CCA-Direktor Fabian Schöneich

"Man kann dem Publikum viel mehr zumuten"

Fabian Schöneich hat den Kunstraum CCA gegründet, der nun prominent an der Berliner Gedächtniskirche residiert. Hier erzählt er, warum er sich mehr intellektuelle Herausforderung in der Kunst wünscht und wie er die politisierte Kulturszene erlebt


Fabian Schöneich, 2022 hat das CCA, das Center for Contemporary Arts, in Berlin eröffnet, damals noch in den Räumen auf der Schöneberger Kurfürstenstraße. Wie haben Sie die ersten zwei Jahre als neue Institution in Berlin erlebt?

Großartig und sehr schwierig zugleich. Es war überraschend, wie schnell das CCA in der Stadt, aber auch international wahrgenommen wurde. Und auch, wie groß die Publikumsresonanz war. Im ersten Jahr hatten wir 10.000 Besuchende. Das hat meinen Gründungsgedanken bestätigt: dass es nicht genug gemeinnützige, nicht-sammelnde Institutionen in Berlin gibt. Es war bisher wahnsinnig schön zu sehen, wie das CCA wächst, was man mit dem Haus machen kann - und auch, was man damit noch nicht machen kann, weil es einfach zu jung oder zu fragil ist. 

Wer ist denn das Publikum des CCA?

Ein ganz klassisches, diverses Berliner Kunstpublikum. Jung bis mittelalt, gebildet, interessiert an zeitgenössischer Kunst und Gegenwartskultur. Seit dem Umzug in das Foyer-Gebäude der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz, welcher einer der wichtigsten Schritte der letzten zweieinhalb Jahre war, kommen auch viele Touristen und neugierige Einheimische, die aus unterschiedlichen Stadtteilen zufällig da sind. Das CCA gab aber von Anfang an nicht nur bildender Kunst, sondern auch Literatur und Musik einen Raum. Es gibt Buchvorstellungen, Lesungen, Konzerte. Das hat auch schnell dazu geführt, dass andere Publika kamen. Das Literaturpublikum ist ein ganz anderes als das der Kunst, und auch Musik hat nochmals ein anderes.

Wie unterscheidet es sich?

Literatur zahlt für Bier, Kunst nicht. 

Das Literaturpublikum ist ja auch Eintritt gewöhnt. Kunstpublikum zumindest bei Eröffnungen nicht. 

Literaturpublikum ist auch erstaunt, wenn es nichts kostet. Und bei uns ist alles bisher kostenlos. Ich finde, unsere Art von Institution sollte keinen Eintritt verlangen, um zugänglicher zu werden. Leider müssen wir das für bestimmte Sonderveranstaltungen aber bald tun, einfach, weil wir es uns anders nicht mehr leisten können. Eintritt verlangen heißt ja auch, Personal zu haben, das Tickets verkauft. Das rechnet sich meist überhaupt nicht, bei vielen Häusern ist das so. Aber trotzdem wird Eintritt verlangt, weil die öffentliche Hand das so vorschreibt. Da wir angefangen haben, Pressetexte internationaler Künstlerinnen und Künstler auch in ihren jeweiligen Herkunftssprachen zu verfassen, wenn das Berliner Communities anspricht, führte dies auch nochmal dazu, neue Publikumsgruppen zu erreichen, die dies sehr genossen haben. Also kamen sie wieder. Und plötzlich fingen auf den Veranstaltungen die Menschen an, sich zu mischen. Das war sehr schön zu sehen.

Zugänglicher werden und neue, junge Zielgruppen erreichen: Das versuchen ja gerade fast alle Kultureinrichtungen. Auch wenn das CCA keinen Eintritt verlangt, erscheint das Programm jedoch nicht unbedingt niedrigschwellig oder massentauglich.

Gegenwartskunst ist kein Unterhaltungsformat. Das ist etwas, was auch manch ein Berliner Kulturpolitiker manchmal verwechselt, weil er eigentlich aus der Musikindustrie kommt. Viele Museen arbeiten die Check-Listen ab, was man heute "machen muss", um sich zu öffnen, weil sie von öffentlichen Geldgebern dazu aufgefordert werden, mehr Menschen zu erreichen. Also sehen sie sich gezwungen, Unterhaltungsprogramme zu veranstalten. Aber ich glaube, dass man seinem Publikum in Berlin und Deutschland viel mehr zumuten kann, was Intellekt und Kunst angeht. Wir sollten unser Publikum nicht unterschätzen! Ich bin jemand, der es wichtig findet, dass man Kunst anschaut und sie nicht versteht – und dass das in Ordnung ist. Und gleichzeitig sollten die Häuser Taktgeber sein, weniger reagieren und wieder mehr proaktiv agieren.

