Jan Lotter, was hat Sie dazu bewegt, beim "fliegenden Künstlerzimmer" mitzumachen?
Als ich die Einladung zu einem Projektentwurf gesehen habe, war ich sofort interessiert. Ich habe seit zwanzig Jahren immer mit Jugendlichen zu tun, weil ich seit meinem Zivildienst im Jugendhaus Snowboard-Freizeiten organisiere. Und ein Jahr auf dem Schulhof, das ist in der Biografie wirklich einzigartig. Dazu kommt die Vorstellung, ein Weltbild weiterzugeben an 650 ganz unterschiedliche Menschen. Auch seitens des Teams der Stiftung und der Schule habe ich mich sehr willkommen gefühlt. Ich hatte das Gefühl, man hat hier Rückenwind und kaum Barrieren. Das gibt unheimlich viel Freiraum und erlaubt, Impulse zu setzen, die weitergetragen werden. Ich bin auf eine wunderschöne Dokumentation über Louise Bourgeois gestoßen, in der sie ihre erste künstlerische Arbeit beschreibt. Ihr Vater ist eine dieser Personen, an denen sie sich ein Leben lang abgearbeitet hat, und sie erzählt, wie sie mit sechs, sieben Jahren am Tisch sitzt und ihr Vater sie anschreit und sie anfängt, aus Brotkrumen Figuren zu formen. Es geht um diese künstlerisch-formende Handlung, die initiativ aus einem selbst heraus entsteht. Den Versuch, Dinge anders zu formen und zu denken.
Wie sieht ein typischer Schultag für Sie aus?
Ich bin von Dienstag bis Donnerstag hier. Um sechs Uhr morgens werde ich wach, um viertel vor acht kommen die ersten Schüler aufs Gelände. Ich sitze hier im Künstlerzimmer beim Frühstück und sehe die Schüler vorbeiziehen, einige kommen auch kurz vorbei, man begrüßt sich, das ist mir wichtig. Dann gibt es die klassischen Unterrichtsstunden, wo Klassen bei mir vorbeikommen oder ich sie besuche. Da entwickeln wir gemeinsam Ideen. In den Pausen ist eigentlich immer was los, manchmal steht zum Beispiel Audio-Equipment wie Synthesizer und Drum Machine hier, mit dem die Leute spielen können.
Also wird in den Pausen auch mal spontan aufgelegt?
Genau. Es gibt zum Beispiel eine integrierte Klasse, die donnerstags immer vorbeikommt und von denen einige auflegen lernen wollen. Das finde ich supertoll, weil über Musik so unglaublich viel vermittelt werden kann. Man kann dadurch sehr spielerisch komplexe Dinge weitergeben. Ein zwölfjähriger Jugendlicher war beispielsweise zwei Tage hintereinander hier und hat mit dem Synthesizer tolle Klänge erzeugt. Um Punkt acht Uhr stand er auf der Matte. Das hat mich beeindruckt.
Haben Sie sich ein Rahmenprogramm für die kommenden Wochen überlegt?
Prinzipiell geht es mir um drei Formate. Eines habe ich "WhatsApp" genannt, da geht es ums Schaffen im Kurznachricht-Format: minimale Aktionen und schnelle Zeichnungen. Dann gibt es längere Aufgaben, und drittens langfristige Projekte, die auch Hand in Hand mit den Lehrern stattfinden können.
Wie läuft die Zusammenarbeit mit den Lehrern bisher?
Das klappt im Großen und Ganzen sehr gut, aber ich hab das Gefühl, da geht noch viel mehr. Ich bin jetzt natürlich auch erst sechs Wochen hier und vertrete Gedanken, die transformatorischer Natur sind. Eigentlich geht es dabei zwar um die Arbeit mit den Schülern, aber gleichzeitig eben auch um diese ganze soziale Konstruktion Schule. Da gibt es jemanden, der heißt Lehrer und sagt meistens an was passiert, und dann gibt es die anderen, die Schüler, die darauf eine Antwort geben müssen. Im Kontrast dazu sage ich den Schülern: Das "fliegende Künstlerzimmer" ist euer Raum, ihr habt die Freiheit, zu entscheiden, was hier passiert. Ihr könnt etwas entwickeln. Das Ziel wäre, dass Schüler sich etwas ausgedacht haben und das dann umsetzen. Neulich kamen zum Beispiel einige Schüler rein, die Rapmusik machen wollten. Medial ist das Angebot total offen. Im besten Falle geht es um das Handeln, und die Gestaltungsmöglichkeiten sind Mittel zum Zweck.
In den ersten Schultag sind Sie direkt mit einer performativen Intervention gestartet, bei der Tänzer in Tiermasken über den Schulhof gezogen sind.
Da habe ich zehn Tänzer eingeladen, sowohl aus den Bereichen House und Hip-Hop als auch Contemporary Dance, In den vier Pausen habe ich an verschiedenen Orten mit Mixer und Plattenspieler aufgelegt. Angefangen hat es vor Schulbeginn, und es hat mehrere Pausen gedauert, bis die Schüler ihre Skepsis verloren haben. Die Aktion wurde auch nicht vorher angekündigt, sie war plötzlich da - und darum geht es mir, dass etwas passiert und man erstmal einschätzen muss, was das denn eigentlich ist. Ohne dass jemand sagt, ob das gut ist, ob die das eigentlich dürfen. Und aus der Situation heraus entstanden auch Wünsche, was hier zukünftig passieren sollte. Für das Schulfest haben wir zum Beispiel auf dem Videospiel "Fortnite" basierende Choreografien entwickelt und dann einen Flashmob veranstaltet.
