Es ist, als stecke dem Bitterfelder Kulturpalast die letzte Veranstaltung noch in den Knochen. Das Getümmel in der verspiegelten Eingangshalle unter dem erloschenen Schein der prächtigen Sputnik-Kronleuchter, die verstummte Musik des Orchesters und den Applaus des Publikums im großen Theatersaal scheint der Ort gespeichert zu haben. Es macht sich das Gefühl breit, der Palast sei seit seiner Schließung 2015 in einen tiefen Dornröschenschlaf gefallen.
Wie viele andere Bauwerke der DDR ereilte den streng gegliederten Bau in Bitterfeld das Schicksal der gesamtgesellschaftlichen Gleichgültigkeit. Bis heute existieren nicht mal mehr eine Handvoll Kulturpaläste – die meisten wurden abgerissen oder leben als Ruine weiter. Doch anders als beim Berliner Palast der Republik konnte das drohende Urteil, das einen Abriss in Bitterfeld zur Folge gehabt hätte, auf Initiative des Veranstaltungsmanagers Matthias Goßler, abgewendet und das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt werden. Die Wiedereröffnung des Hauses wird Goßler, der in der Nacht des 20. Juni bei einem Autounfall tödlich verunglückte, nun nicht mehr miterleben.
Gerade das Bitterfelder Volkshaus, das von den DDR-Bürgerinnen und -Bürgern in "Freiwilliger Arbeit" errichtet wurde, verkörpert durch seine historische Rolle als Austragungsort der Konferenzen des Bitterfelder Wegs, in den Jahren 1959 und 1964, wie kein anderes die Kulturdoktrin des jungen sozialistischen Staates.
"Greif zur Feder, Kumpel"
Unter dem Slogan "Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische Nationalkultur braucht dich!" sollten Arbeit und Kunst ineinandergreifen. "Es ging darum, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter angeregt werden, zu schreiben, ihren Arbeitsalltag in Texten festhalten und wiederum Schriftstellerinnen und Schriftsteller in die Kombinate zu schicken. Die Kreativität, die die Kunst entwickelt, sollte genutzt werden, um eine Veränderung der Verhältnisse zu erreichen", erklärt Kunsthistorikerin Nike Bätzner. So entstanden aus dem Leitgedanken der Bewegung in Bitterfeld über 70 Zirkel verschiedener Kunstsparten, von Malerei über Fotografie bis Ballett, die von regional bekannten Künstlern wie Walter Dötsch, Bernhard Franke oder Wolfgang Petrovsky geleitet wurden.
Dötschs Gemälde "Brigade Mamai" im Stil des sozialistischen Realismus, das die Arbeiter des Bitterfelder Aluminiumwerks zeigt, galt als Paradebeispiel für den Einbezug von Kunst in die Fabrikarbeit und steht so programmatisch für den Bitterfelder Weg. "Die Arbeiterinnen und Arbeiter sollten also im Palast die Möglichkeit erhalten, sich mit Kultur auseinanderzusetzen, zu feiern, zu essen und vielleicht ein Feierabendbier zu genießen. In Bitterfeld gingen vom Kulturpalast beispielsweise auch die Busse ab, die die Menschen abends in ihre Wohnviertel brachten", so Bätzner weiter.
Der Palast war also von Anfang an ein Ort der Begegnung und des kreativen Austauschs. Doch mit der Wende wurde eine ganze Epoche mit eigener Kultur abgeschlossen, an die man sich so schnell nicht wieder erinnern wollte. "Grundsätzlich ist das Erbe des Bitterfelder Wegs aber eine Sache, die immer noch in der Diskussion ist. Wie kann man die Schwellen überwinden zwischen Kunstschaffenden und denjenigen, die malochen und sich nicht regelmäßig in Museen begeben? Wie kann man sie mit etwas in Verbindung bringen, das ihnen kreative Impulse für ihr eigenes Leben und ihre Arbeit gibt?", fragt Bätzner.
