Als an einem dunklen Freitagabend Ende November auf einer Bühne in Kassel die Konferenz "Art, Politics, and the Public Sphere" begann, haben die neuesten Nachrichten den Gegenstand des Symposiums eingeholt.
Nur wenige Tage zuvor hatte Ranjit Hoskoté sich aus der Findungskommission für die nächste Documenta zurückgezogen, als bekannt wurde, dass 2019 eine Petition im Umfeld der anti-israelischen Kampagne BDS (Boycott Divest Sanction) mitunterzeichnet hatte. Ein alter Hut, könnte man meinen, aber die Debatte um die letzte Documenta entzündete sich eben an den BDS-Sympathien zahlreicher Mitwirkender, lange bevor überhaupt Kunstwerke mit antisemitischer Ikonografie enthüllt wurden.
Kurz vor Hoskotés Rücktritt hatte bereits die israelische Künstlerin, Philosophin und Psychoanalytikerin Bracha Lichtenberg Ettinger bekannt gegeben, dass sie nicht mehr für die Kommission zur Verfügung steht. Sie hatte nach dem brutalen Angriff der Hamas-Terroristen im Süden Israels um die Verschiebung von Sitzungen gebeten – vergeblich, deshalb verließ sie das Gremium.
Das Bild muss unvollständig bleiben
Dann, noch ein paar Tage später, trat die gesamte Kommission zurück. In einer bei "E-flux" publizierten Stellungnahme hieß es: "Wenn Kunst den komplexen kulturellen, politischen und sozialen Realitäten der Gegenwart gerecht werden soll, braucht sie angemessene Bedingungen, die diverse Perspektiven, Wahrnehmungen und Diskurse erlauben." Diese Bedingungen seien in Deutschland, in der öffentlichen Debatte derzeit nicht gegeben.
Das sind nur die neuesten Ereignisse kurz vor dem Symposium, das lange vor dem 7. Oktober geplant wurde. Das ist auch nur ein unvollständiges Bild der Skandale und Debatten um die Documenta, und die neuen Kontexte, die sich seit den Hamas-Angriffen im Kulturbetrieb entspinnen. Auch bei dieser Konferenz muss das Bild unvollständig bleiben.
Der Soziologe Heinz Bude, der das im Aufbau befindliche Documenta-Institut leitet, moderiert die Veranstaltung. Es geht um die Israel-Boykottbewegung BDS, die in Deutschland vom Bundestag als antisemitisch eingestuft wurde, es geht um deutsche Erinnerungskultur, es geht um den Schock, der sich einstellte, als viele Linke und die Kunstwelt nach dem 7. Oktober die Hamas-Terrorakte tolerierten, wenn sie sich nicht gleich im Namen der Dekolonialisierung damit solidarisierten. Das Symposium fragt, was post- und antikoloniale Haltungen bedeuten, wenn sich lokale und vermeintlich globale Befindlichkeiten treffen.
Wem gehört die Documenta?
Das alles in eine Konferenz zu pressen, die einen Abend und einen Tag dauert, ist unmöglich. Es gibt keine Keynotes, Bude steigt deshalb direkt mit Fragen ein. Auf dem ersten Panel: Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, die sich gegen Rassismus und Antisemitismus engagiert. Mendel bot sich schon im Sommer vergangenen Jahres als Berater in Fragen von Diskriminierung auf der Documenta an. Außerdem Nicole Deitelhoff, Friedens- und Konfliktforscherin. Sie saß dem Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung der Documenta Fifteen vor. Erste Frage von Bude: "Wem gehört die Documenta?"
Doch die Diskussion geht schnell in eine andere Richtung. Bis zum 7. Oktober, sagt Meron Mendel, habe er das politische Spektrum ganz klassisch verstanden. Mit jenem Samstagmorgen aber wurde ihm eine fundamental andere Weltsicht bewusst, eine, die in der postkolonialen Matrix den Staat Israel auf der Seite der Kolonisatoren einträgt und Palästinenserinnen und Palästinenser auf der Seite der unterdrückten Indigenen. Die Debatte gleicht einem Stellungskrieg, der es unmöglich zu machen scheint, über Befreiung zu streiten.
In der Zwischenzeit hat sich die geopolitische Lage geändert, Israels Streitkräfte versuchen, die Geiseln zu befreien, die seit nunmehr sechs Wochen in der Hand der Terroristen sind, dabei steigt die Zahl ziviler Opfer im Gazastreifen weiter an. In diese Lage fallen auch die Rücktritte der Findungskommission.
Singulär oder präzedenzlos?
In der Begründung für den Rücktritt der Findungskommission, sagt Nicole Deitelhoff, steckten zwei Argumente. Eins sei berechtigt: Im derzeit überhitzten Diskursklima sei es nahezu unmöglich, eine Entscheidung für das künftige Kuratorium zu treffen; zugleich würden Solidarisierungen mit den zivilen Opfern in Gaza schnell anti-israelisch gelesen. Das andere, für Deitelhoff beunruhigende Argument – es laufe eher implizit mit: Man müsse eben, wenn man weltoffen und global sein wolle, auch ein bisschen Antisemitismus zulassen.
