Pina Kühr, zusammen mit Pan Selle haben Sie das Theaterstück "Female* Fight Club" im Heimathafen Neukölln auf die Bühne gebracht. Konzipiert und inszeniert wurde das Stück gemeinsam, für den Text sind Sie verantwortlich.
In dem Stück treffen Konni und Leo beim therapeutischen Boxen aufeinander. Konni boxt sich ihre Wut über ihre Situation als Mutter aus der Brust: Sie fühlt sich von der Gesellschaft alleingelassen, ist von all den Anforderungen an sie überfordert. Leo scheint zunächst keine Wut zu empfinden, erst gegen Ende des Stücks kommt Licht in ihre Situation: Ihr Kind starb kurz nach der Geburt. Ihre Wut richtet sich gegen das Schicksal, gegen sich selbst und gegen Frauen wie Konni, die über das Muttersein klagen.
"Regretting Motherhood" und verwaiste Elternschaft sind zwei riesige Themen, die beiden Figuren stehen für zwei entgegengesetzte Extreme. Warum werden die hier zusammengebracht?
Wenn man Mutterschaft als eine Art Spektrum betrachtet, sind das tatsächlich die Positionen, die am weitesten voneinander entfernt sind. Bei Frauen, damit ist ein inklusiver Frauenbegriff gemeint, oder weiblichem Schmerz wird Leidensdruck oft gegeneinander ausgespielt, als würde das öffentliche Mitgefühl nur für einzelne Positionen genügen. Dass aber viele Wahrheiten nebeneinander existieren können, wird häufig ausgeblendet. Das äußert sich in solchen Phänomenen wie "Mothershaming" - also das Verurteilen von Erziehungsentscheidungen oder Verhalten von Müttern. Dem wollten wir etwas entgegensetzen, indem wir mit diesen zwei Extremen eine Art ideales Miteinander entstehen lassen: Hier sollen Kompetenzen miteinander erlernt werden, wie wir verständnisvoll aufeinander zugehen können, egal wie unterschiedlich unsere Positionen sind. Und egal, wie sehr sich die einen ein Kind wünschen oder wie sehr andere an ihrem Kind verzweifeln, sollten wir Empathie für jede Form der Mutterschaft entwickeln.
Aktuell sind wir also noch in der Erzählung verfangen, dass wir als Frauen gegeneinander antreten müssen, anstatt uns gegenseitig zu unterstützen? Auch Konni und Leo finden erst im Laufe des Stücks zusammen.
Ja, wir gehen diesen Weg mit den beiden Figuren gemeinsam. Leo sagt an einer Stelle: "Ich weiß, wie egozentrisch Müdigkeit macht, weil man keine Kraft mehr hat für die Müdigkeit der anderen."
Ich war ein bisschen irritiert von der Figur Konni. Sie ist verständlicherweise wütend über die fehlende Unterstützung, über das nicht funktionierende System - Stichwort Kita-Ausfall, verständnislose Arbeitgeber und die überladenen Erwartungen an Mütter. Aber ist diese Wut gleichzusetzen mit "Regretting Motherhood", also der Erkenntnis, dass das Muttersein nichts für einen selbst ist oder eben gar dem Bereuen, Mutter geworden zu sein?
Nein, das ist nicht gleichzusetzen. Wir nehmen den Hashtag "Regretting Motherhood" als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem sehr breiten Spektrum des Zweifelns im Kontext von Mutterschaft. Es ist einfach ein Schlagwort, mit dem viele schon etwas anfangen können.
Ich finde es interessant, dass sich die beiden Frauen beim Boxen begegnen. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Viel Leidensdruck entsteht dadurch, dass Gefühle nicht stattfinden dürfen. Gerade wenn es um weibliche Wut geht, haben wir oftmals nicht gelernt, diese zuzulassen, denn sie ist gesellschaftlich nicht geduldet.
Gilt das insbesondere für das Thema Mutterschaft?
Beim Thema Mutterschaft wird vieles hinter einer Maske des Funktionierens versteckt: Mütter sind selbstverständlich manchmal genervt, wütend, nervös, unausgeschlafen oder traurig. Aber das wird häufig versteckt. Diese unterdrückten Gefühle müssen aber irgendwo stattfinden können. Depressionen werden in der Psychologie als eine nach innen gekehrte Wut beschrieben. Diese Wut kann auch mit dem Gefühl des Scheiterns zu tun haben: Bei verwaisten Eltern ist es das Scheitern am Lebenserhalt des eigenen Kindes. Das wird kompensiert, indem Betroffene oft besonders streng mit sich selbst sind, sich hohe Leistungen abfordern. Gleichzeitig wird die nach innen gerichtete Wut immer größer.
Und die muss sich dann entladen?
