Prolog: Eine neue, alte Kolumne, jetzt mit "Reviews" und "Noten"
Ich lebe wieder in Berlin, schön im Grunewald, am Schlachtensee. Und neulich hörte ich in der Bio Company, wie eine bebrillte Mutter zu ihrem kleinen, blassen Jungen sagte: "Lauf doch schon mal los und sag dem Mann an der Fleischtheke, du willst 30 Scheiben Fenchelsalami, aber hauchdünn geschnitten! Du musst sagen, HAUCHDÜNN!" Ich war voller Bewunderung, wie ungezwungen hier das Klassenbewusstsein von Generation zu Generation weitergegeben wird. Doch dann fiel mir ein, dass ich nicht zu diesen Leistungsträgern gehöre, zumindest noch nicht, dass ich nicht mal weiß, wie ich meine Miete bezahlen soll. Oder was ich sagen soll, wenn Leute fragen, was ich so mache.
Da flüsterte eine Stimme in meinem Kopf: "Aber du bist doch Kunstkritikerin. Nimm doch das Zepter endlich in die Hand!"
"Wie soll denn das funktionieren", dachte ich, "wo ich fast nie eine Ausstellung ansehe und nur um die Rehwiese spaziere und mich in der Bio Company rumtreibe?"
"Na, du könnest ja regelmäßiger durch Museen und Galerien gehen und gucken, was da so läuft – und dann Noten für die Ausstellungen geben, wie im Netz, wenn Alpha-Männer von Frauen sprechen. Du bist doch selbst auch höchstens eine 4, Digga. Mach doch mal ne 8 aus dir. Und du kannst sogar den Hund mitnehmen."
Tatsächlich liebe ich diese Noten bei Food-Reviews, wenn es von Influencerinnen für gehackte Ramen oder fluffigen Matcha-Whoopie-Pie eine 10 von 10 gibt. Ich rief also die Redaktion an. Alle fanden die Idee gut.
Leider fiel keinem ein neuer Kolumnenname ein. Nachts um zwei fragte ich ChatGPT: "Was wäre ein guter Titel für eine Kolumne, die sich mit Kunst, Politik und Popkultur beschäftigt?" "Zwischen Feuilleton und Frontlinie", sagte ChatGPT und dachte dabei wohl an die Ausweitung des Krieges in Europa. Und dann: "Von Banksy bis zum Bundestag". Das lebt nun mietfrei in meinem Kopf.
Ich schrieb nochmal: "Nicht so ironisch, nicht so originell, lieber so, dass es alle verstehen." "Form & Haltung", antwortete ChatGPT. Ich dachte, die KI kann meine Gedanken lesen. Das ist doch genau, was mich interessiert. Und so wurde diese Kolumne geboren. Und jetzt kommt also mit "Fabelhaftes Produkt" von Vaginal Davis im Berliner Gropius Bau meine erste, natürlich irre lange Ausstellungsbesprechung mit Instagram-Note. Und ich kann jetzt schon verraten: Diese Show ist mein ganz persönlicher Matcha-Whoopie-Pie.
Sagen Sie Miss Ross zu mir
Das fängt schon damit an, dass bei der Pressekonferenz alle "Miss Davis" sagen, und nicht einfach "Vaginal". Miss Davis dies und Miss Davis das, wir sind so froh, dass Miss Davis da ist, willkommen in der fantastischen Welt von Miss Davis … Man denkt wirklich, man hat es mit Diana Ross zu tun, die bekanntlich forderte, sie nicht einfach "Diana" zu nennen, wie es viele weiße Menschen aus der Industrie, vor allem Reporter oder Talkshow-Moderatoren gerne getan hätten. Für Sie immer noch "Miss Ross" – als Zeichen für Respekt und Professionalität und natürlich auch für Black Power und Frauen-Power.
Das trug ihr den Ruf als Diva und superbitch ein, zeigte aber die nötige Wirkung. Außerdem schuf sie auch eine performative Zauberformel für marginalisierte Teens, ob nun Schwarz, Braun, oder weiß. Von damals an konnten tuntige Jungs und widerborstige Mädchen auf dem Schulhof, beim Rauchen, im Bus, in jeder Situation, sei sie noch so schwierig, einfach sagen: "Call me Miss Ross".