Kunstfestival mit plakativem Titel
Das haben auch die aus dem Osten stammenden ehemaligen Gorki-Dramaturgen Aljoscha Begrich und Ludwig Haugk und die Dramaturgin Christine Leyerle erkannt und sich zur Aufgabe gemacht, den Bitterfelder Kulturpalast in diesem Sommer aus dem Delirium zu holen: Im Rahmen des Kunstfestivals mit dem plakativen Titel Osten wird die neoklassizistische Monumentalarchitektur vom 1. bis zum 17. Juli als Festivalzentrum dienen. Nach dem Tod Goßlers, ohne den das Festival so nicht hätte geplant werden können, drohte zunächst die Absage. Doch nun entscheid sich die Festivalleitung, die Großveranstaltung dem Unternehmer und Visionär, wie er oft genannt wurde, zu widmen.
Mit dem Verein Kulturpark e.V. arbeiten die drei eng mit Netzwerken vor Ort und aus der Region zusammen. "Das Festival ist nicht von uns durchkuratiert, sondern im gemeinschaftlichen Austausch entstanden, aus einem gegenseitigen Verständnis, wie man Kunst herstellt", so Begrich.
Demnach vereint das Programm über 70 Produktionen aus den Sparten Theater, Musik, Film und bildende Kunst. Geplant sind mehrheitlich partizipative Formaten wie Ausflüge, Gespräche und Workshops, aber auch Ausstellungen und Audio-Walks. "Zudem sind unsere Projekte darauf ausgelegt, dass Künstlerinnen und Künstler mit Menschen aus der Region und nicht-professionellen Kunstschaffenden zusammenarbeiten und gemeinsam Dinge entstehen zu lassen", erklärt Leyerle. Die Idee der Verbindung von Kunst und Leben des Bitterfelder Wegs soll hier also weitergetragen werden.
Die Kraft, sich zurückzukämpfen
Neben der kulturellen Symbolik des Ortes sah die künstlerische Leitung auch historische und politische Potenziale in Bitterfeld. "In den letzten Jahren wuchs die Hoffnung, dass Probleme sich von allein auflösen und dass die ehemalige DDR so wird, wie die BRD. Doch das hat sich als Irrweg entpuppt", erklärt Bergich. "Am stärksten hat sich das im Aufstieg der AfD und den letzten beiden Bundestagswahlen gezeigt. Das war für uns der Auslöser, an diesen Ort zu gehen und das Festival zu machen."
Ostdeutsche Kleinstädte wie Bitterfeld wurden in die Peripherie gedrängt und die Kulturlandschaft, die so eng an die Arbeit gebunden war, zerbrach durch den Weggang der Chemiefabrik. Die Industrie kam wieder, doch Theater oder Kino sucht man bis heute vergebens.
"Zudem kann man hier ganz viel über die Fähigkeit des Menschen lernen, sich selbst und seine Umwelt auf brutale Art und Weise komplett zu zerstören", erklärt Haugk. "Gleichzeitig sieht man die extrem berührende Kraft der Natur, sich selbst zu regenerieren, sich zurückzukämpfen in Regionen, von denen man dachte: Hier wächst nie wieder irgendetwas."
Wunden und Narben, die bleiben
So wird Bitterfeld zu einem Ort, an dem die Ausmaße und Verstrickungen des Anthropozäns und seine Frage der Ursprünglichkeit des Verhältnisses von Kultur und Natur deutlich werden. Ablesbar ist das an den Auswirkungen für Mensch und Natur in Folge des starken Braunkohleabbaus sowie den Einflüssen des Filmwerks Wolfen und des Chemieparks in Bitterfeld. Sie riefen Veränderungen in der Beschaffenheit des Bodens und der Pflanzenvielfalt hervor, vergifteten das Grundwasser, sodass Anwohnerinnen und Anwohner langwierige schwere Erkrankungen erlitten.
Inzwischen wandelte sich die Tristesse der stinkenden Chemie-Deponie zu einem grünen Naherholungsgebiet mit dem gefluteten Goitzschesee. Ein Ort, der früher grau und böse erschien, mutet heute unschuldig und "ursprünglich" an, doch das stimmt natürlich nicht. "Das alles sind Wunden und Vernarbungen, die bleiben", sagt Begrich, "man muss darüber sprechen, weil sie nicht von allein weggehen. Sie sollen auch gar nicht weggehen, aber müssen thematisiert werden."