Ich war für die Recherche dieses Stücks selbst beim Boxtraining und fand es sehr beeindruckend, in einem Raum mit weiblich gelesenen Menschen zu sein, die alle auf etwas eindreschen und ihre Wut rauslassen. Beim Boxen geht die Kraftaktion vom Oberkörper aus, also aus dem Zentrum des Körpers, wo auch die Emotionen sitzen. Durch diese körperliche Bewegung kann auch auf psychosomatischer Ebene viel bewegt werden. Im Zuge der Recherche sind Pan und ich auf therapeutisches Boxen gestoßen. Das ist noch nicht weit verbreitet, aber ich finde, es ist eine sehr interessante Form der therapeutischen Annäherung. Über die Dinge zu sprechen, die ein Subjekt gerade besonders zurückhalten oder anstrengen, und gleichzeitig in die körperliche Aktion zu gehen. Darüber hinaus finde ich den Boxring eine sehr gute Metapher.
Eine Metapher wofür?
In einem Ring geht es darum, gegeneinander anzutreten, es geht ums Angreifen und Getroffenwerden. Für beides muss man die Deckung fallen lassen, zumindest kurz. Wir wissen nicht, was dahinter zum Vorschein kommt. Im "Female* Fight Club" erfährt Leo, die verwaiste Mutter, wie heilsam es ist, die sonst nach innen gerichtete Wut nach draußen zu lassen. Sie entwickelt eine Wehrhaftigkeit, lernt, für sich einzustehen. So gewinnt sie an Kontur und macht sich selbst wieder sichtbar.
"Der Female* Fight Club öffnet Räume, in denen über Verschwiegenes gesprochen werden darf, indem die Figuren durch körperliche Aktivierung ihre Sprachlosigkeit überwinden." So heißt es im Ankündigungstext zu dem Stück. Was ist das für eine Sprachlosigkeit?
Das ist genau der Anteil, der uns schweigen lässt, wenn wir als weiblich gelesene Menschen davon sprechen, was uns schmerzt. Uns als Gesellschaft fehlt die Kompetenz, darauf zu antworten, darüber zu sprechen, darauf ruhig und empathisch zu reagieren. Im Fall vom Verlust eines Kindes, das zeigt die Figur Leo sehr deutlich, antwortet das soziale Umfeld meistens mit Stille oder mit Floskeln. Da ist eine große Überforderung. Das Ideal, das wir mit diesem Stück formulieren, ist, dass wir gemeinsam die Kompetenz erwerben, zur Sprache zu finden, Worten zu finden.
Das wäre also ein Baustein der "kollektiven Kompetenz", deren Herausbildung das Stück einfordert. Sie soll uns als Gesellschaft befähigen, "mit Verlusterfahrungen, enttäuschten Lebenshoffnungen und seelischem Schmerz umzugehen". Ganz zum Ende gibt die Figur Leo Anregungen, wie ein Zugehen auf verwaiste Mütter möglich sein kann. Dieser Part nimmt nur ein paar Zeilen ein, aber in dieser Passage scheint mir eine der zentralen Botschaften des Stücks zu liegen …
Genau. Da sagt Leo: "Ich mag es, wenn man mir Fragen stellt. Ich erzähle gern von meinem Kind, das ist eine Möglichkeit, ihm nahe zu sein." Das ist etwas, was ich in zahlreichen Gesprächen mit anderen verwaisten Eltern gehört habe. Sie alle wünschen sich, über ihre Kinder sprechen zu können. Es gibt zwei Sätze, die auch ich als Betroffene immer wieder von Menschen gehört habe, die nicht betroffen sind. "Mir fehlen die Worte, ich bin sprachlos" und "Ich spreche dich lieber nicht darauf an, weil es ja sein könnte, dass du nicht darüber sprechen möchtest." Diese Pietät und Höflichkeit empfinde ich als eine Art Deckmantel. Tatsächlich ist es ein ganz typischer Weg, sich aus der Verantwortung zu ziehen. Dabei geht es gar nicht darum, dass mein Gegenüber das vermeintlich Richtige sagt, es geht vielmehr darum, Betroffenen das Angebot zu machen: "Wenn du darüber sprechen möchtest, dann höre ich dir zu." Das hilft sehr.
Gibt es noch andere Bausteine, die zu dieser kollektiven Kompetenz zählen könnten?
Klar, wenn es beispielsweise um die Überforderung von Eltern geht, wäre es hilfreich, wenn wir im öffentlichen Raum geduldiger, verständnisvoller und liebevoller miteinander umgehen würden. Ich habe das Gefühl, in Deutschland herrscht im öffentlichen Raum eine große Ungeduld und Genervtheit gegenüber Eltern und Kindern. Da müsste man vielleicht häufiger mal etwas nachsichtiger sein.
Gibt es eine Veränderung in der Gesellschaft im Umgang mit verwaisten Müttern und Eltern im letzten Jahrzehnt?
