In einem Brief an die Documenta-Geschäftsführung, der Monopol vorliegt, schreibt der Kurator und Autor Ranjit Hoskoté, dass er sich nicht in der Lage sehe, seine Pflichten gegenüber der Documenta zu erfüllen, "einer Institution, die ich sehr schätze und die ich seit mehr als 20 Jahren gut kenne." Darum trete er von seiner Funktion als Mitglied der Findungskommission zurück. Diese soll eigentlich bis Ende des Jahres eine neue künstlerische Leitung für die Documenta 16 bestimmen. Weiter heißt es in dem Brief: "Der ungeheuerliche Vorwurf des Antisemitismus wurde gegen meinen Namen in Deutschland erhoben, einem Land, das ich mit Liebe und Bewunderung betrachtet habe und zu dessen kulturellen Einrichtungen und intellektuellem Leben ich seit mehreren Jahrzehnten beigetragen habe."
Ende vergangener Woche war durch einen Artikel der "Süddeutschen Zeitung" bekannt geworden, dass Hoskoté 2019 eine anti-israelischen Petition unterzeichnet hatte. Dabei geht es um einen offenen Brief im Umfeld der BDS-Kampagne, der sich gegen eine Veranstaltung über die Verbindung von Zionismus und Hindu-Nationalismus wendet und in dem Zionismus unter anderem als "rassistische Ideologie" und Israel als "siedlerkolonialistischer Apartheidstaat" bezeichnet wurde. Sowohl Documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann als auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth hatten den Inhalt des Schreibens als explizit antisemitisch verurteilt. Hoskoté schreibt dagegen, er habe er den Brief unterzeichnet, weil mit der kritisierten Veranstaltung eine Allianz des Zionismus mit der Hindutva-Ideologie etabliert worden sei, die den Nationalsozialismus als Vorbild für ein Hindu-dominiertes Indien ansah.
Der Kurator schreibt nun, dass es in dieser "toxischen Atmosphäre" keinen Raum für eine nuancierte Diskussion gebe. Außerdem sei er in einem "zum Scheitern verurteilter Versuch, eine Situation zu retten, die nicht mehr zu retten ist" aufgefordert worden, "eine pauschale und unhaltbare Definition von Antisemitismus zu akzeptieren, die das jüdische Volk mit dem israelischen Staat gleichsetzt und dementsprechend jede Empathiebekundung für das palästinensische Volk als Unterstützung für die Hamas ausgibt."
"Historische Offenheit wird negiert"
Er betonte, weder die BDS-Kampagne noch einen kulturellen Boykott Israels zu unterstützen. Er sehe jedoch eine Verengung des Diskurses, die kritische Auseinandersetzung verunmögliche und einen moralischen Kompass vermissen lasse. "Es schmerzt mich zu sagen, dass solche Umstände die historische Offenheit der Documenta für eine Vielfalt von Positionen und ihre Fähigkeit, das Leben der Phantasie in einem konstruktiven Umfeld zu erhalten, negieren. Ich befürchte sehr, dass diese Umstände die Großzügigkeit des Geistes und die Bereitschaft zum Dialog beeinträchtigen werden, die seit langem zu den herausragenden Merkmalen des deutschen Beitrags zur globalen Kulturpolitik gehören."
Am Wochenende hatte bereits die israelische Künstlerin und Psychoanalytikerin Bracha L. Ettinger die D16-Findungskommission verlassen, sie hatte gegenüber dem "Spiegel" jedoch betont, dass ihr Rücktritt nicht mit Hoskotés Unterschrift zusammenhänge. Vielmehr habe sie die Documenta und die übrigen Gremiumsmitglieder nach den Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober um eine Verlangsamung des Prozesses gebeten. Dem sei jedoch nicht nachgekommen worden und so habe sie sich entschieden, ihr Amt niederzulegen.
Inzwischen hat sich auch die Documenta in zwei separaten Statements zum Rücktritt der beiden Findungskommissionsmitglieder geäußert. So lässt sich Geschäftsführer Andreas Hoffmann zu Ranjit Hoskoté folgendermaßen zitieren: "Ich danke Ranjit Hoskoté für seine bisherige Bereitschaft, uns in diesen schwierigen Zeiten zur Seite zu stehen und halte seine folgerichtige und in der Konsequenz respektable Rücktrittsentscheidung für richtig. Die aktuellen Entwicklungen rund um die Findungskommission der Documenta 16 zeigen einmal mehr, wie lang der Weg zu einer konsequenten Aufarbeitung der Documenta 15 noch ist. Es bedarf einer konsequenten Distanzierung von jeglicher Form von Antisemitismus. Die Ereignisse des Sommer 2022 dürfen sich nicht wiederholen. Nur so kann nach den Geschehnissen der Documenta Fifteen ein echter Neuanfang gelingen.“
"Vollstes Verständnis und Mitgefühl"
Zu Bracha Ettinger sagte Hoffmann: "Die Documenta und Museum Fridericianum gGmbH hat nach Erhalt des Briefes von Bracha Lichtenberg Ettinger versucht in Kontakt zu treten, um die Möglichkeit für eine Rückkehr der Künstlerin in die Findungskommission zu erkunden. Wenige Stunden später wurde ihre Entscheidung jedoch öffentlich. Ihr entschiedenes Vorgehen und die Argumentation haben unser vollstes Verständnis und wir wollen unser Mitgefühl ausdrücken."
Die Findungskommission, die von den noch lebenden früheren Documenta-Leitern bestimmt wurde, besteht außer Ettinger und Hoskoté aus der chinesischen Kuratorin Gong Yan, dem Schweizer Autor und Kunstkritiker Simon Njami, der Wiener Kuratorin Kathrin Rhomberg und der brasilianischen Ausstellungsmacherin María Inés Rodríguez. Was der Verlust von einem Drittel der Mitglieder für das weitere Vorgehen und den Zeitplan für die Ernennung einer künstlerischen Leitung für die D16 bedeutet, wird laut des heutigen Statements "derzeit intensiv zwischen den Gesellschaftern, dem Aufsichtsrat, der gemeinnützigen GmbH und den Beteiligten der Findungskommission erörtert".