Um das CCA zu finanzieren, haben Sie auch gerade einen Freundeskreis gegründet. 

Es ist finanziell schwierig, das Haus am Leben zu halten. Projektförderung, also Gelder für eine bestimmte Ausstellung zu akquirieren oder zu beantragen, ist einfacher, als jemanden zu finden und zu fragen: Möchtest du die Miete übernehmen? Oder das Gehalt der Assistenzkuratorin? Oder die Versicherung? Die ganzen Strukturkosten eben, die bei allen Häusern durch öffentliche Mittel gedeckt werden, versuchen wir durch den Freundeskreis zu finanzieren. Es gibt in Berlin keine öffentliche Strukturförderung für neugegründete Institutionen. Der Senat mit seinem Budget fördert gewisse Häuser, und da kommt keiner mehr rein. Die öffentliche Hand hat irgendwann aufgehört, ihre Gelder anzupassen. Das heißt, sie hat eigentlich gekürzt, aber es nicht so genannt. Auch der ehemalige Berliner Kultursenator Klaus Lederer sagte bei einem Besuch bei uns, dass private Freundeskreise und Spenden die Zukunft aller Häuser seien; einfach, weil sie es brauchen werden. Und damit geht nun auch die deutsche Kulturwelt in eine angelsächsische Richtung.

Das CCA macht den Eindruck, international viel mit anderen Institutionen zu kollaborieren.

Das war schon immer ein Fokus von uns. Da gibt es die tolle Zusammenarbeit mit dem DAAD und dem Bezirksamt Mitte an unserem Literaturprojekt "Displayed Words", das im September über dem Eingang der Staatsbibliothek installiert wird. Aber auch zu sehen, dass unsere erste große Einzelausstellung von Yu Ji diesen Sommer im Centro Pecci in Prato bei Florenz in weiterentwickelter Form eröffnet, ist toll. Die letzte Ausstellung mit Enzo Camacho und Ami Lien, die erste im neuen Raum, war eine institutionsübergreifenden Zusammenarbeit mit Para Site, Hongkong, Glasgow International und dem MoMA PS1, New York. Gleichzeitig wurden die Arbeiten, die wir alle koproduziert haben, gerade vom MoMA für ihre Sammlung eingekauft. Für uns, als zweijährige Institution, sowie für die Künstler ist das großartig. Und unsere nächste Ausstellung mit Nazanin Noori, die wir im temporären Kranzler X am Kurfürstendamm während der Art Week eröffnen, reist im April 2025 zu Auto Italia nach London. Diese Kollaborationen liegen mir besonders am Herzen. 

Was bewirken sie?

Sie sind nicht nur für CCA wichtig, sondern bringen auch Berlin auf die Karte. Als Haus versuchen wir, etwas aufzubauen, eine Community, die über die Grenzen Berlins hinausgeht. Die Ausstellungen, die wir machen, das ganze Jahresprogramm reagiert dabei auf die Gegenwart. Das entsteht in Zusammenarbeit mit vielen. Das steht auch im Gegensatz zu Festival-Strukturen. Wenn man jedoch als Haus eine Person zeigt, die fest in einem Diskurs verankert ist, und dann zeigt man eine aus einem anderen, weniger bekannten Kontext, dann sind die Menschen immer noch irritiert. Da merkt man, wie weit hinterher die Berliner oder auch die deutsche Kunstszene ist. Wir haben in den letzten zwei Jahren zwei chinesische Positionen, He Xiangyu und Yu Ji, gezeigt, und ich wurde immer wieder darauf angesprochen, ob wir einen Chinafokus haben.

Blickt man auf die Findungsschwierigkeiten der Documenta oder der Berlin Biennale bei einer künstlerischen Leitung, scheint der Beruf der Kuratorin oder des Kurators in letzter Zeit eher unbeliebt geworden zu sein. Fühlen Sie sich in einer kontroversen Position?

Nein, gar nicht. Ich mag den Beruf. Dennoch sehe ich, dass es mehr Kuratoren und Kuratorinnen gibt, als es noch vor einigen Jahren der Fall war – und einige eigentlich gar nicht an Kunst interessiert sind.

Woran denn dann?

Ein heikle Frage, aber vielleicht an sich selbst. Und ihrem Platz in der Kulturwelt. Ich glaube, Hans Ulrich Obrist hat diesen Hype um die Person des Kurators begründet. Damit, dass er Ausstellungen gemacht hat, bei denen Künstler und Werk immer weniger Platz bekommen haben und stattdessen Thema und Titel immer wichtiger werden – und damit auch der Name des Kurators. Frankfurt am Main hat beispielsweise einen sehr guten "Kuratieren & Kritik"-Studiengang. Als ich noch Leiter des Portikus war, war ich dort automatisch involviert und habe mit den Studierenden Ausstellungen organisiert und besprochen. Es war spannend zu sehen, wie manche Studierende bei Sitzungen über eine Stunde lang über eine Ausstellung und deren Thema sprachen und dabei nicht einen einzigen Namen oder ein Werk nannten. Das ist ein großes Problem. Ich finde, Kurator und Institution sollten wieder mehr in den Hintergrund treten. Es sollte wieder mehr um die Kunst gehen.