Und als Miss Davis morgens um elf, sicher zwei Meter hoch, ohne Perücke, in einem parmaschinkendünnen, durchsichtigen, mit Goldstickereien durchwebten Abendkleid, mit Porno-Collagen-Papierhandtasche, völlig k.o. und krank vom Aufbau vor den Eingang ihrer Schau tritt, sich lachend auf einen Barhocker fallen lässt, so etwas sagt wie: "I love you all" und "Viel Spaß bei der Ausstellung", ahnt man, dass dies die Fee ist, die kommt, wenn man den Zauberspruch sagt – die Mutter, die Schwester, die Freundin, die godmother, die zur Hilfe eilt, wenn keiner da ist. Nicht umsonst ist ihr Pseudonym zu einer Hälfte vaginal und zur anderen der Nachnamen der Schwarzen Bürgerrechtlerin Angela Davis, einer feministischen, marxistischen Symbolfigur der Black-Power-Bewegung und der Neuen Linken.
Erweckung durch die "Zauberflöte"
Einige werden jetzt fragen: "Vaginal wer?", noch nie gehört. Doch in der Szene ist sie seit Jahrzehnten eine Legende, und in der ausgebluteten, von sich selbst gelangweilten Kunstwelt ist Miss Davis gerade dabei, ihre Regentschaft anzutreten. Anfang der 1960er in South Central Los Angeles als Intersex-Kind einer Schwarzen kreolischen Mutter geboren, wächst sie als queerer Teenager in armen Verhältnissen auf, in einem "druidischen Wicca-Hexenzirkel", wie sie später sagt.
Ihre Mutter entscheidet sich gegen eine Geschlechtsangleichung ihres Kindes, und Vaginal wird als Tochter und Schwester behandelt. Schon als Kind kommt Davis in ein Programm für begabte Schülerinnen und Schüler des öffentlichen Systems von Los Angeles, wo sie Kunst, Theater und Opern wie etwa Mozarts "Zauberflöte" kennenlernt, die sie erst siebenjährig im Shrine Auditorium sieht. Dieses Erlebnis wird sie für immer prägen, ebenso wie der Hunger nach Büchern, Kultur, Bildung. Als erstes Mitglied ihrer Familie wird sie auf eine Universität gehen, an der UCLA Englisch und Philosophie studieren.
"Queer, wie in fuck you"
Doch "queer" zu sein hieß damals, wie ein Freund von ihr sagt, "sich querzustellen, nicht reinzupassen, wie in fuck you, nicht wie in ausgestopften Plüsch-Einhörnern". Davis wird in den späten 1970ern und frühen 1980ern Teil der Punk-Bewegung an der Westküste, macht Performance-Shows, die man später "Terrorist Drag" nennen wird, produziert Homo-Core-Fanzines, gründet Bands mit so tollen Namen wie Afro Sisters, Cholita!, Pedro, Muriel & Esther (PME), und Black Fag – was soviel heißt wie "Schwarze Tunte". Letzteres ist eine Anspielung auf eine der berühmtesten Westcoast-Bands, Black Flag, mit ihrem weißen Frontmann Henry Rollins und auf die ziemlich machomäßige, oft auch homophobe Punk-Szene.
Die Afro Sisters spielen als Vorgruppe für Bands wie The Smiths und die Happy Mondays, die durch die USA touren. Davis beginnt, Untergrundfilme zu drehen, spielt in den Filmen anderer mit, wie etwa bei Bruce La Bruce, und bezeichnet sich als "Blacktress", kurz für black actress. Sie wird Cineastin, schreibt über Filme, Musik, Kunst, Sex, Klatsch, Literatur, Politik, Philosophie. Sie malt, zeichnet, collagiert, kuratiert, betreibt zwischen 1982 und 1989 in ihrer Wohnung eine Galerie, die sie HAG Gallery nennt. Eine hag ist eine alte Vettel, eine unattraktive, geile Schlampe. Eine fag hag nennt man eine Schwulenmutti, die meist kaum Heterofreunde und keine boyfriends hat, weil sie selbst schrill ist wie eine Tunte.
Die Galerie ist eine Hommage an alle hags, und an Leute, die sich selbst nicht als Künstler sehen, ihre Sachen aber ausstellen wollen. Und Miss Davis produziert ihre "Kunst" fast ohne Unterstützung von Institutionen oder mächtigen Galerien, auch noch, als sie längst von anderen Künstlern verehrt wird. Sie arbeitet in Clubs, Off-Spaces und Theatern, Kinos, Projekträumen, Cabarets, auf Festivals. Sie verlegt ihre "Queer Core Zines" wie "Fertile La Toya Jackson" oder "Shrimp - The magazine for licking and sucking bigger and better feet" selbst. 2005, als sie aus ihrer geliebten Wohnung in LA fliegt, zieht sie nach Berlin, wo sie schon länger mit dem Hardcore Kunst- und Performancekollektiv CHEAP (Susanne Sachse und Marc Spiegler) zusammenarbeitet hat – und wird auch in der deutschen Hauptstadt zur wichtigen Protagonistin der queeren Kunstszene.
