Spätestens wenn die ersten Blätter von den Bäumen fallen, wird man den Worten Günter Schabowskis wieder gedenken: Im Herbst 1989 wollte er zunächst die neue DDR-Reiseregelung bekanntgeben, läutete aber versehentlich das Ende der vierzig Jahre währenden deutschen Teilung ein. Tausende Berliner stürmten die Grenzen, Menschen aus Ost und West lagen sich in den Armen, Freudentränen flossen. Nach einer friedlichen Revolution war die Mauer gefallen, am späten Abend des 9. Novembers.
Der damals 26-jährige Daniel Biskup saß zu diesem Zeitpunkt noch in einem Café in Augsburg, doch schon wenige Momente später im Auto Richtung Berlin. Seine Kamera im Gepäck. Für ihn war diese Nacht das erste Kapitel der "Geschichte einer enttäuschten Liebe", die er nun mit über 400 bisher unveröffentlichten Fotografien in seinem Bildband "Wendejahre" aus seiner Sicht erzählt. Denn in den Folgejahren 1990 bis 1995 reiste er immer wieder nach Ostdeutschland, um die radikalen Umwälzungen der Städte, der Wirtschaft, des Konsums und des Alltags der Menschen zu dokumentieren.
Für viele Ostdeutsche erfüllte sich zunächst ein langersehnter Traum: Mit den begehrten, bunten Westprodukten, die die Regale fluteten, mit der amerikanischen Musik, dem VW, Sexshops und West-Zigaretten blühte auch die Hoffnung auf ein neues Leben - alles schien möglich. Eine Aufnahme Biskups zeigt Helmut Kohl bei seinem ersten Besuch in Ostdeutschland im März 1991 in Erfurt - er, der "Kanzler der Einigung", wird innig von einem Jungen umarmt.
Doch die Aufbruchstimmung kippte zwei Monate später, symbolisiert durch den Moment, als ihn das erste Ei in Halle an der Saale traf. "Die Menschen im Osten haben so viel von ihren Wünschen, Sehnsüchten und Hoffnungen in diesen Menschen projiziert - das konnte nur schiefgehen und war selbst für ihn eine Nummer zu groß", sagt Biskup in einem Interview. Seine Momentaufnahmen zeigen, wie vieles durcheinandergeriet. Der florierende West-Markt, die Währungsunion und die rasante Umstellung von der Plan- zur Marktwirtschaft trieben Betriebe in den Ruin und brachte viele Menschen, fast 80 Prozent, kurz- und langfristig um ihren Job. Die existenziellen Sorgen von Zehntausenden äußerten sich in den Leipziger Montagsdemos 1991, auf dem "Platz der Verkohlung". 1992 porträtierte Biskup die aufgebrachten, mit Kündigungszetteln etikettierten Demonstranten der Treuhand-Demo gegen den Stellenabbau der Buna AG in Berlin.
Während die lebensweltlichen Strukturen der Menschen im Systemwechsel zerbrachen, galten von jetzt an gleich neue Werte und Lebensentwürfe. Genauso, wie man die Produktion des Trabants, dessen Wert abrupt ins Bodenlose fiel, 1991 einstellte und HO-Hotels, Delikatläden und sozialistisch geprägte Straßennamen schon bald aus dem Stadtbild ausradierte, so wurden auch Ausbildungen und bisherige Lebensleistungen verkannt und ganze Biografien gebrochen. Eine enttäuschende Erfahrung, deren Narben sich bis heute nicht nur in einer stillen "Ostalgie"-Welle zwischen Ampelmännchen- und Trabbi-Merch bemerkbar machen, sondern womöglich auch in Pegida-Parolen und AfD-Programmen ein Ventil findet.
Nachdem Daniel Biskup bereits zwei Bildbände zum politischen Umbruch in Deutschland und Ost-Europa veröffentlicht hat, schließt "Wendejahre" die Trilogie ab. In schlichten Alltagsszenen nimmt der Band den ambivalenten Umgang mit den Herausforderungen des rasanten Wandels Ostdeutschlands in den Blick, der zwischen Aufbruch und Resignation, Jubel und Ernüchterung, Vision und Zweifel, die tiefen Wurzeln eines bis heute anhaltenden Konflikts erkennen lässt.
Monopol zeigt eine Auswahl von Biskups Fotografien in der Bildstrecke oben.