Herr Obrist, wie begann Ihre Faszination für Handschriften?
Ich bin in den Voralpen der Ostschweiz aufgewachsen, wo auch Robert Walser gelebt hat, und war schon als Jugendlicher von dessen Mikrogrammen fasziniert, den mit kleinen kalligrafischen, fast unsichtbaren Notizen dicht vollgeschriebenen Blättern. Ein anderer Ausgangspunkt ist das erste Museum, das ich als Kind gesehen habe: die Stiftsbibliothek St. Gallen, wo man mit weißen Handschuhen die mittelalterlichen Handschriften einsehen konnte. Für mich war das wie eine Zeitreise!
Schreiben Sie selbst noch mit der Hand?
Ich kritzele häufig herum, wenn ich Vorträge halte oder auf Panels sitze, um die Panik zu bewältigen. Durch das Schreiben am Rechner bin ich natürlich viel schneller geworden und produziere mehr. Anderseits wollte ich nicht immer auf den Bildschirm schauen, sondern das Handschriftliche weiterpraktizieren. So fing ich vor zehn Jahren an, Briefe wieder mit der Hand zu schreiben. Da die Post unzuverlässig geworden ist, scanne ich die Briefe ein und verschicke sie per E-Mail.
Was verschwindet, wenn niemand mehr mit der Hand schreibt?
Diversität und eine Art des Denkens. Eine ganze Kultur geht verloren, Tausende Jahre alt. Es verschwindet eine parallele Realität. Was genau wir verlieren, wissen wir allerdings noch nicht.
Wie kamen Sie zu Ihrem Instagram-Projekt?
Wie oft bei meinen Projekten waren das Kettenreaktionen, es entwickelte sich ohne Masterplan. Vor mehreren Jahren stieß ich auf einen Text von Umberto Eco, in dem er mahnt, die Handschrift wieder einzuführen. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass man Kinder jetzt wieder in Kalligrafiekurse schickt, aber es leuchtete mir ein. Damals war ich mit einem Projekt des Künstlers Gustav Metzger beschäftigt. Er geht gegen die Auslöschung bestimmter Spezies und Traditionen wie eben die der Handschrift an. Dann traf ich den Historiker Eric Hobsbawm, und er sprach vom "Protest gegen das Vergessen". Das Vergessen der Handschrift würde vielleicht auch die Erinnerung zum Verschwinden bringen, dachte ich.
Aber warum findet Ihr "Protest gegen das Vergessen" ausgerechnet auf der Foto-Sharing-App statt?
Der Künstler Ryan Trecartin brachte mich zu Instagram und postete auf seinem Account, dass ich jetzt dabei bin. Ich hatte also auf einmal viele Follower, aber keine Ahnung, was ich posten sollte. Ich wollte die Plattform einsetzen für einen positiven Zweck; es sollte nicht um Eitelkeit und Selfies gehen. Später ging ich mit der Dichterin Etel Adnan spazieren, und wir suchten Unterschlupf vor dem Regen. Ich habe auf meinem iPhone rumgetippt, und sie fing an, auf Papier ein Gedicht zu schreiben. Ich war fasziniert von der unglaublichen Geste, wie dieses Gedicht entstand. Ich habe dieses Papier dann ganz spontan auf Instagram gepostet – und damit war es dann gefunden. Ich wünsche mir, dass dieses Projekt über die Kunstwelt hinausreicht.
Sagt Handschrift etwas über Charakter aus?
Ich bin kein Grafologe, ich weiß es nicht. Aber man kann sicher viel ableiten. Wenn man sich die Postits jetzt anschaut, stellt man fest, dass es nicht zweimal dieselbe Schrift gibt. Das fasziniert mich. Bei manchen Künstlern ist die Verwandtschaft mit der Zeichnung offensichtlich, auch bei Robert Walser. Bei Gustav Metzger löst sich die Schrift fast auf und wird ganz zur Zeichnung.
Wagen Sie eine Prognose: Wie geht es weiter mit der Handschrift?
Handschrift stirbt nicht aus. Es gibt immer Gegenbewegungen und neue Möglichkeiten durch Digitalisierung. Man kann wie der Künstler Liam Gillick auf dem iPad herumkritzeln, oder man verwendet einen digitalen Font, der die Handschrift von Duchamp kopiert. Je länger ich an meinem Instagram-Projekt arbeite, desto optimistischer werde ich.