Die Schuldenuhr am Fridericianum zeigte am letzten Tag der Documenta Fifteen schwindelerregende 101,7 Billiarden Australian Dollar an. So viel müsste die australische Regierung nach Berechnungen des Künstlers Richard Bell an die indigene Bevölkerung des Kontinents bezahlen, um diese für den Raub ihres Landes durch die britische Krone zu entschädigen. Während der 100 Tage Documenta gab es in Kassel verschiedene Running Gags darüber, was die rasant ansteigende rote Zahl am Museumsdach wohl bedeuten könnte: eine Echtzeitanzeige der Kuratorenfehler, eine Guerilla-Kunstaktion des Bundes der Steuerzahler oder die auf der gegenüberliegenden Food-Meile verspeisten Kalorien?
In der letzten Woche der diesjährigen Weltkunstschau blieb der Blick jedoch noch an einem anderen Objekt an der Fassade des Fridericianums hängen, das vorher noch nicht da war. Rechts neben dem Eingang hing plötzlich ein schwarzes Banner mit der spanischen Aufschrift "Solidaridad Con Le Pueblo Palestino" (Solidarität mit dem palästinensischen Volk). An verschiedenen anderen Ausstellungsorten klebten Protest-Plakate von namentlich nicht genannten Lumbung-Künstlern, die unter anderem den Slogan "Free Palestine From German Guilt" (Befreit Palästina von deutscher Schuld) in den Stadtraum warfen.
Während die Antisemitismus-Debatte Mitte September noch einmal eskalierte und sich der wissenschaftliche Beirat für einen Vorführungsstopp historischer propalästinensischer Propagandafilme aussprach, positionierten sich auch Teile der Künstler-Community so unmissverständlich wie nie zuvor. Plötzlich hatte man es mit einer selbsterfüllenden Prophezeihung zu tun, denn die Documenta schien in ihrer Schlussphase tatsächlich vom Kampf um die Deutungshoheit über den Nahost-Konflikt beherrscht zu sein. Dieser Vorwurf wurde der vom indonesischen Kuratorenkollektiv Ruangrupa verantworteten Schau schon vor ihrer Eröffnung und immer wieder während ihrer Laufzeit gemacht. Doch erst kurz vor ihrer Schließung traf er dann wirklich zu.
Gegenseitige Angriffe und tiefes Schweigen
Die Documenta Fifteen, die mal eine gutgelaunte globale Kunstparty werden sollte, endet also mit verhärteten Fronten und trotz aller Slogans und offenen Briefe in einer tiefen Sprachlosigkeit. Keiner der Konflikte, die nach dem Abhängen des Taring-Padi-Banners mit antisemitischen Motiven vollends ausbrachen, scheint auch nur annähernd produktiv bearbeitet, zumindest was die öffentliche Diskussion betrifft. Da schien es fast wie eine passende Metapher, dass das kubanische Kollektiv Instar seine Räume am letzten Wochenende mit Presslufthämmern in Trümmer legte.
Immerhin ist die Kontur der Kontroverse im Laufe der Ausstellung noch klarer hervorgetreten. Auf der einen Seite steht der Vorwurf, im Namen des Postkolonialismus werde Antisemitismus im Gewand der Israelkritik normalisiert und im kulturellen Mainstream verankert. Auf der anderen Seite sehen sich Künstlerinnen und Künstler aus dem "globalen Süden" zensiert und aus rassistischen Motiven unter Generalverdacht gestellt. Den deutschen Anspruch, die Documenta-Skandale mithilfe eines von der Politik installierten wissenschaftlichen Gremiums aufzuarbeiten, bewerten viele als neokoloniale Strategie, mit der abweichende Historien und nicht-westliche Weltanschauungen delegitimiert werden sollen.
Dass diese Debatte, die maßgeblich mit dem Holocaust, deutscher Erinnerungskultur und Kolonialgeschichte zu tun hat, viel größer ist als jede Kunstausstellung, dürfte mittlerweile unstrittig sein. Klar ist aber auch, dass mit dieser Documenta eine Chance vertan wurde, die Diskussion ohne ständige gegenseitige Ideologievorwürfe und mit dem Willen zur Differenzierung zu führen. Das wäre dringend nötig, denn nicht nur in der Kunst werden sich die Fragen des Documenta-Sommers weiter stellen: Fragen nach dem Umgang mit der gegen Israel gerichtete Boykottbewegung BDS und mit Perspektiven auf den Nahost-Konflikt, die nicht der deutschen Staatsräson entsprechen. Tragischerweise wurden die Gräben in Kassel eher vertieft als geschlossen, woran sowohl die Documenta als auch ihre Kritikerinnen und Kritiker ihren Anteil hatten.
