Wer jetzt einen Zug nach Florenz erwischt, kann etwas Außergewöhnliches erleben. Von der Stazione Santa Maria Novella, dem größten Bahnhof von Florenz, läuft es sich entspannt in Richtung historisches Zentrum. Die Straßen sind still, flimmern in der Hitze, die seit Ende Juni wieder in ihnen steht. Wenige Florentiner sieht man hindurchhaschen. Am heißen Nachmittag bin ich fast allein, die Einwohner wissen von der Notwendigkeit der Siesta, die von Besuchern meist ignoriert wird. Die berühmten Anziehungspunkte in dem touristischen Viertel nahe des Bahnhofs sind fast alle geschlossen, die Hotels genauso, die unaufhaltsame Ausbreitung des Corona-Virus hatte dazu gezwungen.
Da die Stadtteile mit den wichtigsten Sehenswürdigkeiten – den Uffizien, dem Duomo, der Kirche Santa Maria Novella – fast ausschließlich für den touristischen Betrieb genutzt werden, die Florentiner schon vor langer Zeit in die außerhalb des Stadtkerns liegenden Gebiete gezogen sind, erlebt man eine völlig neue Leere. Anders als kurz vor dem Lockdown jedoch keine bedrohliche, sondern eine angenehm schöne.
Die Stadt hat Platz zum Atmen, endlich. Ich spaziere durch ein Florenz, das einem langersehnten Wunsch der Bewohner gleicht: freie Plätze, wie die riesige Piazza Santa Croce, mit einem einzelnen Eisesser. Kein einziges hochgerecktes Fähnchen markiert den Beginn einer Reisegruppe, die im Entenmarsch die Straßen blockiert. Kein Müll, kaum Taxis, keine Innenstadt wie ein flirrendes Wimmelbild, das zur direkten Flucht bewegt.
Die Bewohner haben ihre Stadt zurück. Von den Touristen, nach Jahrzehnten. Und gleichzeitig von dem alles erlahmenden Corona-Virus, nach zwei Monaten strengsten Lockdowns. Piano piano. Den Schock, den die Einwohner erlebt haben, spüre ich als eine ungewohnte Ernsthaftigkeit, die während kleiner Gespräche und herzlicher Begrüßungen durchscheint. Noch vor dem Buon Giorno wartet eine große Flasche disinfezione delle mani, sie grüßt und verabschiedet mich in jedem Lokal oder Ladengeschäft als erstes und letztes. Auch die Maskenpflicht greift in Italien, Mundschutze baumeln an Handgelenken, Ohren und Brillenbändern und werden gewissenhaft benutzt. Die Schulen sind noch immer geschlossen, sowie die Universitäten und Bibliotheken, doch ein abendlicher Aperitivo ist glücklicherweise möglich, an luftig verteilten Tischen mit Tischbedienung. Zusammen spät abends draußen essen ist den Italienern wichtig, gerade jetzt, im bedingungslos warmen Sommer.
Italienischer Juli – Freibadbesuche zum gebuchten Zeitfenster, gesperrte Parks, nicht eine einzige Veranstaltung findet am Arnoufer statt. Ich will den Florentinern in ihrer heilenden Stadt nicht zu nahe treten. Ein sachtes Schuldgefühl, die absolute Quarantäne nicht mitgemacht zu haben kommt hoch, wenn ich die Geschichten der Hiergebliebenen höre. Eine Freundin klagt über Erschöpfungszustände nach nur kurzen Wegen und das Verlernen sozialer Interaktion nach dem Eingesperrtsein. Wie es sich anfühlt, wenn bloß dreihundert Kilometer nördlich Menschen sterben, weil ihnen medizinische Hilfe verwehrt werden muss, musste ich nicht erfahren.
Die krasse Furcht habe sich bestimmt einen Monat in der Stadt gehalten, aber jetzt spüre man sie kaum noch, erzählt mir eine Bewohnerin des Viertels Le Cure. Die aktuelle Phase, die Anfang Juni begann, als Italien sich langsam wieder öffnete, empfindet sie als wunderschön. Unruhe und Angst vor der Zukunft seien vorerst verschwunden. Die Florentiner seien sehr aktiv in ihrer ruhigen Stadt, haben freie Eintritte in die Museen wahrgenommen, empfinden eine große Lust, neu zu beginnen und auch die Stadt anders zu gestalten. Ein Bekannter aus dem Kulturbetrieb erzählt von langsam wieder startenden Events, von Aufführungen in Freilufttheatern und kleinen Fahrradtouren durch ausgewählte Stadtteile, die mit Anekdoten über die Viertel und Musik begleitet werden. Ein neuer Rhythmus entstehe, nach und nach öffnen die Museen, die staatlichen allerdings mit stark verkürzten Öffnungszeiten, sonst wird es zu teuer.