Ein Haus aus Celluloid, Haarspray, Mythen, Sex und Traumata
Jetzt, 20 Jahre nach ihrer Ankunft, zeigt der Gropius Bau diese groß angelegte Ausstellung, die von Hendrik Folkerts für das Moderna Museet in Stockholm kuratiert wurde und im Herbst von Berlin nach New York ins PS1 weiterwandert. Vor vier Jahren, also schon in den Anfängen der Pandemie, haben Folkerts, Miss Davis, das Team des Museums, und ein ganzer Kreis von Freunden und Kollaborateurinnen begonnen, an dieser Schau zu arbeiten. In Berlin ist sie fast zeitgleich mit der großen Leigh-Bowery-Retrospektive in der Londoner Tate Modern zu sehen. Diese ehrt ebenfalls einen legendären "Künstler", der, ähnlich wie Davis, zeit seines Lebens fast gänzlich ohne Rückhalt von Museen und Institutionen auskommen musste, seine "Kunst" woanders entwickelte und präsentierte. Der Zeitpunkt kommt wie gerufen. Es scheint, als gingen jetzt endlich mal die Türen der Institutionen auf, während die neuen und alten Faschisten und Autokraten versuchen, genau diese Kultur, diese Geschichte, die Leigh Bowery und Vaginal Davis repräsentieren, auszulöschen.
Doch im Gegensatz zu Bowery, der 1994 an den Folgen von Aids starb, und tausenden von anderen, die von HIV, Krankheiten, Drogen, Armut, psychischen Problemen, auch von mangelnder Anerkennung dahingerafft wurden, lebt Davis. Und im Gegensatz zu Bowery hat sie Theorie und Philosophie im Gepäck, Jahrzehnte mehr an Erfahrung – und ein geradezu universelles Wissen.
"Wenn es ein Wort gibt, das Vaginal Davis beschreibt, wäre es Polymath oder Polyhistor", schreibt Diedrich Diederichsen zur Ausstellung in der "Taz": "Diese Frau weiß alles. In den Gebieten Geschichte politischer Radikalität, Hollywood und Los Angeles, over- und underground, queere Zeitgeschichte, allgemeine Kulturgeschichte der Welt und überhaupt alles." Und all dieses Wissen und diese Erfahrungen reicht Miss Davis großzügig an uns weiter – nicht besserwisserisch, arrogant oder streberhaft, sondern voller Wärme, Härte und Witz. Diese Ausstellung ist wie in Diana Ross' Song "It’s My House" mit Liebe und für die Liebe gebaut: ein pinkes Haus aus Celluloid, Haarspray, Mythen, Sex und Traumata, in dem jedes Zimmer eine Lektion, ein teaching ist. Und dieses wird nicht frontal und autoritär vermittelt, sondern wie eine intime, kollektive Erfahrung. Denn Miss Davis, die superschicke hag, lebt nicht allein hier, sondern hat ständig Gäste.
Follow the Yellow Brick Road
Der erste Raum, quasi das Entree mit dem pornografischen Titel "Naked on my Ozgoad: Fausthaus – Anal Deep Throat", führt (auch wenn sich das nicht so anhört) direkt in die Kindheit; zurück zu einem Buch, das in den späten Sixties alle Kinder und Schwulen in den USA kannten – zu Frank Baums Klassiker "Der Zauberer von Oz"(1900). Der inspirierte auch die erste Kunstausstellung von Vaginal Davis, die sie im zarten Alter von acht Jahren in der Pio Pico Library in Los Angeles zeigte.
Der Film von 1939 mit Judy Garland als Dorothy, den campen und soften Anti-Helden, dem Blechmann, der Vogelscheuche, dem weinerlichen Löwen, den fliegenden Affen, Hexen und Munchkins war ein Hollywood-Blockbuster und zugleich ein queerer und subkultureller Hit. Das lag nicht nur an den tollen Kostümen und Landschaften und den exaltierten Outsider-Figuren, sondern auch an den magischen, traumatischen und durchaus dekadenten Szenen, die überhaupt nicht kindgerecht sind und eher an einen auch unheimlichen LSD-Rausch erinnern. Den Grundstein für diese befremdliche Schönheit legten die von Art-Deco und Jugendstil inspirierten Illustrationen von W. Denslow in den Originalausgaben, die schon eine bestimmte Richtung vorgaben.
