Wir müssen uns Michael Müller als einen manischen Künstler vorstellen. Seine Projekte haben den Hang zur Verausgabung. Seinen Berliner Galeristen Thomas Schulte überzeugte er, innerhalb von zwei Jahren eine schier endlose Serie von 18 Einzelausstellungen von ihm zu zeigen, einige wochenlang, andere nur wenige Stunden. Seit über 25 Jahren arbeitet er an einer Kunstsprache, K4, mit der er Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" wie eine abstrakte Komposition auf Rechenpapier übersetzt. Über 400.000 Zeichen gibt es schon.
Das lässt natürlich an die legendäre Konzeptkünstlerin Hanne Darboven denken, die aus Quersummenberechnungen von Tagesdaten wandfüllende abstrakte Notationen entwickelte. Doch Müllers Eigensinn erinnert auch an die trotzigen Figuren aus Alexander Kluges Filmen – wie die von Hannelore Hoger verkörperte Geschichtslehrerin Gabi Teichert, die sich in "Die Patriotin" (1979) mitten im "Deutschen Herbst" auf die Suche nach historischem Material macht, das sie ihren Geschichtsbüchern entgegensetzen kann. Sie nimmt das Ausgraben wörtlich, buddelt mit Amateur-Archäologen, versucht Abgeordnete auf dem Hamburger SPD-Parteitag von einer wahrhaftigeren Darstellung der neueren Geschichte zu überzeugen.
Müller, der Professor an der Berliner UdK war, ist so etwas wie die Gabi Teichert des deutschen Kunstbetriebs. Mit seinen Projekten hinterfragt er nicht nur die klassischen Ausstellungsformate, sondern auch Autorschaft, ihre Präsentation und die Art und Weise, wie sie Bedeutung produziert. Als er 2019 von Susanne Pfleger, der Direktorin der Städtischen Galerie Wolfsburg, gebeten wurde, anlässlich des 45. Jubiläums eine Ausstellung mit den Werken aus der Sammlung des Hauses zu kuratieren, sagte er zunächst ab. Er hatte keine Lust auf persönliche "Highlights" und "Entdeckungen". Doch dann kam dabei die nächste grandiose Überforderung heraus: eine zwei Jahre lang währende Ausstellungsserie, die er "Deine Kunst" nannte. "Ich wollte die Frage an die Bürger Wolfsburgs stellen, ob es wirklich ihre Kunst ist, und auch eine Verantwortlichkeit thematisieren, die immer stärker verloren geht: die Verantwortung der Bürger der Stadt für ihr Museum und das, was in diesem Museum gezeigt oder auch nicht gezeigt wird."
Er geht an die Schmerzgrenze
Um das zu verdeutlichen, entschloss sich Müller, nicht einzelne Werke, sondern die Anatomie der Sammlung in den Vordergrund zu stellen, zu zeigen, wie ihre Geschichte, die Ausstellungspraxis, der Ort die Wahrnehmung der Kunst filtern. Dafür verpasste er den kabinettartigen Räumen im Wolfsburger Schloss ein totales Make-over. Sie wurden quasi ausgeblendet, die Wände mit silbernen Faltenvorhängen abgehängt, der Boden mit grauer Auslegware belegt, über den die Besucher mit Schallschutzkopfhörern spazierten. In diese Leere baute er ein Regalsystem aus Plexiglas und Stahl, in das er zur Eröffnung nur ein einzelnes Bild montierte: das 1690 entstandene Ölbild eines Dodos, das bereits im 17. Jahrhundert hier gehangen hatte.
Auch in der folgenden Fassung "The Art(ist) is Present / DER TOD DES AUTORS WIRD NICHT ZUGELASSEN" konnte man nichts von der Sammlung sehen, sondern nur die üblichen Titelschilder lesen und dazu den Audioguide anhören, der über die abwesenden Werke von Künstlern und Künstlerinnen wie Francis Bacon, Alberto Giacometti oder Elaine Sturtevant erzählte. Noch bis zum November ist unter dem Titel "Informel, das / Stil, der - Das Schweigen der Bilder als stupide Zumutung oder Die Sprachlosigkeit" die aktuelle Fassung zu sehen. Diesmal sensationelle Gemälde von Künstlern wie Emil Schumacher oder K. R. H. Sonderborg. Ein Who’s who der deutschen Nachkriegs-Avantgarde. Deren völlig abstrakte, gestische Werke treten dem Betrachter allerdings nackt und schutzlos gegenüber: ohne die großen Namen ihrer Schöpfer.
Das mag manchen frustrieren. Auch der eigens eingerichtete Museumsshop ist während der gesamten Schau "vorübergehend geschlossen". Müllers nächstes Projekt wird in Anlehnung an das grassierende Stadtmarketing "Tintoretto in Wolfsburg" heißen – natürlich ohne Tintoretto. "Michaels Praxis geht für mich als Museumsdirektorin an die Schmerzgrenze", sagt Susanne Pfleger lachend, "aber ich habe gewusst, auf was ich mich da einlasse. Er kann als Künstler ganz anders argumentieren und museale Verhaltensmuster aufbrechen." Müllers Ausstellungsreihe ist mehr Kunstwerk als Kunstpräsentation.
Ein Festival des Ausblendens, der Abwesenheit, der Dekonstruktion. Doch genau dadurch geschieht ein Wunder – die Sammlung wird so präsent wie vielleicht nie zuvor.