen, dass es für die Öffentlichkeit möglicherweise nur von begrenztem Interesse ist, über jedes Detail aus dem kuratorischen Stuhlkreis, heute als Zoom-Konferenz bekannt, informiert zu sein.
Unwillig, sich mit der Kritik auseinanderzusetzen
Allerdings zeigt das wohl für alle Beteiligten unbefriedigende Fazit der Documenta Fifteen, dass der Kuratierungsprozess, den Ruangrupa angestoßen hat, seine Abgründe hat. Dass diese Defizite letztlich die Erinnerung an diese Documenta wohl dauerhaft prägen werden, hat auch mit dem Unwillen von Ruangrupa zu tun, sich mit der Vorgeschichte ihrer Art von künstlerischen Kollektivprozessen und der daraus in jahrzehntelanger Praxis erwachsenen Kritik auseinanderzusetzen.
Bei einer Ausstellung, bei der Gleichgesinnte andere Gleichgesinnte einladen, führt das wohl fast zwangsläufig zu Prozessen der Homogenisierung und des Nepotismus, also der "Vetternwirtschaft", welche diejenigen bevorzugt, die zur eigenen Bubble gehören. Ein Beispiel: Auch nachdem "People´s Justice" von Taring Padi wegen antisemitischer Ikonografie abgehängt wurde, war die Gruppe immer noch an drei hoch sichtbaren Orten inklusive eines ganzen Standorts (Hallenbad Ost) in der Ausstellung vertreten.
War diese hervorgehobenen Präsentation der Arbeiten der Gruppe – die eine Bildsprache nutzten, die nicht nur in Europa antiquiert wirkt, welche aber mit Ruangrupa eng verbunden ist – möglicherweise nicht das Resultat eines ausgewogenen, quasi-basisdemokratischen Lumbung-Prozesses? Sondern eher alter Verbundenheit geschuldet? Darf man wohl mal fragen.
Eine "Wir gegen die"-Opposition
Die Betonung der Gemeinsamkeit von ethischen Werten und ästhetischen Herangehensweisen hat bei der Documenta eine Atmosphäre geschaffen, bei der nicht das Entdecken von Neuem und Unbekanntem oder das Austragen von Konflikten im Mittelpunkt stand, sondern eine Kultur der Harmonie. Diese hat bei der Documenta dazu geführt, dass man sich im Zusammenschluss gegen Einflüsse und Themen des so entstandenen "Außen" abschottet und dieses im extremsten Fall sogar als Bedrohung oder Angriff wahrnimmt.
So entstand eine "Wir gegen die"-Opposition, die sich auch jetzt wieder zeigt, als alle Lumbung-Künstler und -Künstlerinnen geschlossen Solidaritätsadressen für Ruangrupa unterzeichnen, obwohl sie mit den Details der Kontroverse um die Documenta wohl zum Teil kaum vertraut sind.
So etwas kann natürlich auch bei einem individuellen Kurator samt Team passieren. Aber bei der aktuellen Documenta haben solche Prozesse dazu geführt, dass viele der drängendsten Themen unserer Zeit schlicht keine Rolle gespielt haben, weil Ruangrupa so bemüht waren, ihre kuratorische Methode zu demonstrieren und ihr künstlerisches Umfeld zu präsentieren: das Aufkommen von NFTs, die kurzzeitig den ganzen Kunstmarkt neu zu ordnen schienen, Querdenker und Impfgegner, die Bedrohung von Demokratien durch Populismus und die Instrumentalisierung der Sozialen Medien kamen bei der aktuellen Documenta maximal in Fußnoten vor.
Eher ein Abbild ihres Umfelds als ein Abbild der Welt
Osteuropa und der bei der Eröffnung der Documenta bereits tobende Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine spielten bei der Ausstellung eine bestenfalls untergeordnete Rolle. Die Eröffnung der Documenta, bei der fidele Performances zur Aufführung kamen, während unweit des Ausstellungsorts ein brutaler Krieg stattfand, war gespenstisch. Indem Ruangrupa sich darauf versteiften, ihre Lumbung-Methode pedantisch durchzuziehen, haben sie letztlich eher ein Abbild ihres eigenen Umfelds präsentiert als eins der Welt, um die es bei der Ausstellung ihrem eigenen Anspruch nach gehen soll.