Nein, nicht wirklich. Deswegen ist dieses Stück so wichtig, um dieses Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. Es ist angeblich das Schlimmste, was einem Mensch passieren kann, ein Kind zu verlieren. Und trotzdem werden Betroffene oft allein gelassen mit der Situation. Anhand der Reaktionen auf unser Stück merke ich, wie groß die Erleichterung der Betroffenen ist, darüber sprechen zu können. Und wie groß die Überforderung derjenigen ist, die damit noch nicht in Berührung gekommen sind. Das ist natürlich auch ein politisches Thema. Eltern, die ihr Kind innerhalb des Mutterschutzes, also in den ersten Lebenswochen, verlieren, verlieren ihr Recht auf Elternzeit. Die müssen einfach wieder arbeiten gehen. Hier muss sich etwas ändern. Ich wäre zum Beispiel für das Recht auf ein Trauerjahr als Äquivalent zur Elternzeit.
Der Inhalt des Stückes ist sehr eng mit Ihrer Biografie verwoben. Wie war es, das auf die Bühne zu bringen, in Zusammenarbeit mit anderen Menschen?
Für mich als Autorin, die am Tisch saß und diese Texte geschrieben hat, war die Zusammenarbeit mit dem Team sehr berührend. Es ist ein schöner Moment, wenn die Texte von anderen Menschen gesprochen werden und so eine Art Öffentlichkeit bekommen. Zum anderen ist da meine Erfahrung als verwaiste Mutter. Dass jetzt eine Auseinandersetzung und sogar Anerkennung dessen stattfindet, was so lange nicht stattfinden durfte, ist großartig. Dass das, was so lange weggeschoben wurde von der Gesellschaft, endlich auf der Bühne stattfindet, ist der größte Schritt.
Sie spielen hier wahrscheinlich auch auf die Reaktionen an, die Sie auf Ihr Buch erhalten haben, das von der Erfahrungen als verwaiste Mutter handelt. Es haben sich viele Verlage sehr interessiert und beeindruckt gezeigt - und dann doch einen Rückzieher gemacht, mit der Entschuldigung, das Thema sei zu heftig.
Richtig. Die Kulturbranche, und in diesem Fall die Buchbranche, muss ja wirtschaftlich denken. Es reicht nicht, dass Lektorinnen oder Verleger von einem Stoff überzeugt sind. Ein Thema muss auch immer vermarktbar sein. Der Tod eines Kindes gilt nicht unbedingt als ein sicherer Kassenschlager. Genau da zeigt sich, wie stark ein Tabu noch wirkt.
Nun wird das Buch aber doch erscheinen.
Ja, ich bin sehr froh, dass der März-Verlag mit mir diesen Weg geht. Im Herbst dieses Jahres kommt es endlich in den Buchhandel.
Nochmal zum Stück: Für das Bühnenbild ist Anna Schurau verantwortlich. Sehr präsent sind die langen, herabhängende Stoffe. Was hat es damit auf sich?
Der Bühnenraum ist insgesamt sehr variabel, und es lässt sich wunderbar darin spielen. Im zweiten Teil ist einer der Spinde mit einem Stoff umwickelt und erinnert so an eine riesige Standuhr, die abgedeckt wurde, wie man es früher gemacht hat, wenn ein Mensch im Haus gestorben ist. Für einen Moment ist die Zeit dort stehen geblieben. Gleichzeitig formt die Figur Leo aus einer der Stoffbahnen ihr Kind, das in Windeln gewickelt in ihrem Armen liegt und das ihr im nächsten Moment mit Gewalt entrissen wird. Die beiden anderen Figuren fangen sie darauf hin auf, halten Leo selbst wie ein kleines Kind und bedecken sie mit dem Stoff. Für einen Augenblick entsteht das Bild einer Pietà. Der Stoff wird zum Leichentuch, das langsam gefaltet und zu Grabe getragen wird. Auch die anderen Bühnenelemente lassen dieses Spiel mit verschiedenen Räumen und Situationen zu.
Wie waren bisher die Reaktionen des Publikums?
Ich bin sehr glücklich über die bisherigen Reaktionen. Man hat deutlich gemerkt, dass sich viele offensichtlich gehört, gesehen und verstanden gefühlt haben. Es freut mich, dass wir offenbar einen Nerv treffen. Im zweiten Teil, in dem es verstärkt um verwaiste Elternschaft geht, war es zwischendrin etwas unruhig. Und ich dachte erst: "Sagt mal, Leute, wo ist euer Anstand?" Aber als ich mich dann umgeguckt habe, habe ich in viele tränenüberströmte Gesichter geschaut - die Leute haben bloß nach ihren Taschentüchern gekramt, daher die Unruhe … Es war für mich heilsam und schön, zu merken, wie viel Empathie da ist. Das ist das Wunderbare am Theater: Es ermöglicht ein kollektives Erleben von Mitgefühl und kann so aus der Vereinzelung Brücken bauen.