"Gebt die Stadt denen zurück, die in ihr leben!"
Si, si, ein Neuanfang könnte so schön sein, würde das Geld nicht fehlen. Denn die Commune Firenze ist abhängig von den Einnahmen, die sie durch den Tourismus erzielt, den Steuern, die Hotels und Restaurants an sie zahlen müssen. Von diesen haben aber viele noch gar nicht geöffnet, es lohnt sich nicht. Auch die Aufenthaltssteuer der Touristen entfällt, die Stadt ist am Limit, kündigte an, ihre Angestellten entlassen zu müssen. Klar zeigt sich, wie in den letzten Jahren gewirtschaftet wurde. Und auch wenn es eine kleine finanzielle Hilfe für Freiarbeitende gab, steht eine Kompensation für Künstler und Kulturschaffende ziemlich am Ende der Prioritätenliste einer Stadt, die pleite ist. Viele Bewohner fühlen sich übergangen, wünschen sich eine ganze andere Nutzung ihres Florenz, schon lange.
Eine halbe Orange wird auf der Kuppel der Duomos ausgequetscht, deren Form mühelos an eine Zitronenpresse erinnert. "Basta Spremere Firenze" steht daneben - man höre damit auf, Florenz auszuquetschen. Darunter: "Wir kehren nicht zur Normalität zurück, denn die Touristifizierung war das Problem." Es ist ein überall in der Stadt zu findendes, plakatiertes Manifest der Organisation "Perunaltracittà", die auf ihrer Website anprangert, was Florenz in eine Post-Corona-Krise stürzt. Jahrelang wurde der Tourismus als Monokultur in Florenz gepflegt und gedieh, die daraus resultierenden Einnahmen jedoch flossen nicht an die Bevölkerung, sondern an Hoteliers, die davon wiederum Grundstücke bezahlten, für mehr Apartments, mehr Hotels. Nun will die Stadt weitere Immobilien verkaufen, um kurzfristig etwas Geld einzunehmen. Ein Teufelskreis, gegen den zu einer Versammlung auf der Piazza dei Ciompi aufgerufen wird. "Gebt die Stadt denen zurück, die in ihr leben!", wird gefordert, sowie ein bewohnbares Zentrum. Bedenkt man die Pferdekutschen, die kurz verweilende Besucher für ein authentisches Stadterlebnis durch die engen Gassen kutschieren, während die Einwohner wie Statisten im Hintergrund agieren, sprechen wir von einem Normalzustand, der sicher keiner sein sollte.
Es gibt kein zurück. Auch die Città di Firenze präsentiert ein frisches Stadtkonzept, als Orientierung beim langsamen Neustart. Unmittelbar neben den halben Orangen klebt die Kampagne zu Firenzes Wiedergeburt: "Rinasce Firenze" steht da in riesigen Lettern, "überdenken wir die Stadt". Mit einem Plan von neun Punkten möchte sie zusammen mit den Anregungen der Bürger Florenz lebenswerter machen. Grüne Mobilität, ein neues historisches Zentrum, Kinder und Familien im Mittelpunkt und eine Entwicklung der städtischen Wirtschaft sind aufgelistet. Und auch Kultur – ein Bereich, der unter der Pandemie ganz besonders gelitten hat.
Der Wunsch, sich wieder zu begegnen
"Anders als in Deutschland gibt es in Italien keine bedingungslose Förderung für Künstler. Vor allem die Unterstützung von zeitgenössischer Kunst ist stets auf Ergebnisse ausgerichtet und nur für ausgewählte Projekte zu bekommen, was gerade jetzt für viele problematisch ist," erklärt auch Angelika Stepken, die Direktorin der Villa Romana.