Natürlich ist eine Ausstellung keine Tageszeitung, und es steht es jedem Documenta-Kurator frei, seine eigenen Schwerpunkte zu setzen – individuelle Kuratoren müssen dann für ihre Auswahl aber auch die Verantwortung übernehmen. Indem Ruangrupa den Entscheidungsfindungsprozess ins Kollektiv verlagerte, verwischten sie die Verantwortlichkeit so, dass in einigen Fällen bis heute nicht geklärt ist, wie kontroverse Arbeiten überhaupt in die Ausstellung kommen konnten.
Das passiert, wenn man Freunde und Freunde von Freunden einlädt, und die einfach machen lässt. Diese Diffusion von Macht und Kontrolle muss nicht unbedingt emanzipatorisch sein, wie die Documenta gezeigt hat, sondern kann auch eine Form von intellektueller und kuratorischer Schlampigkeit bedeuten. Dass sich offenbar niemand das Bild "People´s Justice" von Taring Padi mal genauer angesehen hat, bevor es als ein Hauptwerk der Ausstellung aufgehängt wurde, zeigt, wohin solches "management by comittee" führen kann.
Fehlen von inspirierenden Querschlägern
Nach dieser Documenta kann man auf jeden Fall nicht mehr glauben, dass man den allmächtige Kurator, der Ausstellungen mit einem Rennstall von Lieblingskünstlern bespielt, dadurch abschafft, dass man ihn (oder sie) durch ein Kollektiv ersetzt. Bei der Documenta Fifteen wurde dieser Popanz ersetzt durch eine Clique, die letztlich auch nicht objektiver oder transparenter operiert als der Super-Kurator von einst.
Im Gegenteil waren es gerade individuelle Kuratoren bei vergangenen Documentas, die mit ihrer Auswahl für Überraschungen jenseits der Szene, die sie vertraten, sorgten: Wenn zum Beispiel Adam Szymczyk die greise Ruth Wolf-Rehfeld mit ihren Schreibmaschinenarbeiten aus den 70er-Jahren auf der Documenta zeigte oder Carolyn Christov-Bakargiev die Science-Fiction-Ölschinken des deutschen Computerpioniers Konrad Zuse. Solche inspirierenden Querschläger fehlten bei der diesjährigen Documenta vollkommen.
Das kollektive Vorgehen, das Ruangrupa an die Stelle des traditionellen kuratorischen Prozesses gesetzt hat, zeigt sich jetzt am Ende der Ausstellung von seiner hässlichsten Seite. Die Debatte, die die Gruppe eigentlich ermöglichen wollte, ist Schuldzuweisungen und dem offenbar unvermeidlichen Rassismusvorwurf gewichen. Aus Diskurs wurde zunächst Schweigen, als Ruangrupa erstmal komplett abtauchte, als die ersten Antisemitismus-Vorwürfe aufkamen, dann eine Gruppendynamik, bei der sich missverstandene und verleumdete Künstler und Kuratoren gegen den Rest der Welt erwehren.
Man muss es nur wollen
Man kann es nicht mehr erwarten, dass dieses Trauerspiel endlich zu Ende geht. Und wünscht sich, dass bei der nächsten Documenta kreative Kollektivarbeit nicht auf Kosten von intellektueller Aufmerksamkeit, politischem Anstand, kuratorischer Präzision und Neugier auf die Welt geht.
Dazu braucht man keine ermüdenden, mäandernden Debatten darüber, ob eine Großausstellung wie die Documenta überhaupt noch zeitgemäß ist – die ersten Meinungsinhaber haben sich ja schon in Stellung gebracht, um ihren volltönenden Beitrag zu dieser Diskussion in Umlauf zu bringen. Die diesjährige Berlin Biennale – die wesentlich weniger Beachtung fand als die Documenta – hat gezeigt, dass solche Großausstellungen einen wichtigen Beitrag zur Orientierung in einer sich globalisierenden Kunstwelt leisten und außerdem tolle Kunst präsentieren können.
Man muss es nur wollen, und sich nicht darin verrennen, ein einmal entwickeltes kuratorisches Kollektivprinzip verbohrt durchzuziehen, bei Problemen abzutauchen, sich dann in der eigenen Gruppe abzukapseln und schließlich Kritik als Missgunst und Rassismus abzutun. Dass kollektive Kunstprozesse nicht so tragisch enden müssen, hat gerade die Documenta in ihrer Vergangenheit immer wieder gezeigt.