"Was bedeutet der Holocaust für das Denken?", fragt Bude dazu. Muss man, so wie eine Losung der postkolonialen Kritik lautet, Erinnerungspolitik provinzialisieren? Das ist der Auftakt für eine Debatte, in der die Singularität des Holocaust bestritten werden kann. In der simpelsten Form drückt sich das im Slogan "Free Palestine from German Guilt" aus, der auch auf der Documenta zu sehen war.
Deitelhoff weist darauf hin, dass der industrielle Massenmord der Shoah singulär ist, und dass die Erinnerung daran eine Ermahnung ist, wie dünn der Lack der Zivilisation ist. Mendel zieht den Begriff Präzedenzlosigkeit für den Holocaust vor.
Es kursieren Listen über die Ausrichtung von Institutionen
Aber Mendel macht noch einen weiteren, wichtigen Punkt. Denn jenseits der Frage nach einer Universalisierbarkeit von Holocaust-Erfahrung gebe es eine pragmatische Sicht: für Deutsche und Jüdinnen und Juden ist der Holocaust singulär. Mithin steckt im Provinzialitätsvorwurf – der während der Documenta-Debatten im vergangenen Jahr immer wieder vorgebracht wurde – eine gewisse Überheblichkeit.
Zwar habe die Documenta Fifteen das wichtige Projekt verfolgt, globale Positionen zuzulassen. Dabei müssten die Gäste aber auch eine Sensibilität für Provinzialität entwickeln, für die Situiertheit, wie ein Buzzword im Kunstjargon lautet. Daran ist das kuratorische Team gescheitert.
Zum Abschluss eine Fragerunde. Was ist mit der sogenannten Cancel Culture: Müssen Kulturschaffende, die sich nicht mit Israel solidarisieren, um Engagements und Arbeitsplätze fürchten? Mendel weist darauf hin, dass der Druck von beiden Seiten kommt. Kürzlich machte beispielsweise die Google-Tabelle einer BDS-nahen Initiative die Runde, wo verzeichnet ist, wie sich Institutionen, Stiftungen, Galerien und Magazine zum Nahostkonflikt positionieren (meist sind diese Zuordnungen fragwürdig, schon ein Instagram-Post reicht aus, um als prozionistisch zu gelten. Manchmal ist der Antisemitismus unverhohlen: einer Galerie mit jüdischen Eigentümern werden "familiäre Verbindungen zum Zionismus" attestiert).
Fragerunde mit Ex-Oberbürgermeistern
Das Publikum scheint vor allem zu beschäftigen, wie die Zukunft der Weltkunstschau aussieht. Der ehemalige Oberbürgermeister von Kassel, Bertram Hilgen, beispielsweise meldet sich aus dem Publikum, mit der Sorge, dass der hessischen Stadt die Documenta verloren geht. Erst hier geht es auch um Documenta-Kunstwerke, nämlich das Taring-Padi-Banner "People’s Justice". Schließlich meldet sich noch Hans Eichel, ebenfalls Oberbürgermeister a.D. und Bundesfinanzminister a.D., um das Kuratorenteam zu verteidigen – "eine unerwartete Wendung", so Bude. "Vorhang zu", sagt er abschließend. Ende des ersten Tages.
Wem die Documenta gehört, das ist eine rhetorische Frage, die unbeantwortet bleiben muss, die aber diese Konferenz insgeheim strukturiert. Das Problem, wer mitreden darf, ist dabei keineswegs trivial. Maria Neumann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Documenta-Institut, stellt eine große Verlustangst in Kassel fest – das haben (nicht-repräsentative) Umfragen ergeben – , denn die Stadtgesellschaft habe sich gleichzeitig als Gast und als Gastgeber gefühlt.
Während die Kunstschau in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr an Autonomie von den locals gewonnen hat, ist die Documenta Fifteen einen umgekehrten Weg gegangen: keine Satellitenausstellung in Athen, stattdessen eine enge Zusammenarbeit mit den Gruppen der Stadt.
Was tun, fragt Bude, wenn der Gast noch einen weiteren, ungebetenen Besucher mitbringt – ein Banner mit antisemitischen Inhalten?
Die Documenta hat Latentes zum Vorschein gebracht
Die Verhüllung und Entfernung sei ein Akt der Überforderung gewesen, so Neumann. Die Antisemitismusforscherin Yael Kupferberg schätzt es als illusorisch ein, Antisemitismus zensieren zu können. Dabei unterscheidet sie zwischen einem normativen und epistemischen Blick – als Jüdin braucht sie Normativität, das heißt, ein Verbot von herabwürdigenden Bildern. Als Intellektuelle braucht die den von Erkenntnisinteresse geleiteten Blick auf den Gegenstand.
Dann, zum Abschluss, sagt der Soziologe Bude noch, dass die Documenta Latentes zum Vorschein gebracht hat, als hätte sich der Kulturbetrieb auf die psychoanalytische Couch gelegt. "Ja", sagt Kupferberg, wahrscheinlich habe das alles so provoziert, weil die Kunstschau den eigenen Antisemitismus gespiegelt hat. Die Gastgeber, so sagt sie noch, sind möglicherweise nicht ganz schuldlos an den ungebetenen Gästen.