Eigentlich ist es eine Binsenweisheit aus der Documenta-Geschichte, dass jede Ausgabe der Weltkunstschau ein Neuanfang ist. Neue Leitung, neue Künstler, einmal durchlüften und schnell ist die vorherige Ausstellung ins Archiv verstaut. Nichts ist so alt wie die Documenta von gestern.
Dass es dieses Mal anders sein würde, hat sich bereits im vergangenen Sommer abgezeichnet. Die Debatte um Antisemitismus, Rassismus und Kunstfreiheit (um es sehr verkürzt zu sagen) wurde nicht in Ansätzen entwirrt, Sprachlosigkeit verwandelte sich in Aggression, Reformen wurden gefordert, die Prozesse simmerten aber auf eher kleiner Flamme vor sich hin.
Insofern ist es nicht überraschend, dass die Erosion der Findungskommission für die Documenta 16 als Fortsetzung eines Endlos-Skandals erscheint, obwohl dieser nur mittelbar mit der vorherigen Ausgabe zu tun hat - Ruangrupa waren an der Auswahl der Mitglieder nicht beteiligt, genausowenig andere Verantwortliche der "Fifteen". Am Samstag war die israelische Künstlerin Bracha L. Ettinger aus dem Gremium ausgetreten, weil sie sich nach dem Massaker der Hamas mit 1200 Toten nicht in der Lage gesehen habe, ihr Amt weiter auszufüllen. Gestern wurde dann der Rücktritt des indischen Autors und Kurators Ranjit Hoskoté bekannt. Die "Süddeutsche Zeitung" hatte recherchiert, dass er 2019 eine Petition im Umfeld der Israel-Boykott-Kampagne BDS unterschrieben hatte. Documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann und Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) verurteilten den Brief als explizit antisemitisch, Hoffmann bezeichnete den Rückzug Hoskotés als "richtig".
Jeder Konflikt endete mit Absagen und Rücktritten
Diese Aussagen zeigen, wie sich der Ton der Verantwortlichen verschärft hat. Die Documenta hat massiv Vertrauen verspielt. Sich erneut eine Nähe zum Antisemitismus vorwerfen lassen zu müssen, ist das Schlimmste, was der angezählten Kasseler Institution passieren kann, und gerade nach dem Hamas-Angriff und im erneuten Krieg in Nahost ist das Bedürfnis nach klaren Bekenntnissen groß.
Andererseits muss man aber auch festhalten, dass nun seit eineinhalb Jahren so gut wie jeder Konflikt rund um die Documenta mit Absagen (Talkrunden), Abhängen (Taring-Padi-Banner) oder Entlassungen/Rücktritten (Geschäftsführerin und Findungskommission) geendet hat. Die Forderungen nach Mittelentzug oder der völligen Einstampfung der Ausstellung noch nicht mitgerechnet. Im Einzelfall waren diese Entscheidungen nachvollziehbar und teilweise geboten, im Gesamtbild ergeben sie aber ein eher deprimierendes Bild der Debattenkultur. Die Kunst, die sich so gern ihrer Ambivalenz und Vieldeutigkeit rühmt, scheitert an denselben verhärteten Fronten wie der Rest der Gesellschaft.
Im Brief zu ihrem Rückzug schreibt die israelische Künstlerin und Psychoanalytikerin Bracha L. Ettinger unter dem Eindruck des Terroranschlags der Hamas und der getöteten Zivilisten in Gaza: "Die Kunstwelt, wie wir sie uns vorgestellt haben, ist zusammengebrochen und zersplittert." Das ist aus ihrer Sicht völlig nachvollziehbar. Allerdings hat die Kunst bislang noch bei allen Krisen dieser Welt in irgendeiner Weise weitergemacht, und oft wird genau das als eine ihrer eigentlichen Qualitäten gesehen.
