Einer liegt auf dem Bauch, die beiden Flossen links und rechts ausgestreckt, der andere steht aufrecht mit dem Rücken zum Betrachter. Die Abbildungen stellen den im 19. Jahrhundert ausgestorbenen Riesenalk dar, den Urahn der Pinguine. Sie sind vor über 25 000 Jahren entstanden und zieren die Wände der weltweit einzig bekannten Unterwasserhöhle mit Felsmalereien bei Marseille. Entdeckt hat sie vor über 35 Jahren der französische Berufstaucher Henri Cosquer. Nun arbeiten Experten an dem originalgetreuen Nachbau der Höhle, die den Namen ihres heute 71-jährigen Entdeckers trägt. Die Eröffnung ist 2022 geplant.
Der Eingang in die Cosquer-Höhle liegt 37 Meter unter der Meeresoberfläche zwischen Marseille und Cassis. Seit 2015 wird die Höhle in der Calanque de la Triperie durch eine 800 Kilo schwere Stahltür geschützt, hinter der sich über 500 Zeichen und Malereien aus dem Paläolithikum verbergen. Ein sehr vergänglicher Kunstschatz, wie Gilles Tosello meint. Ende des 21. Jahrhunderts dürfte höchstwahrscheinlich alles vom Wasser verschlungen sein, vermutet der Spezialist für prähistorische Kunst.
Zur Zeit der Cro-Magnon-Menschen lag die Höhle 120 Meter über dem Meeresspiegel und die Küste rund 15 Kilometer vom Höhleneingang entfernt auf dem Land. Erst durch die globale Erderwärmung und das Schmelzen der Gletscher sei die Höhle nach dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 10 000 Jahren überschwemmt worden, erklärt Tosello im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Heute liegen drei Viertel der Höhle unter Wasser.
Den prähistorischen Künstlern fehlten Finger
Unter den "Steinzeit-Graffiti" befinden sich Ritzereien, Darstellungen des Pinguinus impennis (Riesenalk), Abbildungen, die an Seelöwen erinnern, an Pferde, Bisons, Steinböcke, Auerochsen, außerdem mehr als 60 Handnegative, das sind Abdrücke, die dadurch entstanden sind, dass die prähistorischen Künstler eine Hand auf die Wand legten und Farbe auf den Felsen aufbrachten.
Handabdrücke sind in der paläolithischen Kunst nicht selten. Ungewöhnlich hingegen ist, dass in der Cosquer-Höhle bei zwei Dritteln Fingerglieder fehlen. Eine Besonderheit ist auch die Figur eines von einem Pfeil durchbohrten Mannes, dem die Archäologen Jean Courtin und Jean Clottes den Namen "Getöteter Mann" gaben.
Courtin war der erste, der nach der Entdeckung die Höhle begutachtet hat. In einem Interview beschrieb er, wie er 1991 erstmals in die Grotte hinabtauchte. Durch den 170 Meter langen Tunnel zu tauchen, sei kein Vergnügen gewesen, sagte er im Interview mit dem Internet-Portal der Région Sud Provence-Alpes Côte-d'Azur. Er sei von Tauchern der französischen Marine begleitet worden, die den schmalen Eingang gesichert hätten.
"Ein prähistorisches Heiligtum"
Eine erste Bestandsaufnahme veröffentlichten die beiden im Jahr 1994 unter dem Titel "La grotte Cosquer", 2005 schoben sie zusammen mit dem Archäologen, Taucher und Fotografen Luc Vanrell "Cosquer redecouvert" (dt. Die Wiederentdeckung von Cosquer) nach. Mit der Radio-Carbon-Datierung konnten Courtin und Clottes nachweisen, dass die Felsbilder bis zu 27 000 Jahre alt sind. Für die beiden ist die Grotte eine der originellsten Steinzeithöhlen, die jemals gefunden wurde. "Ein prähistorisches Heiligtum", wie sie sagen.
Ein Vergleich, der nicht übertrieben ist. Denn Urgeschichtler und Kunstgrafiker Clottes war schon für die Forschungen in der bekannten Originalhöhle Chauvet verantwortlich, die 1994 bei Montélimar in dem südfranzösischen Departement Ardèche entdeckt wurde. Später wurde Clottes auch Chef des wissenschaftlichen Beraterteams für die Replik, die im April 2015 eröffnet wurde, und bei der auch Tosello mitgewirkt hat. Er hat für die Kopie die berühmten Fresken von Pferden und Löwen realisiert.
Eine Erfahrung, auf die er jetzt zurückgreifen kann. Denn im Gegensatz zur Chauvet-Höhle, in die er hinabsteigen durfte, hat er die Cosquer-Höhle nie besichtigen können. Der Zugang ist extrem gefährlich. Im Jahr 1991 starben drei Männer bei dem Versuch, durch den engen, 175 Meter langen Tunnel zum Unterwasserschatz zu gelangen. Das Unglück zwang Cosquer dazu, seine 1985 entdeckte Höhle den Behörden zu melden, um weiteren Dramen und dem medialen Rummel vorzubeugen.
Nachbau soll 2022 fertig sein
Nicht das 0riginal zu sehen, sei frustrierend, bedauert Tosello. Und so stützt er sich in seinem Atelier bei Toulouse auf seine Chauvet-Erkenntnisse, die Bücher von Clottes und Courtin und Aufnahmen der Malereien. Zusammen mit seinen Mitarbeitern bildet er millimetergenau die Felsbildkunst nach. Gearbeitet wird auf Felsimitationen aus Stahl und Acrylharz, die auf einem 3D-Modell basieren - ähnlich wie bei Chauvet und der berühmten Höhle von Lascaux in der Dordogne im Südwesten Frankreichs.
Der Nachbau soll 2022 fertig sein und in die Villa Méditerranée in Marseille einziehen. Das spektakuläre Gebäude gehört zu den Neubauten der Kulturhauptstadt von 2013. Es liegt neben dem nicht weniger markanten Museum MuCEM und gleicht einem 16-Meter-Sprungbrett direkt ins Meer. Knapp die Hälfte des rund 70 Millionen teuren Gebäudes liegt unterm Wasser. Ursprünglich sollte das Prestigeprojekt der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur als Kulturzentrum dienen. Seit 2018 ist es geschlossen.