Eine explodierende Seilbahngondel über den Alpen von Garmisch-Patenkirchen, ein Kokain fressender Kampfhund in der Wohnung eines russischen Mafioso, ein prasselnder Sommerregen über einer Kolonne von Zuhälter-Cabrios in Berlin-Charlottenburg - es sind diese einzigartigen Exzesse, die der deutsche Film, insbesondere der, der im Fernsehen stattfindet, dem Regisseur Dominik Graf zu verdanken hat. Und mitten in diesem Getöse, in heftigsten Schießereien, Schlägereien oder Wortgefechten gibt es auf einmal Blicke, Berührungen oder Worte, die so zärtlich und tief sind, dass sie uns im Mark treffen.
Eigentlich wolle er "verbotenes Fernsehen" machen, hat er einmal gesagt und sich dabei auf die eigene Kindheit bezogen, in der er die 1958 von seinem Vater angeschaffte "Truhe" vor allem dann öffnete, wenn seine Eltern nicht zu Hause waren. Wenn sie nach Hause kamen und sie noch warm war, wussten sie, dass ihr Sohn sich nicht an das Verbot gehalten hatte.
Als Sohn des Schauspielers Robert Graf und der Schriftstellerin Selma Urfer wächst Dominik Graf in einer Künstlerfamilie im München der Nachkriegszeit auf. Bereits mit 14 Jahren verliert er seinen Vater, dem er 1997 den sehr berührenden essayistischen Dokumentarfilm "Das Wispern im Berg der Dinge" widmen wird. Er studiert Germanistik und Musik und geht viel in die Münchener "Kunstfilmtheater", in denen er - der von den Nachkriegsfilmen des eigenen Vaters früh geprägt wurde - vor allem die französische Nouvelle Vague und den italienischen Neorealismus für sich entdeckt, bevor er sich 1974 erfolgreich an der Münchener Filmhochschule bewirbt. Zu einem Zeitpunkt also, als in München gerade Rainer Werner Fassbinder seine bekanntesten Filme dreht und Wim Wenders den Filmverlag der Autoren gegründet hat.
Als Dominik Graf in diesem Autorenfilm-Klima 1982 seinen Abschlussfilm "Das zweite Gesicht" auf den Hofer Filmtagen präsentiert, da feiert er nicht, sondern weiß, dass sein Debüt erst der knallharte Anfang dessen ist, was noch auf ihn zukommen würde - und dass er sich seinen eigenen Platz in der deutschen Filmlandschaft suchen wird: "Ich ertrug meinen Film in Hof zweimal in voller, quälender Länge und mir wurde dabei mit jeder Minute immer klarer: Um überhaupt meinen Lebensunterhalt als Regisseur zu verdienen, würde ich noch furchtbar viel üben müssen. Keine Handschrift haben wollen dürfen, keine Filmkultur sein wollen. Am besten erst einmal Konfektionsware inszenieren lernen." Man könnte ergänzen: Erst einmal die Regeln lernen, um sie brechen zu können.
Eine treibende Erzählweise
Tatsächlich folgen in Grafs Filmografie nach seinem Debüt zunächst etliche Episoden für die Fernsehserie "Der Fahnder", aber 1988 dann auch sehr schnell sein erster Kultfilm "Die Katze" mit Götz George und Gudrun Landgrebe, den damals 1,3 Millionen Zuschauer sehen. Ein Genrefilm aus Deutschland mit teuren Explosionen, Dialogen wie Gefechten und jener fiebrigen Grundstimmung, die später auch seinen kommerziell gescheiterten Action-Film-Versuch "Die Sieger" (1994) und seine preisgekrönte zehnteilige Russen-Mafia Serie "Im Angesicht des Verbrechens" (2010) prägen wird, die aus heutiger Sicht wie ein avantgardistisches Vorzeichen auf jenes kollektive Serien-Fieber wirkt, das sich ab 2012 mit dem europäischen Markteintritt von Netflix in deutschen Wohnzimmern ausbreitete. Eine treibende Erzählweise, schnell und mitreißend wie der Eisbach im Englischen Garten, die Überlagerungen paralleler Handlungsstränge, das kunstvolle Verweben unterschiedlicher Orte und Zeiten zu einem eigenständigen Film-Raum, diese Zutaten prägen bald Grafs ganz eigenen Erzähl-Stil, der eben kein Stil sein will, kein Kunstgewerbe oder eine erstarrte Marke, sondern sich selbst immer wieder neu erfindet.
Es ist der immense Schatz an Referenzen, die Graf als der wahrscheinlich aktivste Zuschauer seiner Branche über die Jahrzehnte gesammelt hat, der ihm diesen avantgardistischen Umgang mit Erzählweisen, Tonfällen und Bildern ermöglicht. Getrieben von einer "bohrenden Neugierde, Gegenden zu entdeckten, die in Vergessenheit geraten, in Ungnade gefallen und aus dem Blick geraten sind", wie es Grafs enger Freund, der verstorbene Filmkritiker Michael Althen beschrieb. Vielleicht geht es Graf genau darum, die sogenannten "Sehgewohnheiten" gar nicht erst entstehen zu lassen - weder beim Publikum noch bei sich selbst. So brachte es Klaus Lemke schon sehr auf den Punkt, als er Graf nach seinem Kinobesuch im "Fabian" eine knappe SMS schickte, in der einfach stand: FABIAN = JAILBREAK. LOVE. K.
