Erwin Wurm zum 70.

Der Volkskünstler

Erwin Wurm wird 70
Foto: Henning Kaiser/dpa

Erwin Wurm

Erwin Wurm lässt Häuser zerfließen, Autos aufquellen, er verwandelt Museumsbesucher in Skulpturen und stellt so lustvoll Fragen zur Bildhauerei. Politischen Anspruch hat der Künstler mit 70 Jahren indes ganz aufgegeben

Es braucht nicht viel, um dabei zu sein, nur eine Minute Zeit und das, was eben so an Dingen herumliegt, daumengroß bis hüfthoch. Wer Kunst werden will, stecke sich Döschen und Dosen, Stifte und Stöcke in Nase, Ohren und Augenhöhlen. Er lege sich auf Apfelsinen, stülpe sich einen Eimer über den Kopf und klemme irgendetwas zwischen sich und der Wand oder den Körper eines Freundes. Dann Luft anhalten, erstarren, eins, zwei, drei – fertig ist die Minutenskulptur.

Der Österreicher Erwin Wurm hat sie erfunden und überredet seit Jahren erfolgreich alle Welt, es ihm nachzumachen und in erhabener Skurrilität auszuharren. Der am 27. Juli 1954 in der Steiermark Geborene, der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammt, jonglierte schon Anfang der 1990er-Jahre mit dem Skulpturenbegriff, stellte Sockel aus, auf denen nur eine dicke Staubschicht lag, und zwängte seine Modelle verrenkt in Kleider. Mit seinen "One Minute-", "Outdoor-" und "Indoor-Sculptures" wurde Wurm dann ein Volkskünstler, und das im besten Sinne. Wer Beuys Vorstellung von der "sozialen Plastik" etwas vage fand, der entdeckt vielleicht in der lebhaften Adaption der Wurm-Akrobatik konkretere Anhaltspunkte, wie Gegenwartskunst für ein breites Publikum echte Gegenwart werden kann. Natürlich ohne großartige gesellschaftliche Ziele, dafür mit Spaß.

Wurms menschliche Skulpturen sind zum Stillstand gebrachte Performance, Alltag, der durch wenige Handgriffe auf immer neuen Gipfeln der Absurdität einfriert. Wacht eine Minutenskulptur wieder auf und fällt das Arrangement auseinander, sieht der Beteiligte die Welt vielleicht ein bisschen anders – und wenn auch nur kurz, für eine Minute. 

Im Internet wimmelt es von Leuten, die in Plastikeimern Kopf stehen und Filzer in die Nase stecken, die Band Red Hot Cilli Peppers verwandelte sich in einem Video in Minutenskulpturen, und Besucher in den zahlreichen Museumsausstellungen Wurms veranstalten regelrechte Olympiaden, verschrobenstes Exponat zu werden. 


Wer Erwin Wurm ausstellt, muss also mit allem rechnen. Derzeit bereitet das Wiener Museum Albertina eine große Retrospektive vor, die ab dem 13. September "ein dichtes Netzwerk an künstlerischen Statements" schaffen soll, "das uns in Form von Skulpturen, Zeichnungen, Arbeitsanweisungen und -dokumentationen, Videos, Objekten, Fotografien oder Gemälden dazu einlädt – wie der Künstler selbst hervorhebt – 'das Paradoxe und das Absurde' unserer Welt, unseres Lebens, unseres Alltags zu beleuchten."

Erwin Wurm stellt mit Witz relevante Fragen: Was ist eine Skulptur? Oder: Wie löse ich die Distanz zwischen Kunst und Betrachter auf? Wurm gibt seine Antworten im Sprung zwischen Bildhauerei, Körper, Architektur und Design. Er lässt Autos wie übergewichtige Menschen aussehen, Häuser zerfließen, kleidet Plastiken in Anzüge, formt Staub zu Kunst. 

In seinen Skulpturen, Performances, Handlungsanweisungen und Fotografien gerät die Materie außer Form, als leide sie unter Fettsucht, wird unsicher, schmilzt in der Hitzigkeit seiner ironischen Einfälle. "Ironie hilft, Wahrheiten auszusprechen, die man sonst nur mit erhobenem Zeigefinger von sich geben kann", sagte der Bildhauer einmal. Diese "Wahrheiten" über Wohlstand, Spießertum und Warenfetischismus kommen gut an. Meistens jedenfalls. 2017 durfte der Künstler sein Heimatland auf der Venedig-Biennale präsentieren, und er parkte einen LKW vor dem österreichischen  Pavillon – senkrecht. Die Konnotation zum Flüchtlingsdrama im burgenländischen Parndorf, in dem 71 Menschen in einem luftdicht verschlossenen Laderaum eines Kühllastwagens starben, drängte sich auf. Das Publikum war eingeladen, durch das Innere des Fahrzeugs auf eine Aussichtsplattform zu klettern, wo eine Anweisung Wurms wartete: "Stehe still und blicke über das Mittelmeer". War das noch Augenzwinkern oder schon nervöses Zucken?

Für seine klar politischen Werke sei er "niedergemacht" worden, sagte Wurm gerade der dpa anlässlich seines 70- Geburtstags am Samstag. Deshalb habe er keine Lust mehr auf solche Arbeiten. Wer Wurm ausstellt, muss also heute mit allem rechnen. Nur nicht damit, dass es den Besuchern nicht gefällt.