Ausstellung voller Widersprüche
So ist es nach wie vor unverständlich, warum es Ruangrupa nicht geschafft haben, sich wirklich solidarisch mit jüdischen Menschen zu zeigen, die sich von Werken in Kassel bedroht gefühlt haben. Zwar wurden nach dem Abbau des Taring-Padi-Banners, das zweifellos niemals hätte gezeigt werden dürfen, zahlreiche Entschuldigungen und Versicherungen veröffentlicht, gegen Antisemitismus und jegliche andere Form von Diskriminierung einzutreten. Eine Anerkennung des spezifischen Traumas von Jüdinnen und Juden gab es jedoch nicht. In der Ausstellung wurde immer wieder die Aufforderung an das Publikum gerichtet, sich mit unterschiedlichsten lokalen Kontexten und historischen Wunden auseinanderzusetzen, die noch heute schmerzen. Insofern hätte es eigentlich ins inklusive Konzept gehört, auch die Shoah und ihre Folgen für die Gegenwart zu reflektieren und sich ausdrücklich an die Opfer von noch immer grassierendem Antisemitismus zu wenden. Stattdessen schienen die Macher der Weltkunstschau den Dialog so gut es ging zu vermeiden und auch legitime Kritik mit Gegenangriffen abzuwehren.
Andererseits wurde die Documenta tatsächlich immer wieder Ziel von ungerechten Pauschalvorwürfen und wurde zwischen innerdeutschen politischen Fronten zerrieben. Viele Kritikerinnen und Kritikern schienen sich nicht mehr die geringste Mühe zur Differenzierung zu geben, Gerüchte verdichteten sich zu vermeintlichen Gewissheiten, und auch aus der Politik wurden erschreckend uninformierte und ignorante Einlassungen zum vielbeschworenen nationalen Kulturkleinod laut. Besonders aus der Union und der FDP, die sich sonst gern über "Cancel Culture" und angeblich schwindende Freiheiten in Deutschland echauffieren, kamen keine konstruktiveren Forderungen als die vorzeitige Schließung der Ausstellung und die Rückforderung der Bundesmittel (Dorothee Bär/CSU). Am Ende standen mehrere tausend Kulturschaffende aus mehrheitlich nicht-westlichen Ländern pauschal unter Antisemitismusverdacht, egal, mit welchen Themen sie sich in ihrer Arbeit beschäftigen. Eine absurde und brutale Situation, die man sich kaum anders als mit rassistischen Projektionen erklären kann.
Wenn man in diesem in jeder Hinsicht extremen Sommer viel Zeit in Kassel verbracht hat (die Autorin kommt auf rund 60 von 100 Tagen), konnte man den Eindruck bekommen, es gäbe zwei Versionen der Weltkunstschau: Das oft apokalyptische Bild in den Medien und die physisch erfahrbare Situation vor Ort. Die Documenta Fifteen war keine "Horrorshow" oder "Antisemita" (beides "Der Spiegel"), sondern eine Ausstellung voller Widersprüche, die trotz aller Kontroversen in ihrer Machart und in ihrem Umgang mit dem Kunstbegriff wegweisend sein wird.
Kunst über das Kunstmachen an sich
Wer sich auf die zuweilen chaotische und überfordernde Ausstellung einließ, wurde nicht unbedingt mit einzelnen unvergesslichen Werken, sondern eher mit Erlebnissen belohnt. Den eingeladenen Kollektiven ist es gelungen, die Ausstellungsräume weniger wie Museen auf Zeit, sondern wie belebte Mini-Ökosysteme zu gestalten, in denen ständig etwas anderes passierte und letztlich das Kunstmachen an sich verhandelt wurde. Die Themen der Arbeiten reichten von der Unterdrückung der laotischen Opposition über die Zensur von Künstlern in Kuba bis hin zu nachhaltiger Landwirtschaft in Bangladesch und dem Erbe von Kolonialismus und Sklaverei in Haiti. Dass all dies im öffentlichen Diskurs kaum Beachtung fand, ist die große Tragik dieser Documenta. Den allermeisten der Künstlerinnen und Künstler wurde nicht zugehört.
Doch auch abgesehen von den politischen Anliegen der Beteiligten ließ sich in Kassel etwas Grundsätzliches erfahren: Dass Kunst im Kollektiv in vielen Fällen eine Notwendigkeit ist. Vergleiche mit Gruppen aus der westlichen Kunstgeschichte oder die oft zu hörende Beschwerde, dass "das alles nicht neu" sei, laufen schon deshalb ins Leere, weil es nie um den Anspruch irgendeiner Avantgarde oder um Kollaboration als reines Formexperiment ging. Nahezu alle Kollektive, die in Kassel eingeladen waren, arbeiten auch in ihren Heimatländern aus einer marginalisierten Position heraus und sind darauf angewiesen, viele zu sein. Deshalb lassen sich Kunst, Leben, Politik und Wirtschaften in ihrem Wirken von vornherein nicht trennen. Viele Künstlerinnen und Künstler berichteten davon, dass die wichtigste Ressource, die sie von der Documenta mitnehmen, die Vernetzung mit anderen und das Teilen von Überlebensstrategien ist.