Ettinger hat aber insofern Recht, als dass das Ausmaß von persönlicher Verzweiflung und Betroffenheit in jeglicher Richtung in der Kulturszene gerade riesig ist, genauso wie der öffentliche Druck, sich positioneren zu müssen. Dazu kommt die Instrumentalisierung von Opfern des Krieges für antisemtische oder auch rassistische Agenden. Es herrscht eine überfordernde Gleichzeitigkeit, wie es die Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank, Deborah Schnabel, gerade treffend im "Deutschlandfunk" ausdrückte.
Eine Stelle der Begegnung
Dieses Erschrecken und die unterschiedliche Betroffenheit könnten eine Stelle sein, an der man sich begegnet. Ettingers Wunsch nach einem Innehalten, einem Stocken der Maschinerie ist verständlich - und umso enttäuschender ist es, dass es dieses Luftholen in der Kunstwelt praktisch nicht gab und sofort in den Kampfmodus geschaltet wurde. Wie Deborah Schnabel sagt, ist die Welt für viele jüdische Menschen nach dem Massaker vom 7. Oktober und den weltweiten antisemitischen Vorfällen in dessen Folge eine andere geworden. Das Bedürfnis nach Solidarität und Bekenntnissen gegen Antisemitismus ist in diesem Zusammenhang kein Generalverdacht, sondern eine Vergewisserung von Grundlagen des Zusammenlebens, die essenziell sind - und die auch eine Würdigung des palästinensischen Leids einschließen.
Dieses gegenseitige Zuhören scheint für viele derzeit unmöglich zu sein. Wenn die Kunst ihrem eigenen Anspruch von Durchlässigkeit gerecht werden will, gibt es aber keine andere Möglichkeit. "Ich befürchte sehr, dass die Umstände die Großzügigkeit des Geistes und die Bereitschaft zum Dialog beeinträchtigen werden, die seit langem zu den herausragenden Merkmalen des deutschen Beitrags zur globalen Kulturpolitik gehören", schreibt Ranjit Hoskoté in seinem Rücktrittsschreiben - in dem er sich übrigens gegen einen kulturellen Boykott Israels ausspricht, seine Solidarität mit dem jüdischen Volk betont und die Anschläge der Hamas verurteilt.
Bei aller berechtigten Empörung über die Unterschrift der BDS-Petition kann es zukünftig nicht die Lösung sein, allen Akteurinnen und Akteuren im Kunstbetrieb mit Misstrauensvorschuss zu begegnen und deren Biografien zu durchleuchten - vor allem, wenn der Antisemitismusverdacht reflexartig Kulturschaffende aus dem "Globalen Süden" trifft. Doch die Dialogbereitschaft muss auf allen Seiten bestehen. Denn auch bei Künstlerinnen und Künstlern besteht die Gefahr, dass der Wunsch nach politischer Wirkmacht in Dogmatik umschlägt, und nicht jede Kritik ist Zensur oder "Silencing".
Innehalten durch bürokratische Struktur
Was heißt das nun alles für die Documenta? Der Plan, noch dieses Jahr eine neue künstlerische Leitung für die nächste Ausstellung 2027 zu präsentieren, dürfte mit dem Verlust von einem Drittel der Findungskommission unrealistisch geworden sein. Aber vielleicht ist das angesichts der derzeitigen Ausnahmesituation ohnehin Makulatur. Gerade liegt der Wunsch nahe, dass das bürokratische Flaggschiff der deutschen Kultur mal alle Gremien und Kommissionen beiseite lässt und eine überraschende Lösung präsentiert - so wie Fußballvereine plötzlich wieder einen geliebten Trainer der Vergangenheit auf die Bank holen.
Doch vielleicht garantiert die Struktur der Documenta gerade das Innehalten, das Ettinger fordert. Es gibt eben kein Individuum, das einfach bestimmt, sondern die Entscheidung wird auf möglichst viele Schultern verteilt. Man wird sich aus dieser Situation herausverhandeln müssen - und ficht dabei Konflikte aus, die nicht nur die Kunst betreffen. Das respektvoll und mit Toleranz für Widersprüche zu tun, wäre vielleicht das Beste, was aus dieser verfahrenen Situation entstehen kann.