Auf Jahrzehnte hinaus, wenn nicht für immer, wird der 7. Oktober 2023 eine Grenzscheide markieren, für Israel, für Palästina, für den Nahen und Mittleren Osten. Elinor Sahm macht in ihren samt und sonders nach dem 7. Oktober geschaffenen Zeichnungen keinerlei Anstalten, auf die tagesaktuellen Geschehnisse einzugehen. Und dennoch ist dieser eine, furchtbare Tag untergründig präsent.
Elinor Sahm, 1986 in Jerusalem geboren und neuerdings in Berlin lebend, widmet sich in ihren mit Blei- und Buntstift auf Leinwand – nicht auf Papier – ausgeführten Zeichnungen der eigenen Familiengeschichte. Prägende Person auf der größten Zeichnung ist ihr Urgroßvater Avraham Abuganim, genannt Sabuli, der, in Hebron als Kind von Einwanderern aus einerseits Marokko, andererseits Mazedonien geboren, die Tradition des orientalischen Judentums verkörperte.
Vor allem erinnert Elinor Sahm ihn als begnadeten Musiker des Saiteninstruments Oud. Zum Ausgang des Sabbat pflegte sich die Familie zu versammeln, Sabuli musizierte und erzählte in einem Gemisch aus Hebräisch, Arabisch und der aus dem spanischen (sephardischen) Judentum stammenden Umgangssprache Ladino. Es müssen im Wortsinne märchenhafte Zusammenkünfte gewesen sein.
Jeder Strich für sich eine Abbreviatur
Gezeigt werden die Arbeiten in der Galerie Wannsee Contemporary, die Avi Feldman, selbst aus Kanada gebürtig, an der Chausseestraße im alten Ortskern von Wannsee betreibt. Vor einem Jahr hatte er die israelische, gleichfalls in Berlin lebende Künstlerin Yael Bartana im Programm, die inzwischen gemeinsam mit Ersan Mondtag für den deutschen Pavillon bei der Biennale von Venedig ausgewählt worden ist. Nun also Elinor Sahm.
Von ihrem Urgroßvater sowie den Familienangehörigen existieren Videoaufnahmen wie übrigens auch Tondokumente. Elinor Sahm hat sie alle gesehen und daraus die Personen entnommen, die sie mit nervösen Strichen auf die Leinwand bannt, jeder Strich für sich eine Abbreviatur, manchmal gar ein Krakel, in ihrer Gesamtheit aber die jeweilige Person umreißend.
Keine einzelne Figur sitzt still, sie sind bisweilen durch Überlagerungen in Mehransichtigkeit gezeigt, entziehen sich aber in jedem Fall durch angedeutete Bewegung der Festlegung. Sie sind im Wortsinnen flüchtig. Das Auge des Betrachters findet keinen Halt, sondern tastet die Figurengruppen ab, etwa auf der großen Leinwand mit Sabuli von diesem hin zu seinen Zuhörern und zu ihm zurück, der allein durch den Umriss seines Musikinstruments hervorgehoben ist.
Gemeinsame Geschichten und Erzählungen
Bereits verstorbene Personen gibt Sahm in schwarzem Strich wieder, noch lebende in Rot oder Blau, jeweils mit verwischten Flächen gleicher Farbe unterlegt. Es sind Kinder, die auf den Zeichnungen farbig dargestellt sind; die Videos stammen schließlich aus bereits ferner Vergangenheit, kenntlich an einer Stelle durch die von der Künstlerin mitübernommene Buchstabenfolge "VHS".
Auf einem einzigen Blatt hat Elinor Sahm sich selbst mitverewigt, in kühlem Blau, wie um ihren Status als von außen blickende Chronistin der Familie zu unterstreichen. Sie hat an der Jerusalemer Bezalel-Akademie studiert, der führenden Kunstschule Israels, und in Vorbereitung auf ihre dortige Abschluss-Ausstellung begann sie, die Familienvideos zu sichten.
"Heute, im Berlin-Wannsee des Jahres 2024", heißt es im Informationsblatt der Galerie, unterstreicht die Ausstellung 'Heute/Today' die inhärenten Beziehungen zwischen jüdischen und arabischen Identitäten, die durch gemeinsame Geschichten und Erzählungen ausgelöst werden." Eine angesichts des 7. Oktober notwendige Erinnerung. Sie wäre zu ergänzen, was die Person der Künstlerin angeht: Sie hat väterlicherseits auch deutsche Wurzeln.
In einer früheren Werkgruppe hat sie sich mit ihrem Urgroßvater dieser Linie, dem einstigen Berliner Oberbürgermeister Heinrich Sahm, auseinandergesetzt. Mitten in die jetzige Ausstellung platzte vor wenigen Tagen die Nachricht, dass ihr Vater, der jahrzehntelange Nahost-Korrespondent Ulrich Sahm, 73-jährig verstorben ist. Ihn hat Elinor dargestellt, auf einem eigenen, schmalen Blatt, mit schwarzen und weißen Strichen auf düsterem Fond, in der Hand eine Kamera. Auch er war ein Chronist.