Begegnung, Kulturerbe, Umweltveränderungen: All das sind Motive, die sich auch in den künstlerischen Festivalprojekten widerspiegeln. Denn "wenn man sich fragt, was jenseits der kulturideologischen Idee des Bitterfelder Weges bleibt, dann sind es Begegnung und Austausch", so Begrich. "Eine Methode, die fragt, wie ich wieder verschiedene gesellschaftliche Gruppen zusammenbringe."
Zeichnen im Bitterfelder Hof
So sind die einzelnen Programmpunkte gezielt auf Partizipation und Erinnern ausgerichtet: Henrike Naumann schließt an das Erbe ihres Großvaters an und leitet im Rahmen des Festivals für einen Tag einen Zeichenzirkel, in dem das Interieur des Gasthauses Bitterfelder Hof in den Fokus gerückt wird.
Fotokünstler Tobias Zielony kreiert in seiner Arbeit "Blackbox Wolfen" ein fiktives Archiv, in dem er auf alten Filmträgern des Bundesarchivs die Erfahrungen Beschäftigter der ehemaligen Agfa- und späteren ORWO-Filmfabrik wieder aufleben lässt. Im Rahmen des Projektes "Ortsbegehung" von Studierenden der Burg Giebichenstein Halle unter der Leitung von Nike Bätzner, ist unter anderem die partizipative Installationen "(Be)Stimmung" von Julia Hosp entstanden, die die oral history des Ortes visualisiert.
Darüber hinaus bespielt Miriam Schmidt mit "Bildnerische Perspektiven aus Bitterfeld" nicht nur die von Walter Dötsch gestaltete Bar im Kulturpalast, sondern präsentiert hierbei vergessene Arbeiten aus Zeichenzirkeln und setzt sie ins Verhältnis zu vorab geführten Gesprächen mit Zeitzeuginnen und -zeugen.
Hinfahren statt nur vorbei
Den Weg in den Palast werden die Besucherinnen und Besucher während der dreiwöchigen Festivallaufzeit jedoch nicht durch das monumentale Hauptportal des ehemaligen Arbeiterpalastes finden, sondern durch ein seitliches Fenster, nachdem sie einen interaktiven Kunstparcours absolviert haben. So soll durch Austausch und Partizipation in Bitterfeld diesen Sommer mithilfe der Kunst gelernt werden – nicht retrospektiv-reaktiv, sondern künstlerisch-kreativ.
"Ich würde mir wünschen, dass Menschen, die hierherkommen, lernen, zu verstehen, was Kunst kann", sagt Aljoscha Begrich. "Im besten Fall versteht man, dass Kunst Dinge reflektieren und thematisieren kann, die verbal und rational nicht zu beschreiben sind – die ausschließlich durch die Erfahrung und das Erlebnis begreifbar werden. Die Erfahrung kann auch sein, dass man hier abends beim Bier jemanden trifft und redet."
Es bleibt die Frage, ob aktuelle Kunst aus Deutschland, die in ihrem gesamtgesellschaftlichen Verständnis so stark von einem westdeutschen Nachkriegsbegriff der Moderne durchzogen ist, das Potenzial hat, Menschen aus ostdeutschen Regionen wirklich abzuholen, auf sie zuzugehen, ohne ihre Integrität infrage zu stellen. Wieder einmal muss Kunst beweisen, dass sie mehr ist, als nur historischer Kanon und ein kleiner elitärer Kreis akademisierter Menschen. Dass sie das Potenzial hat, Personen unterschiedlicher sozialer Sphären zusammenzubringen, die Definition dessen, was als Kunst gilt, zu öffnen und Handlungsmöglichkeiten für eine gemeinsame Zukunft zu finden. Mit einer Reise nach Bitterfeld gilt es, den Blick zu erweitern, damit wir zukünftig zu Orten wie diesen hinfahren, statt nur vorbei.