Der westliche Kanon wird immer mehr in Frage gestellt. Stattdessen werden die Forderungen nach einer globalen Kunstgeschichte laut. Ich habe das Gefühl, dies führt momentan insbesondere an den Kunsthochschulen zu einer Art Leerstelle, die neu gefüllt werden muss. Das Alte wird nicht mehr vermittelt, und für das Neue gibt es noch kein Konzept.

Ja. Und auch bei einer jüngeren Generation gibt es viel Angst, etwas falsch zu machen. Alles muss richtig sein, und alles muss erfüllt werden. Früher war es nicht besser, auf keinen Fall. Viele haben den Anspruch, Kunstausstellungen zu machen, die riesige Themen wie globale Ungerechtigkeit oder die Klimakrise verhandeln sollen. Das kann man natürlich nicht - und muss es auch nicht. Doch der Mut, einfach zu sagen: "Das ist das Werk, das reicht", das scheint vielen nicht mehr genug. 

Haben Sie Angst, etwas falsch zu machen?

Ich kann diese Angst nachvollziehen, aber ich arbeite schon lange genug als Kurator, um keine Angst mehr zu haben. Aber es ist auch sehr schwierig. Man kann natürlich nicht sofort eine globale Kunstgeschichte abbilden, aber man kann es irgendwann, wenn man jetzt damit anfängt, den Kanon aufzubrechen. Aber das ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen so: Alle erwarten, dass es jetzt sofort eine Antwort gibt. Doch so funktioniert es nicht. 

In Berlin werden gerade von den meisten Institutionen Antworten oder zumindest Reaktionen auf den Nahostkrieg erwartet. Wie hält es das CCA damit?

Die gesamte Diskussion ist kompliziert, auch, weil es keinen geschützen Raum gibt, um darüber zu sprechen. Alle Seiten sind permanent damit beschäftigt, Statements zu machen. Das CCA wurde in zwei Artikeln zu der Diskussion erwähnt, neben der Documenta. Auch das eine interessante Gegenüberstellung. Übrigens zuerst von der Zeitung "Die Welt", was dann, meiner Auffassung nach lediglich schlecht nachrecherchiert, von der "Taz" aufgegriffen wurde. Allein das sagt schon sehr viel über die Berliner Diskussion. Grundsätzlich würde ich aber gern viel mehr über Kunst sprechen als über Politik und Krieg. Ich denke, dass Künstlerinnen und Künstler hier eine enorm wichtigen Beitrag leisten. Nehmen wir unsere aktuelle Ausstellung, "Sommer 24": eine Gruppenausstellung, die ich zusammen mit der Künstlerin Thea Djordjadze kuratiert habe. Die Schau kann sehr politisch gelesen werden, wenn man möchte. Gleichzeitig versammelt sie aber auch "nur"sehr gute Arbeiten von tollen Menschen, die vor allem in Berlin leben und arbeiten: darunter Rosemarie Trockel, Andro Wekua oder Klara Lidén.

War Ihr Haus von der Boykott-Kampagne "Strike Germany" betroffen?

Einige Künstlerinnen und Künstler haben eine Zusammenarbeit wegen "Strike Germany" abgelehnt, und mit anderen haben wir über unsere Position im Vorfeld gesprochen. Ich bin nicht der Meinung, dass Kunstinstitutionen Tagespolitik kommentieren sollten. Sie sind eine Plattform, um Künstlerinnen und Künstler Raum zu geben – und das haben wir immer gemacht. Auch diejenigen, die wir im letzten halben Jahr ausgestellt haben, konnten immer ihre Meinung öffentlich machen. Oder bei Veranstaltungen Statements verlesen. Unser Publikum hat dies wertgeschätzt, es gab weder Störungen noch Unterbrechungen. Die Realität wird aufgrund Social-Media-Streams oft unterschätzt. 

War die geplante Antisemitismusklausel im Kulturbetrieb ein Symptom dessen?