Wie aber funktioniert so ein Jailbreak eigentlich? Wie unterwandert man Spielregeln und Format-Gesetze? Und wie viel Methodik steckt dahinter?
Kontrollierter Kontrollverlust
Bezeichnend ist beispielsweise, dass Graf mit seinen Schauspielern die zu drehenden Szenen nur insoweit vorbereitet, dass sie ihn vor laufender Kamera immer noch überraschen können. Da werden keine Tonfälle, Sprechgeschwindigkeiten oder Körperhaltungen minutiös festgelegt, sondern es wird immer genügend Raum für das eigentliche Erleben von Situationen und die Entstehung wahrhaftiger Gefühle gelassen. Manche Situationen werden erst gar nicht geprobt. Es geht Graf darum, eine Unmittelbarkeit einzufangen, anstatt sie einzustudieren - das Leben zu erleben anstatt es nachzubilden.
Auch im Bild hält sich Graf deswegen immer wieder an Jean Eustaches Maxime: "Du musst das Licht filmen, denn das Licht ist die Luft der Zeit." So bereitet er auch die Kameraarbeit einerseits gewissenhaft vor, indem er jede einzelne Drehbuchseite mit steiler Schrift in die geplanten Kameraeinstellungen auflöst; wenn ihn am Drehort aber ein besonderer Lichteinfall oder eine Spiegelung überraschen, dann kann dieses Konzept auch im Handumdrehen auf den Kopf gestellt werden.
Und wenn plötzlich im Sucher der Kamera vor einem vom Szenenbilder Claus Jürgen Pfeiffer historisch präparierten Hauseingang im Berlin der 1920er-Jahre "Stolpersteine" aus der Gegenwart erscheinen, dann ist das für einen kurzen Augenblick irritierend, aber im Ergebnis viel aufregender und inhaltlich vielschichtiger als ein gewissenhaft mit Babylon-Paste zugekleistertes Trottoir.
Insgesamt lässt sich diese besondere Arbeitsweise Dominik Grafs vielleicht als kontrollierter Kontrollverlust bezeichnen: Den beteiligten Gewerken und der Produktion fordert die von der Regie permanent erwartete Offenheit eine umso gewissenhaftere Vorbereitung und höchste Flexibilität ab, die Grafs Virtuosität zulässt und sich ihr nicht in den Weg stellt. Der Drehort wird zum Schauplatz eines permanenten Kampfes gegen den eigenen Apparat. Hier findet der eigentliche Jailbreak statt. Dass dieser Kampf nicht immer geräuschlos bleibt, ist selbstverständlich.
Liebe und Liebende
Grafs engste Vertraute in diesem energieintensiven Entstehungsprozess sind die Schauspieler, die er auf Händen trägt und väterlich und liebevoll durch alle denkbaren Abgründe führt, die wir in seinen Filmen erleben dürfen. So lädt ein Blick auf Dominik Grafs Filmschaffen der letzten 40 Jahre auch dazu ein, sich an die vielen einzigartigen Schauspiel-Höhepunkte und seine vielen Entdeckungen zu erinnern, die er gemeinsam mit der eng vertrauten Casterin An Dorthe Braker und Drehbuchautoren-Freunden wie Günter Schütter, machte: Unvergessen etwa die mädchenhaft junge Meret Becker und der unwiderstehliche Herbert Knaup in "Die Sieger", der berührend verlorene Marek Harloff in "Der Skorpion", das unmögliche Liebespaar Karoline Eichhorn und Antonio Wannek in "Der Felsen", der eiskalte und gleichzeitig doch so warme Mišel Matičević als Zuhälter in "Hotte im Paradies", der junge Max Riemelt als Bühnenmaler in "Der Rote Kakadu" und wenige Jahre später als Berliner Polizist Marek in der Serie "Im Angesicht des Verbrechens", die "Geliebten Schwestern" Hannah Herzsprung und Henriette Confurius, die jugendlich und befreite Iris Berben in "Hanne" und das unglaublich anziehende tragische Liebesgespann um Tom Schilling, Saskia Rosendahl und Albrecht Schuch im "Fabian".
Die meisten dieser Figuren sind Liebende. Ihre Liebe kann flüchtig oder unzertrennlich sein, einseitig oder manipulativ, verspielt oder tröstlich. Ganz ähnlich wie die Liebe ihres Erzählers zu all jenen Filmen, mit denen er gedanklich immer im Austausch zu stehen scheint. Genau diese Cinephilie, aus der sich Grafs Oeuvre nährt, hat Michael Althen mit den folgenden Worten beschrieben: "Und vielleicht ist es genau das, was dem deutschen Kino so oft fehlt: Dass man den Filmen ansieht, dass sie aus Liebe zu anderen Filmen, zum Kino entstanden sind. Denn Kino ist nicht nur das, was alle gern dafür halten, sondern das, was es zum Leuchten bringt, wenn man es wirklich liebt."