Sarah Estio, Allegra Kortlang, wie kamen Sie dazu, auf den Querdenken-Demonstrationen zu fotografieren?
Sarah Estio: Unser Projekt hat sich zuerst um digitale Street-Photography mit dem Schwerpunkt Corona gedreht. Wir sind anfangs einfach zu den Demos gegangen, weil wir den Schlag an Menschen interessant fanden. Unser Stil hat sich dann aber von Woche zu Woche und Demo für Demo stark verändert.
Inwiefern?
Allegra Kortlang: Wir sind auf die analoge Fotografie umgestiegen, weil das eher unser Medium ist und man mehr darauf achtet, was man fotografiert.
SE: Wir hatten dann Point-and-Shoot-Kameras dabei, um schnelle Fotos zu machen, und haben mit verschiedenen Objektiven experimentiert. Dann hatten wir eine digitale Videokamera, so eine Digicam so aus den 2000ern, dabei und haben damit gefilmt.
Also war das Projekt am Anfang eher dokumentarisch?
AK: Wir wollten am Anfang so eine Art Archiv aufbauen. Wir wollten diese Proteste erleben und dokumentieren. Wir wollten uns durch die Fotos damit beschäftigen, was da passiert. Als wir dann darüber nachdachten, die Bilder zu zeigen, hatten wir aber Probleme, unter solche Bilder unsere Namen zu setzen, gerade weil wir nicht unterstützen, was da passiert.
Wie haben Sie diesen Konflikt gelöst?
AK: Bei mir kam ein Projekt in der Lette-Schule mit dem Museum Hamburger Bahnhof in Berlin hinzu, wo jede Person eine Antwort auf eine der gezeigten Editionen von Michael Schmidt geben sollte. Er hat zum Beispiel auch Kriegsfotos abgebildet und Raster drübergelegt, damit man sich davon entfernen muss . So hat er seine Meinung abgebildet. Dadurch kam mir die Idee, Sachen quer zu stellen, die Bilder stark zu beschneiden und die Inhalte so langsam lesbar zu machen. Ich wollte sichtbar machen, wie ich den Protest sehe, und habe so Michael Schmidts Methoden in meiner Arbeit zur Edition "Ein-heit" umgesetzt.
Also waren die stilistischen Entscheidungen eine Möglichkeit, dem Inhalt etwas entgegenzusetzen?
AK: Ja, wir sehen unsere fotografische Arbeit auch als Form von Gegenprotest.
SE: Zu Beginn waren wir immer sehr frustriert, wenn wir die Fotos angeschaut haben. Es war überhaupt nicht, wie wir es wahrgenommen hatten. Deswegen haben wir probiert, die Ausschnitte so zu verändern, dass sie die Situationen so zeigen, wie sie in unseren Augen waren. Ich hab dann angefangen, mit einem Fischauge zu fotografieren, weil es für mich zu meiner Sicht gepasst hat: Das Verschwommene außen herum und der Fokus nur auf der Bildmitte.
Was hat den starken Unterschied in der Wahrnehmung und den Bildern verursacht?
AK: Richtig los ging das Projekt bei der Demo, bei der auch der Bundestag gestürmt wurde. Da waren wir auf einmal mittendrin. Wir waren weit und breit unter Tausenden die Einzigen mit Masken und dadurch offensichtlich als Feindbild erkennbar. Wir wurden durchgehend angeschrien, beleidigt, uns wurde hinterhergerannt, die Leute haben sich vor uns gestellt und versucht uns einzuschüchtern. Diesen emotionalen Stress und diese Feindseligkeit wollten wir auch in unseren Bildern ausdrücken.
Also auch ein ganz schöner Unterschied zu den erwarteten skurrilen Gestalten?
SE: Ja, am Anfang hatte es begonnen mit den Verschwörungstheoretiker*innen und dann wurden immer mehr Menschen durch eindeutig rechte Symbole erkennbar.
AK: Uns wurde schnell klar, dass die Bewegung gefährlich ist, weil Nazis Anklang finden und die Verschwörungstheoretiker*innen rechte Symbole übernehmen. Attila Hildmann läuft ja jetzt auch mit Reichskriegsflagge rum.
Gab es außer Reichskriegsflaggen noch andere auffällige Symbolik?
AK: Besonders eklig fand ich den Kontrast, einer Reichskriegsflagge neben LGBTQ- oder einer Peace-Flagge. Generell sieht man da alles, auch Menschen mit "Black Lives Matter"-Schildern neben Nazis.
Hatten Sie dann das Gefühl, dass die Demonstrant*innen als homogene Masse auftreten?
SE: Nein, das ist keine homogene Masse. Die streiten sich auch untereinander und man merkt, dass die nicht alle gleicher Meinung sind. In Videos haben wir versucht, diese Streits festzuhalten, um diese Heterogenität darzustellen, die die Demos ja auch so skurril macht. Dass sich Leute für "Black Lives Matter" einsetzen aber gleichzeitig mit Rechtsradikalen laufen. Dass Leute "Liebe für alle" rufen, aber eindeutig nicht mit Leuten unterwegs sind, die für Liebe für alle sind.
Auch die Demonstrierenden filmen die ganze Zeit und teilen Videos in sozialen Medien. Was ist der Unterschied zwischen einer "funktionalen" dokumentarischen Fotografie und der mit künstlerischem Anspruch?
SE: Die rein funktionelle Fotografie soll objektiv sein. Es geht ja nur darum, Geschehnisse zu dokumentieren, obwohl das natürlich nie 100 Prozent funktioniert, aber das ist die Absicht dahinter. Der künstlerische Ansatz bringt Haltung mit sich, Meinung, und kann sich deswegen von Geschehnissen distanzieren, was die Dokumentarfotografie nicht kann.
AK: Wenn die Teilnehmer*innen auf den Demonstrationen filmen, ist es auf gar keinen Fall neutral, und das kann man meiner Meinung auch nicht mit Dokumentarfotografie vergleichen. Sie wollen zeigen, wie sie von Gegendemonstrant*innen "behandelt" werden, die ihrer Meinung nach unzureichende Pressearbeit übernehmen, und zeigen, wie der Zusammenhalt in der Bewegung ist. Sie provozieren auch bewusst Presseleute und Gegendemonstrant*innen mit dem Filmen.
Wie soll Ihr Projekt nun weitergehen?
SE: Grade machen wir eine Pause mit dem Fotografieren. Wir bearbeiten momentan das bisherige Material und würden die Arbeiten auch gerne im nächsten Jahr ausstellen - auch mit den Videoarbeiten und Tonaufnahmen.
AK: Wahrscheinlich wird die geplante "Querdenken"-Demonstration an Silvester unser Schlussstrich sein.