Die Antisemitismusklausel in Berlin war vor allem aus juristischer Sicht nicht tragbar. Gleichzeitig hätte sie ein gefährliches Fundament für jene Parteien gebildet, die immer stärker werden und nicht so viel mit freiheitlicher Demokratie anfangen können. Auch wenn die Klausel schnell zurückgezogen wurde, weil sie dem widerspricht, worauf die Bundesrepublik aufgebaut ist, hat sie sehr viel Schaden angerichtet; vor allem bei all den Häusern, die Berlin zu der internationalen Kulturstadt gemacht haben, die sie heute ist. Und ich glaube, viele Abgeordnete wissen nicht, was diese einseitige Diskussion für die deutsche Kulturlandschaft bedeutet. Und damit meine ich nicht mal "Strike Germany", sondern die Reputation des Landes. Wie große Museen und Institutionen weltweit auf Berlin schauen und auf das, was hier gerade passiert. Gleichzeitig hat sie gezeigt, dass wir uns als Kultur- und Kunstinstitutionen besser vernetzten müssen und stärker in den Austausch treten sollten. Und zum anderen wäre es sinnvoll, wenn die Politk all die etablierten und wichtigen Kultur- und Kunstinstitutionen in Entscheidungen einbezieht. Hier gäbe es eine jahrelange Expertise, die kostenlos für die Politik ist.

Nun gehören Sie mit dem CCA auch zu Berlin dazu. Wie war es denn eigentlich, von Frankfurt am Main aus hier anzukommen? 

Frankfurt ist eine kleine Stadt, wenn am Ende des Tages die Banker in die Vorstädte verschwunden sind. Frankfurt hat aber eine wahnsinnig reiche Museumslandschaft. Das liegt daran, dass sie einen klugen Kultursenator hatten. Der wusste, wie man die Stadt aktiviert und wie man Leute holt, die dabei helfen. Kasper König – Gott hab ihn selig –, der die Städelschule zu dem gemacht hat, was sie ist, und den Portikus gründete. Damals gab es in Frankfurt noch kein MMK, welches mit Susanne Pfeffer heute eine der spannendsten und radikalsten Kuratorinnen hat, jemanden, der für die Kunst und für die Künstlerinnen und Künstler arbeitet. Und es gab auch noch keine Schirn, die vieles andere abdeckt. Und dann kommt man nach Berlin und hat eine Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die einfach irre verbürokratisiert ist. Das merkt man bis in die Ausstellungsflächen hinein, dass die Häuser nicht im Diskurs einer Weltstadt 2024 angekommen sind. 

Haben Sie sich deswegen entschieden, in Berlin zu eröffnen und nicht in Frankfurt? Um den Diskurs voranzutreiben?

Ja. Auch weil Berlin für die Größe der Stadt relativ wenige Institutionen abseits der staatlichen Museen hat. In der gesamten westlichen Hälfte der Stadt gibt es bis auf die kommunalen Galerien kein Haus für zeitgenössische Kunst, bis man dann das Haus am Waldsee erreicht, welches erst durch Anna Gritz‘ Leitung interessant wurde. Schaut man sich in London um, gibt es in fast jedem Stadtteil ein nicht-sammelndes, gemeinnütziges Haus, das internationales Programm macht und gleichzeitig wahnsinnig viel für die jeweiligen Stadtteile tut. Der Breitscheidplatz als Standort ist super, weil dort auch historisch die Staatliche Kunsthalle Berlin war – allein diese Diskussion ist ein Artikel für sich –, und wir somit eine Lücke füllen. Auch geografisch. Ich glaube, dass Berlin locker noch zwei bis drei Institutionen gebrauchen könnte, die in anderen Vierteln die Stadt das Bild von dem erweitern und reflektieren, was die junge Berliner Kunstszene ausmacht.

Wie hat Sie diese Kunstszene denn aufgenommen? Mit Ellenbogen oder geöffneten Armen? 

Ich glaube, Ellenbogen wären sogar willkommen gewesen, doch es war viel schlimmer: größtenteils Ignoranz. Es gibt kaum ein gegenseitiges Wahrnehmen, viel zu wenig Interaktion zwischen den Häusern. In Frankfurt kannte man sich und tauschte sich aus. Wenn es Krisen gab, kam man sehr schnell zusammen. Das war auch in Basel und in Rotterdam so, den anderen Orten, an denen ich vorher gearbeitet habe. In Berlin habe ich es bisher nur wenig erlebt, aber das braucht es unbedingt.

Haben Sie Hoffnung, dass Marion Ackermann als neue Direktorin der Stiftung Preußischer Kulturbesitz dieses Klima ändern könnte?

Auf jeden Fall. Ich bin in Dresden aufgewachsen, und das, was sie mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gemacht hat, finde ich großartig. Vermutlich gibt es immer noch sehr viel zu tun, doch von außen betrachtet hat sie es geschafft, die Institutionen zusammenzubringen und zu verjüngen. Das wäre auch wünschenswert für Berlin.