Die Bücher liegen in der Mitte des Raums in einer Vitrine, die Wände sind mit Miss Davis‘ eigenen Versionen der Figuren bemalt. Die Oz-Charaktere finden sich als Alu-Skulpturen auf Boxen wieder, aus denen die Stimmen von Davis‘ Freunden plärren, auch klitzeklein, wie die Munchkin-Zwerge im Film. Das Irre ist, dass Miss Davis die Skulpturen mit Make-up geschminkt oder bestäubt hat, in femininen, kindlichen Disco-Weihnachtsfarben, die mich zugleich an diesen Satz von Walter Benjamin denken lassen: "O braungebackne Siegessäule mit Winterzucker aus den Kindertagen".
Alles hier ist monumental, Technicolor, historisch und zugleich fein versponnen, intim, süß, so schön, dass man es in die Tasche stecken und mitnehmen möchte. Die Wandbilder sind unglaublich gemalt, wie Karikaturen aus der Moderne, Kinderzeichnungen, Art Brut, Illustrationen aus der American-Graffiti-Ära. Und zugleich ist da etwas fast Sakrales. Der Raum setzt quasi den Ton für die Schau, das Gefühl von Kindheit, Femininität, Spott, Revolte, Glamour und geheimem Wissen.
Inauguration of the Pleasuredome
Und dann ist da tatsächlich das Sixties-Kino, oder besser die Pappfassade eines Kinos, die Installation "The Carla DuPlantier Cinerama Dome", die an die ikonische Architektur des Cinerama Dome am Sunset Boulevard angelehnt ist. Drinnen gibt eine abgedunkelte Lobby mit Stühlen und Tischchen und einen Kinosaal, in denen Vaginal-Davis-Filme wie "That Fertile Feeling" (1983) zu sehen sind, in dem sie mit ihrer Freundin Fertile La Toya Jackson die Hauptrollen spielt - der hatte Miss Davis auch das Fanzine "Fertile La Toya Jackson Magazine" gewidmet.
Im Film entbindet Fertile in der Wohnung ihres ständig nackten boyfriends natürlich Elfllinge, und natürlich spürt man den Einfluss von Andy Warhol und Factory-Superstars wie Holy Woodlawn oder den der frühen Filme von John Waters. Heute ist der Film ein queerer Klassiker. Damals hassten ihn alle Gay- und Lesben-Filmfestivals und sendeten total entmutigende Absagen. Erst durch die Vorführung bei nicht ausdrücklich queeren Festivals wurde Davis‘ filmisches Werk bekannt. Auch dies ist Thema der Ausstellung: ein Leben, eine Kunst, die zu gay für Punk und zu punkig für die Gay-Szene war. Das Wort queer, das heute so inflationär benutzt wird, gab es damals noch nicht.
Das Kino ist bei Davis ein Initiationsraum. In diesem Sinne ist er ihrer Cousine Carla gewidmet, die schon in einer Band spielt, Model bei Vivien Westwood wird und Davis in die Punk-Kultur einführt. Das Dunkel des Kinos, erinnert an Porno, Popcorn, an Mitternachts-Specials, europäische Avantgarde-Filme, Slasher-Movies, B-Filme, in die man high auf Speed rennt.
Die Gen Z kann hier was lernen
Miss Davis' Kunst hat unglaublich viel mit dem Hollywood von Kenneth Anger (1927- 2023) zu tun, dem Pionier des US-Untergrundfilms, der vom Okkultismus Alistair Crowleys beeinflusst war und bahnbrechende, schwule Avantgardefilme wie "Inauguration of the Pleasuredome" (1954), "Scorpio Rising" (1963) oder "Luzifer Rising" (1966) drehte.
Im Mainstream bekannt wurde er aber 1959 mit "Hollywood Babylon", einem Klatschbuch der Superlative, in dem die Skandale und Gerüchte der goldenen Hollywood-Ära schonungslos ausgeschlachtet werden. Auch Miss Davis steht, ähnlich wie Warhol, in dieser Gossip-Tradition, die Teil des Kunstwerks ist. Viele von ihren Filmen und Texten sind Konversations-Werke, in denen Klatsch eine regelrecht formale Angelegenheit wird, bei der nicht entscheidend ist, was, sondern wie es gesagt wird.