Das Künstlerhaus stand während des Lockdowns leer, dank der langsamen Rückkehr der Preisträger und seinem neuen Projekt, der "Scuola Popolare", wird es dort nun wieder lebendig. Rasch nach Ankündigung des Lockdowns gab es schon ein Villa-Romana-Onlineangebot mit dem Filmprogramm "Art is always public" und der Ausstellung "OnLife", und langsam beginnt auch die Arbeit im physischen Raum. "Nach den Monaten völliger Isolation war ein großer Wunsch entstanden, sich wieder zu begegnen, ein Bedürfnis, miteinander zu sprechen, zu reflektieren, was passiert ist und zu überlegen, wie es nun weiter gehen kann", erzählt die Direktorin. Ein kleines, überschaubares Format sollte dies ermöglichen und so startete sie den Aufruf zur "Scuola Popolare".
Über 80 Projektvorschläge seien zusammen gekommen, von Künstlern, Soziologen, Analytikern - sodass nun jeden Tag bis zum 22. September eine Veranstaltung im weitläufigen Garten der Villa Romana stattfindet. Das kostenlose, weitgespannte Angebot von Workshops, Lesungen und Diskussionen ist offen für alle und so kommt neben den neuen Veranstaltern auch ein ganz neues Publikum zusammen. "Auch, wenn die Museen jetzt wieder öffnen, haben die Menschen nach den letzten Monaten kein großes Bedürfnis, alleine in verdunkelte Räume zu gehen. Wir spüren eine große Freude, über den engeren Austausch und das produktive Zusammensein," so Stepken.
Im September werden parallel zu dem neuen Programm wieder die Ausstellungen in der Villa beginnen. "Was lernen wir selber durch die 'Scuola Popolare', was führen wir weiter, was wird uns verändern? Wir werden sehen, was daraus entsteht," sagt Angelika Stepken über Zukunftsgedanken des Künstlerhauses. Zusätzlich werde an einer Neustrukturierung im Digitalen, der Website und des institutionellen Archivs gearbeitet. Ein frei zugänglicher Wissensraum solle kreiert werden, eine Art horizontales Archiv, eine historische Ablage, mit den vergangenen Projekten der Villa Romana, einfach abrufbar.
Mehr Zeit mit der Kunst, ohne weggedrängelt zu werden
Ihren digitalen Auftritt optimal genutzt haben auch die Uffizien. Neben einem Instagram- und Facebook-Account pflegt eines der berühmtesten italienischen Museen auch einen bei dem Gen-Z-Portal kurzer Handyvideos, TikTok. 27,8 Tausend Abonnenten folgen den sekundenschnellen Präsentationen zu Gemälden und Statuen, die Online-Touren durch die Uffizien besuchten während der Isolation 3,8 Millionen Zuschauer. Ein großer Vorteil des virtuellen Museums ist die Zeit, die man vor den Werken verbringen kann, ohne weggedrängelt zu werden. Man beschäftigt sich vielleicht intensiver mit den gesammelten Kunstschätzen, ihren Hintergründen und das Verlangen, die gesamte Tour mit dem Handy festzuhalten, bleibt aus. Langsame Museumsbesuche wieder normalisieren, kein "selfie und run" – auch analog ist diese Art von "Slow Museum", die sich der deutsche Museumsdirektor Eike Schmidt schon vor der Pandemie wünschte, momentan möglich. Nach 85 Tagen Sperre warteten die Italiener am 3. Juni in langen Schlangen vor den Uffizien. Im Gebäude wurden mehr Bänke aufgestellt, die zum längeren Verweilen einladen, zum Auseinandersetzen mit Werken, die nicht als klassische Must Sees gelten. Durch die Mindestabstandsregel von einem Meter achtzig und die Einlassbeschränkungen wird der Museumsbesuch wieder mehr ein Erlebnis als ein Kampf.
So gerne ich auf Menschenmassen in Museen verzichte, desto schöner ist es, wenn sich am Wochenende die Piazza Santo Spirito im Stadtteil Oltrarno füllt. "Hinter dem Arno", auf der anderen Flussseite, zwischen traditionellem Handwerk und den florentinischen Ureinwohnern, spüre ich die Erleichterung, während auf der Treppe der Chiesa Santo Spirito Pizza, Rotwein, viele junge Menschen und kleine Hunde zueinander finden.