Messe Paris Photo

Es braucht eine neue Sprache, nicht zwingend neue Bilder

Ming Smith "Grace Jones, Studio 54 - Motorcycle", 1978
Foto: Jenkins Johnsons

Ming Smith "Grace Jones, Studio 54 - Motorcycle", 1978

Vordergründig ist die Messe Paris Photo natürlich zum Verkaufen da. Doch darüber hinaus zeigte die diesjährige Schau im Grand Palais, welche persönlichen und politischen Geschichten die Fotografie erzählen kann

Fotografie ist ein Medium, das Vertrautes in neuem Licht zeigt – ein Gefühl, das auf der diesjährigen Paris Photo sowohl innerhalb als auch außerhalb des lichtdurchfluteten Grand Palais allgegenwärtig war. Die Messe, eines der weltweit renommiertesten Fotografie-Events, startete am 7. November – an dem Tag also, an dem bekannt wurde, dass Donald Trump erneut die US-Präsidentschaftswahl gewonnen hatte.

Im frisch renovierten Grand Palais, in das die Paris Photo in diesem Jahr nach mehrjähriger Pause zurückgekehrt ist, konnte man Fotografie an diesem Wochenende auf 72.000 Quadratmetern bewundern. Ein Highlight bot der 29-jährige US-Künstler Tyler Mitchell, der sich mit seinem neuartigen Blick auf Schwarze Lebens- und Vorstellungswelten in den letzten Jahren einen internationalen Namen gemacht hat. Erst kürzlich war eine Einzelausstellung von Mitchell im C/O Berlin zu sehen. 

Im Gespräch am Gagosian-Stand zeigte sich der Fotograf zwar schockiert über das Wahlergebnis, gleichzeitig aber wenig überrascht. Die von ihm selbst kuratierte Ausstellung "Avedon & Me" lässt Mitchells eigene, hochsaturierte Farbaufnahmen von leuchtenden Stoffen und Menschen in Dialog mit den ikonischen Schwarz-Weiß-Porträts Richard Avedons treten. Dessen Faszination für das Wechselspiel von Modefotografie und gesellschaftspolitischen Themen, insbesondere seine Verbindung zum Schriftsteller James Baldwin, findet sich auch in Mitchells Arbeiten – ein Einfluss, den dieser im Gespräch mit Monopol hervorhebt. 

Ein Pfad zu den Fotografinnen

Auch die Messe selbst reflektiert zunehmend ihre eigene gesellschaftliche Verantwortung. So erklärt die Direktorin Florence Bourgeois, dass dieses Jahr fast 40 Prozent der ausgestellten Werke von Frauen stammen – ein deutlich höherer Anteil als in den Vorjahren. Um diesen Aspekt hervorzuheben, hat Kuratorin Raphaëlle Stopin in Kooperation mit dem französischen Kulturministerium eigens einen Fotopfad eingerichtet, der den Fokus der diesjährigen Messe auf weibliche Positionen legt.

Im ersten Stock des Grand Palais bietet der "Voices"-Sektor einen Raum für Werke, die sich kritisch mit dem kolonialen Blick auseinandersetzen, der der Fotografie teils bis heute eingeschrieben ist. Kuratiert von Azu Nwagbogu liegt der Schwerpunkt hier auf Positionen, die Archive als "radioaktive" Quellen befragen, wie Nwagbogu sagt. Und die dabei auf bestehende, historische oder persönliche Konvolute zurückgreifen, um Geschichten neu zu erzählen – ohne Menschen zu objektivieren.

Nwagbogu betont, es brauche "eine neue Sprache" der Fotografie – "nicht zwingend neue Bilder". Viele der Arbeiten, die in "Voices" gezeigt werden, erinnern mehr an Skulpturen als an klassische Foto-Abzüge. So zeigt die südafrikanische Künstlerin Lebohang Kganye hier Lichtkästen, in denen sie ausgeschnittene Schwarz-Weiß-Fotografien dreidimensional neu arrangiert hat. Erinnerungsfragmente werden darin zu filigranen Collagen, die an ein Marionettentheater erinnern.