Art people der Generation Z können das hier lernen und die politisch inkorrekten, absolut nicht kommerziellen Anfänge "queerer" Kultur miterleben, die "dreckige" Sprache, den Look von Mädchengangs und Freaks, der sich von der spießigen Homo- und Lesbenkultur absetzen will. Diese auch als "Homocore" oder "Queercore" bezeichnete Bewegung entsteht am Rand des Prekären, ist superregressiv, exzessiv, süchtig – und intellektuell. Nicht nur Identität, Sex, Hautfarbe, sondern auch Klasse und Kapitalismus werden ohne Rücksicht auf seelische Befindlichkeiten verhandelt. Wie heute wollten alle Stars werden. Doch niemand dachte damals ernsthaft darüber nach, "Kunst" zu machen, um damit in einem Museum oder einer Institution ein Praktikum zu bekommen, akademische Karriere zu machen, ein global player zu werden, mit Superreichen zu dinieren - auch wenn man mit ihnen sicher mal auf dem Klo oder im Bett landete.
Als ob man sich im Wohnzimmer hinter der Gardine versteckt
Im Kino gibt es eine tolle Archiv-Wand mit Fotos, Flyern, Dokumenten. Allerdings ist sie mit einem grünen Gazeschleier verhangen. "Oh scheiße", denke ich, "da ist es, dieses 'Opake', Geheimbündlerische, was man gerade überall sieht." Doch in diesem Moment erklärt Hendrik Folkerts, man könne die transparenten Vorhänge ruhig auch zur Seite ziehen und dahinter gehen, sich die Sachen ansehen. Man steht dann ganz nah vor der Wand, in Gruppen von fremden Menschen, wie in einem selbstgebauten Zelt. Als ob man sich im Wohnzimmer hinter der Gardine versteckt.
Aus den Debatten um queere Sichtbarkeit und Opazität mach Davis eine körperliche, auch kindliche Erfahrung, die nicht kindisch, sondern ziemlich komplex ist. Und man kriegt hier nicht alles serviert, sondern muss etwas tun, sich bewegen, sich einlassen. Miss Davis ist wirklich eine Magierin. In der architektonisch minimalistisch gestalteten Sektion der Hag Gallery hängen schwere, körperliche Brotskulpturen, die an prähistorische Muttergottheiten denken lassen, denen man Rituale widmen könnte.
Miss Davis hat in Interviews immer wieder betont, wie entscheidend ihre Mutter, Mary Magdalene de Plantier, für ihre Kunst war. Mary oder Maria machte aus allen möglichen Dingen, die sie im Haus fand, Assemblagen, die sie verschenkte und irgendwann zerstörte, wenn sie übrigblieben. Und wie auch Miss Davis, arbeitete sie mit Make-up oder Eyeliner, benutzte vor allem Sachen aus femininen und häuslichen Kontexten.
Wicked
Überall in der Ausstellung sieht man diese unglaublich gut gemalten Porträts von Davis' Heroinen. So auch in der "Fantasia Library", die zum "Wicked Pavillon" gehört. Die Bibliothek beherbergt eine Sammlung von über 500 fiktiven, (noch) nicht geschriebenen Büchern in pastellrosa Einbänden. Darunter sind Titel wie "My Deliberative Body", "The Fiscal Clit", "Hollywood Speaks" und "The Hottentotten". In Vitrinen liegen Requisiten von Performances und Bücher, die prägend für Davis waren.
Dazu zeigt sie Porträts von ihren Heldinnen aus der Literatur und Kultur: etwa der LA-Poetin Wanda Coleman, der legendären kalifornischen Essayistin Joan Didion, von der Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde und der Sängerin Minnie Riperton, die einen der schönsten Soul-Songs der Welt geschrieben und gesungen hat: "Loving You" (1974).
Im Katalog listet Hendrik Folkerts die Zutaten auf, mit denen Vaginal Davis das Porträt von Wanda Coleman gemalt hat: "Gefundenes Papier, Schminkstifte, Mascara, Lidschatten, Liquid Eyeliner, Rouge, Lippenbalsam, Max Factor Foundation, Metallic-Tempera, Hamamelis-Wasser mit Alraune, Bilsenkraut und Stechapfel, Wasserstoffperoxid, Glycerin, Aquarellstifte, abgelaufene, rezeptfreie Medikamente, darunter Anacin, Excedrin, und Lydia E. Pinkham Health Tonic, Kokosnussöl, Nagellack, Emaille, Parfüm, "Aqua Net Extra Strength"-Haarspray."
