Wer einmal das Glück hatte, Etel Adnan in ihrer Wohnung im 5. Arrondissement von Paris zu besuchen, vergisst diese Stunden nicht mehr. Die libanesische Dichterin, Malerin, Denkerin, lag fast in ihrem creme-rot getupften Sessel, bohrte ihre erstaunlich kleinen Hände in ihren himmelblauen Kaschmirpulli und schaute wie ein Kind, das bereit ist zu spielen.
Eine Frage, die sie derzeit sehr beschäftige, sagte sie sofort, sei folgende: Was wären wir Menschen wohl geworden, wenn wir Tiere der Nacht wären? Wir würden sicher alles ganz anders wahrnehmen. Damals, als sie an der Sorbonne Philosophie studierte, sei sie nächtelang durch die französische Hauptstadt gelaufen. Überhaupt sei die Nacht ihre liebste Tageszeit, eine Schande, dass sich nie jemand finde, der da mit einem spazieren gehen wolle: "Wenn die Dunkelheit die Landschaft verschluckt, das hat eine ganz besondere Qualität. Ein bisschen wie der Schnee, der verändert das Gesicht der Dinge auch – nur in Weiß. Verstehen Sie?"
Etel Adnan überraschte ihr Gegenüber oft mit solchen poetischen Beobachtungen. Ob man verstanden habe? Die Frage stellte sie immer wieder. Wohl weil sie wusste, dass sie die Dinge etwas anders sieht als die meisten anderen Menschen. Denn Etel Adnan, deren Leben zwischen Beirut, Paris und San Francisco die wesentlichen Konflikte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts streifte, hatte sich in ihrem hohen Alter etwas bewahrt, das vielen irgendwo auf dem Weg abhandenkommt: eine grenzenlose Liebe zur Welt. Sie hallte in fast jedem ihrer sehr gewählt ausgesprochenen Worte nach, am eindeutigsten findet man sie aber in ihren Ölbildern: meist kleinformatige, abstrakte Kompositionen aus Rot, Gelb, Grün, Blau. Leuchtende Landschaften, Berge, Wüsten, Meere, die sie direkt aus der Tube mit dem Malmesser auf ihre Leinwände streicht. Das Licht und die Farben, die Paul Klee, den sie sehr verehrte, einst in Tunis fand, trug Adnan in sich.
Über Nacht zum Kunstweltstar mit 87 Jahren
"In meinen Schriften kommt mein politischer Geist zutage, in der Malerei geht es um die Liebe zu den Dingen", sagte sie einmal in einem Gespräch mit dem Kurator Hans Ulrich Obrist. Adnan, 1925 als Tochter einer Griechin und eines Syrers in Beirut geboren, setzte nach ihrer Zeit an der Sorbonne ihr Philosophiestudium in Harvard fort und lebte dann in Kalifornien. 1972 ging sie zurück in den Libanon, schrieb für die Feuilletons französischsprachiger Zeitungen, bis sie 1976 wegen des Bürgerkriegs wieder nach Paris floh.
Seit Jahrzehnten gilt sie als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen des arabischen Raums, sie reflektierte das Leben im Exil und im Krieg sowie die Rolle der Frau. Ihr Antikriegsroman "Sitt Marie-Rose" brachte ihr Morddrohungen ein, Ende der 70er ging sie wieder nach Kalifornien, wo sie über drei Jahrzehnte lang malte und schrieb. 2012 kehrte sie nach Paris zurück – dasselbe Jahr, in dem sie an der von Carolyn Christov-Bakargiev geleiteten 13. Documenta teilnahm.
Mit der Kasseler Großausstellung wurde Etel Adnan mit 87 Jahren quasi über Nacht zum Kunstweltstar. Sie beeindruckte das wenig, es schien höchstens ein bisschen absurd. Denn eigentlich kam das Malen vor der Schrift. Es sei ihr schon in den 60er-Jahren, als sie an einem kleinen College in Kalifornien lehrte, als ein Ausweg erschienen, als Weg, die Grenzen der Sprachen zu durchbrechen: Wenn die Worte fehlen, blieb ihr, die fünf Sprachen fließend (aber nie durcheinander!) spach, das Leuchten der Farben.
Fast ihr Leben lang lebte sie im Exil
Zwei Elemente tauchen immer wieder in ihren Bildern auf: ein rotes Quadrat, weil sie die Energie dieser Farbe liebte und eigentlich am liebsten alles rot malen wollte (doch das mache verrückt!). Und ein Freund, den sie zu jener Zeit, im amerikanischen Exil, fand: der Mount Tamalpais, dem sie sogar ein Buch widmete. Er sei das Wichtigste in ihrem Leben, sagte sie, er fehle ihr sehr. Jahrelang lag er als unverrückbare Konstante vor ihrem Fenster in Kalifornien, jahrelang beobachtete sie, wie dieser Riese sich veränderte – durch das Wetter, die Jahreszeiten, das Licht, die Wolken, die über und an ihm vorbeiglitten.
In ihrer Beschäftigung mit dem Berg, der mal grün, mal blau, mal gelb aus ihren Leinwänden herausleuchtet, kratzte Adnan eines ihrer Hauptthemen an: die gerade so dringliche Frage der Identität. Fast ihr Leben lang lebte sie im Exil, "immer bin ich entfernt von etwas, einem Ort", schrieb sie, oder "unsere Existenz ist das stets veränderliche Ergebnis all dessen, was ist und was sein wird". Deshalb gab es die eine Identität für sie nicht: Man sei immer mehrere, sagte sie. Die Konstante bei Etel Adnan ist die, die sie an jenem Nachmittag in Paris als Merkmal ihrer Malerei benannte: "Es geht immer um den Kampf der Dunkelheit mit dem Licht."
Wer diesen Kampf am Ende gewinnt, scheint zumindest beim Anblick ihrer Bilder vollkommen klar. In der Nacht von Samstag auf Sonntag ist die große Dichterin und Künstlerin in Paris im Alter von 96 Jahren gestorben.