Ein eindringliches Statement zur politischen Gegenwart

Unter der ikonischen Stahlkuppel des Grand Palais präsentieren internationale Galerien ein breites Spektrum von klassischer, zeitgenössischer und historischer Fotografie, wobei die gegenwärtigen und modernen Teile im Vordergrund stehen. Auch deutsche Galerien wie Office Impart und Loock aus Berlin oder die Galerie Julian Sander aus Köln sind vertreten. Letztere zeigt hier eine breite Auswahl aus August Sanders' konzeptuellem Opus magnum "Menschen des 20. Jahrhunderts"Dem gegenüber steht der intime Stand der französischen Galerie Christian Berst - im Gegensatz zu der Monumentalwand mit Sanders' Werken geradezu winzig -, der die Werke des Amateurfotografen John Kayser zeigt: pastellfarbene Erotikfotos aus Kalifornien, die erst 2007 posthum entdeckt wurden.

Ein eindrucksvolles Statement zur politischen Gegenwart liefert der palästinensische Fotograf Taysir Batniji mit seiner Serie "GH0809" von 2010. Am Eingang des Grand Palais, am Stand der Pariser Galerie Eric DuPont, verwendet Batniji seinen Platz an der Ausstellungswand, um auf die anhaltende Zerstörung des Gazastreifens durch die israelische Armee hinzuweisen. Seine Arbeiten bestehen aus einfachen, rot gerahmten DIN-A4-Ausdrucken von Handyfotos zerstörter Häuser in Gaza, die er nüchtern mit Angaben zur Quadratmeterzahl und Bewohnerzahl versieht, ähnlich wie Immobilienanzeigen. Obwohl die Bilder bereits 15 alt sind, bildet die Serie heute einen beklemmenden Kommentar zur derzeitigen Lage in Gaza und den politischen Bestrebungen zur Wiederbesiedlung des Gebiets, die dieser Tage in Teilen der israelischen Regierung diskutiert werden.

Aktuelle politische Themen greift auch die dominikanisch-französische Fotografin Karla Hiraldo Voleau in ihrer Serie "Doble Moral" auf, die in der von Anna Planas kuratierten "Emergence"-Sektion zu sehen ist. In eindringlichen Porträts und Selbstporträts dokumentiert sie dominikanische Frauen, die sich auf illegalen Wegen Abtreibungspillen beschafft haben. Kein einfacher Schritt in einem Land, in dem Schwangerschaftsabbrüche unter allen Umständen verboten und mit harten Strafen belegt sind. Voleau thematisiert die Notlage dieser Frauen und verleiht ihnen durch ihre Arbeit im übertragenen Sinne eine Stimme. Aluminiumhüllen benutzter Pillen hängen als verbindendes Element über den Rahmen der Porträts. Vor dem Hintergrund der Trump-Wahl ebenfalls ein hochaktuelles Thema.

Surrealistische Vielfalt

In der "Emergence"-Sektion zieht auch die Arbeit von Camille Vivier sofort alle Aufmerksamkeit auf sich. Die Schwarz-Weiß-Fotografien der Bodybuilderin Tjiki Sidibe stechen ins Auge. Inspiriert sind die Aufnahmen schmelzender Wachskerzen und metallischer Innenausstattung von der kalten Alien-Ästhetik H.R. Gigers. Viviers Ausstellung verbindet Bondage- wie Alltags-Elemente zu einem kraftvollen, surrealen Ensemble

Auch abseits der Messe gibt es in Paris dieser Tage einiges zu sehen: So feiert die Stadt gerade das 100. Jubiläum des Surrealismus. Das Centre Pompidou zeigt dazu eine umfangreiche Ausstellung. Der Ehrengast der Paris Photo, Jim Jarmusch, vertont in den Pariser Kinos Reflet Médecis und MK2 Beaubourg surrealistische Kurzfilme von Man Ray. Ein weiteres Highlight für Film- und Fotokunst-Fans: die Ausstellung "Travelling" im Jeu de Paume, die erstmals eine umfassende Retrospektive zum Werk der belgischen Künstlerin Chantal Akerman zeigt. Die Ausstellung, die noch bis Januar 2025 läuft, umfasst unveröffentlichtes Filmmaterial sowie Archivaufnahmen aus Akermans Karriere.

Die diesjährige Paris Photo zeigt, dass Fotografie als Medium mehr ist als ein Abbild der Realität, sondern ein Raum sein kann für hochpersönliche und politische Botschaften. Auf der Messe wird deutlich: Fotografie bleibt ein zentrales Medium, um gesellschaftliche Veränderungen sichtbar zu machen und vermittelt darüber neue Narrative, die es zu diskutieren gilt.