An den Wänden des Atelierraums hängen einige Bilder. Stammen die auch vom Schulfest?
Ja, wir wollten präsentieren, was in den sechs Wochen bisher schon alles entstanden ist. Da gibt es beispielsweise eine Fotowand und eine Wand mit Zeichnungen, die im Rahmen eines Kurses entstanden sind. Die waren alle ursprünglich auf A3-Papier gezeichnet, aber die Motive wurden meist sehr klein auf dem Papier positioniert. Viele sagen, dass sie nicht zeichnen können, weil die Meinung herrscht, dass gutes Zeichnen irgendwas mit einem merkwürdigen Realismus zu tun hat. Deshalb trauen sich einige Schüler nicht, flächenfüllend zu malen. Ich habe die Motive dann auf A0-Formate hochkopiert und aufgehängt um zu zeigen, dass in diesen Strichen eben doch eine ganze Menge Potenz steckt.
Wie waren die Reaktionen der Schüler auf diese vergrößerten Zeichnungen?
Manche konnten das direkt annehmen. Da ist dann ist auf jeden Fall ein gewisser Stolz da, das eigene Werk in einer solchen Größe dort hängen zu sehen - außerhalb dieses A3-Formates, auf das im Schulkontext entstandene Werke meist limitiert sind.
Gibt es so etwas wie eine generationsspezifische Herangehensweise an Kunst, die schon erkennbar geworden ist?
Wenn ich die Arbeitsweise mit meiner eigenen als Schüler vergleiche, ist die Kurzwelligkeit von Dingen definitiv essentiell. Man kann oder will sich nicht so lange mit etwas aufhalten. Außerdem sind sowohl Graffiti als auch Zeichnen sehr gefragt und funktionieren als private Tools, um gewisse Dinge zu vermitteln. Es geht darum, einen Namen zu finden, eine Persönlichkeit darstellerisch beschreiben zu können.
Was haben Sie bisher von den Schülern gelernt?
Gerade am Anfang ist es ja Versuch und Irrtum: Was kann man machen, wie reagieren die Schüler? Eine der wichtigsten Sachen, die ich dabei bisher gelernt habe: Ich muss herausfinden, wie die einzelnen Leute ticken. Es geht beispielsweise beim Graffiti nicht darum, dass alle ihre Buchstaben in der gleichen Form schreiben. Ich muss sie vielmehr unterstützen bei den Eigentümlichkeiten, die sie entwickeln. Wir leben im Jahr 2018 und es gibt unheimlich viele Formen des Darstellens. Nach Jean-Christophe Ammann sind die Avantgardisten in den 70ern gestorben und seither hat man den kompletten Kreis, aus dem man sich selbst sein Segment raussuchen kann. Das erfahre ich auch in jedem Moment real neu. Ein Junge hat mir beispielsweise eine verformte Darstellung von seinem Namen gezeigt, die ich überhaupt nicht lesen konnte. Aber er hat sie er aber auf dem Blatt Papier viermal in einer sehr identischen Form geschaffen. Das war klar identifizierbar, er hatte Ordnung in einer eigenen Unordnung. Es ist völlig egal, ob ich das lesen kann, ich würde es auf der Straße sofort wiedererkennen.
Widmen Sie sich in der Zeit auf dem Schulhof auch eigenen Projekten?
Ja, wobei ich ganz ehrlich sagen muss, dass das in den bisherigen sechs Wochen sehr limitiert war. Ich habe genug Sachen, die mir durch den Kopf gehen, das ist so ein Hardcore-Rattern. Man spinnt zum einen seine eigenen Sachen weiter, aber zum anderen ist man ja unter 650 Menschen. Auch wenn man die nicht konstant vor Augen hat, ist das so ein Energie-Batzen, da entwickeln sich gerade auch durch den Austausch ständig neue Ideen. Ich verstehe aber auch meine Arbeit hier als Teil meines künstlerischen Handelns.
Inwiefern kann Kunst dabei helfen, das Schulklima zu verbessern?
Ich habe das Gefühl, dass es an den Schulen viel zu wenig Freiraum für Querdenker gibt. Ich sehe das auch an der eigenen Biografie: Die, die damals in der Schule relativ früh ihr Ding gefunden hatten, waren irgendwann nicht mehr ganz kompatibel, weil ihre Interessen in der Schule nicht mehr aufgenommen werden konnten. Niemand in der Schule hat sich mit der Musik auseinandergesetzt, für die man gebrannt hat, und auch was man gestalterisch geil fand, konnte im Kunstunterricht nicht aufgenommen werden, weil ein standardisiertes Programm befolgt werden musste. Da sollte es mehr Freiraum geben, in dem die Entscheidung bei den Schülern liegt und nicht ausschließlich bei den Lehrern oder dem Ministerium. Daher freut es mich, dass die Atelier-Wohneinheit in einem Jahr mit einem neuen Künstler weiterzieht. Ich hoffe, dass das noch viele Male passiert und dass in Hessen eines Tages ganz viele Künstlerzimmer stehen.