Ein Riesenbratwurst-Schwanz im Teenager-Bett
Das ist nicht nur voll Wicca-mäßig, sondern wie Poesie oder ein Zauberspruch. Ich bin sicher, sie benutzt Sachen nur wegen des Klangs ihres Namens. Oder sinnbildlich. Es wird schon durch Wandzitate klar, dass Miss Davis auf fette Schwänze steht. Gleich nebenan, im Jugendzimmer der Poetin liegt ein Riesenbratwurst-Schwanz im Teenager-Bett; superlustig, aber auch irgendwie verheißungsvoll.
Die Autorin Dodie Bellamy erläutert im Katalog: "[Vaginal] Davis hat mehrfach erklärt, dass sie nirgendwo hineinpasst … Die Sprache ist der Ort, an dem sie einen ausschließenden Kosmos umdeutet und dabei eine Alternative erschafft, in der sie einen Platz hat." Tatsächlich ist alles, was Miss Davis tut oder produziert, materialisierte, zu Bild und Raum, zu Performance oder Film gewordene Sprache. Eine anzügliche, elegante Konversation, ein James-Joyce-Kate-Bush-artiger Monolog, ein unendliches Gedicht, ein überlebensgroßer, böser Witz, ein Sermon, ein Jazzsong, eine Kurzgeschichte von Dorothy Parker, die Djuna Barnes illustriert hat.
Bevor die Ausstellung in einer Installation des Künstlerkollektivs Cheap endet, in der die ikonischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Fotokünstlerin Anette Frick aus den frühen Tagen des hedonistischen Cheap-Klubs hängen, kommt noch die "Hofpfisterei". Diese Sektion ist dem Schreiben gewidmet. In einer Art Arbeitszimmer findet sich eine riesige Sammlung von Textmaterial, das seit den 1980er-Jahren bis in die Gegenwart entstanden ist: Flugblätter, Essays, Fanzines, Ausdrucke aus dem von Davis vor 1000 Jahren gestartetem Blog "Speaking from the Diaphragm", Zeitungen, Klatschmagazine, in denen über die Künstlerin berichtet wird.
Eine Arte Povera ohne Pathos
Das Tolle: Man kann nicht nur alles aus der "Hofpfisterei" lesen, sondern an einem riesigen Kopierer vervielfältigen und mit nach Hause nehmen, wie frisch gebackenes Brot vom Hof, oder einen Typen, der einen mal richtig durchfistet. Oder nur einen Tee mit dir trinkt, weil du wegen all des Horrors, der gerade passiert, nicht mehr kannst.
Miss Davis' Ausstellung ist das Hoffnungsvollste, Menschlichste, was ich in der Kunstwelt seit langem gesehen habe. Dies ist eine Meilenstein-Ausstellung, weil sie zeigt, dass wir nicht verzweifeln müssen, dass wir alle, auch pleite, mit Depressionen, voll freakig, etwas machen, uns wehren, für unsere Rechte kämpfen und vor allem Freude erleben können. Diese Schau zeigt, was Institutionen beitragen können, was sie tun müssen. Sie zeigt, wie wichtig die Archivierung und Vermittlung der Werke von Menschen ist, die so lange ohne fette Galerien und Geld, ohne große Anerkennung, oft als "Autodidakten" mit dem klarkommen mussten, was gerade da war: einer Kamera, einem Kopierer, einem miesen Nebenjob, der Bühne eines Clubs. Auf gewisse Weise ist dies eine Arte Povera ohne Pathos.
Das große Wunder ist jedoch die Sprache, die Miss Davis uns schenkt – ein Antidot zu dieser homogenisierten, akademischen, kontrollierenden und übervorsichtigen Rede, die woke tut, aber in Wirklichkeit corporate und herzlos ist. Diese Ausstellung ist keine Retrospektive, sondern ein teaching für nachfolgende Generationen. Eine Ermutigung, jetzt in der Krise eine authentischere, mütterlichere, obszönere Stimme in der Kunst zu finden, die wirklich ein Gegenüber meint, und nicht Kohle oder einen besseren Job. Man sollte für diese Ausstellung Zehnerkarten wie fürs Schwimmbad verteilen, damit man im Sommer, der sicher schrecklich wird, immer wieder kommen kann, weiter gucken und lesen, Kraft schöpfen. Für mich eine 12 von 10.