Diese Setzung auf der prestigeträchtigsten deutschen Kunstschau war eine Provokation und blieb auch nach wiederholten Besuchen eine Herausforderung. Die Referenzsysteme des westlichen Kultursystems funktionieren nicht, und ständig stehen völlig unterschiedliche Kunstbegriffe gleichberechtigt nebeneinander. Manche Werke bedienten sich den Mitteln der Propaganda, mache kamen im wahrsten Sinne direkt von der Straße, und wieder andere waren Zeugnisse von Ereignissen, die bereits vergangen waren. Vielleicht war auch dies ein Grund für die politischen Verwerfungen um die Documenta. Denn wenn Kunst einerseits als aktivistisches Werkzeug benutzt wird und den Anspruch erhebt, Wahrheit aus gelebter Erfahrung zu formulieren, fällt es andererseits schwer, den Exponaten Ambivalenz und den Machern kritische Distanz zu ihrem Gegenstand zuzugestehen.
Wer trägt die Kosten für den westlichen Lebensstil?
Bei zwei der Werke, die als antisemitisch kritisiert wurden, handelte es sich um ausgestellte Archive: Einmal um Karikaturen in einer Materialsammlung zu den Frauenkämpfen in Algerien und zuletzt um ein Konvolut historischer Filme ("Tokyo Reels"), die einseitig und zum Teil mit radikaler Rhetorik für die palästinensische Sache Partei ergreifen. Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass sich die Hüter und Hüterinnen von Archiven nicht automatisch mit deren Inhalten gemein machen. Doch da diese dokumentarischen Sammlungen dem Publikum ohne viel weitere Mediation (und zum Teil ohne deutsche Übersetzungen) präsentiert wurden, lag es nahe, die problematischen Stellen ebenfalls den Künstlern beziehungsweise Ruangrupa anzulasten.
Kuratorisch muss sich die Documenta tatsächlich einen Mangel an Sorgfalt und Vermittlungswillen vorwerfen lassen, gerade weil in Kassel so viele politische Zusammenhänge aus der ganzen Welt aufeinanderprallten. Der Ausstellung aber anzulasten - wie zuletzt vom wissenschaftlichen Beirat geschehen -, sie sei parteiisch und beim Thema Nahost-Konflikt nicht ausgewogen, ist absurd. Keine Documenta war jemals ausgewogen (die Zahl der indonesischen Künstler vor 2022 liegt bei genau null), und Ruangrupa wollte seine Ausgabe von Anfang an aus Sicht von Kolonisierten und Machtlosen erzählen. Diese Position ist anfechtbar und wird historischer Komplexität nicht gerecht. Aber Kunst das Recht auf Einseitigkeit absprechen zu wollen, verkennt letztlich ihr Wesen. Wer das ernstlich will, müsste auch zu Richard Bells Schuldenuhr die Perspektive der australischen Regierung einholen.
Die Documenta Fifteen hätte für Deutschland auch eine Möglichkeit sein können, zu reflektieren, wer eigentlich die Kosten des westlichen Lebensstils trägt und wie koloniale Strukturen bis heute nachwirken. In der Ausstellung wurde eindrucksvoll deutlich, dass die aktuelle Wirtschaftsordnung noch immer afrikanische Märkte zerstört (siehe die Altkleider-Arbeit des Nest Collective aus Nairobi) und die Klimakrise vor allem die ärmeren Länder trifft, die am wenigsten dazu beigetragen haben (unter anderem bei Jatiwangi Art Factory). Doch diese Diskussion wurde kaum geführt, denn Teile der Öffentlichkeit schienen einen hunderttägigen Abwehrzauber zu praktizieren, der Selbstkritik zuverlässig verhinderte. Dabei war der Ton der Documenta noch nicht einmal besonders vorwurfsvoll. Die meisten der Beteiligten zeigten in Kassel nicht nur ihr Problem, sondern vielmehr ihre künstlerischen Strategien, um mit den schwierigen Bedingungen in ihrem Umfeld umzugehen.
Der Überforderung bewusst
In vierlei Hinsicht war die Documenta Fifteen eine großzügige Ausstellung. Wohl bei keiner Weltkunstschau vorher ließen sich so viele Veranstaltungen kostenlos ohne Ausstellungsticket besuchen, darunter drei große Meydan-Fest-Wochenenden, die die ganze Stadt mit Konzerten und Performances füllten. Zwar gab es diesmal keine monumentalen Außenkunstwerke wie den Parthenon der Bücher von 2017, dafür entstanden im öffentlichen Raum zahlreiche kleine Kunst-Enklaven zum Zeitverbingen. Das Ruruhaus in der Innenstadt wurde zu einem kurios heimeligen Hybriden zwischen Wohnzimmer, Ausstellungsraum und Bahnhofshalle, und das Fuldaufer mit dem Bootshaus Ahoi war wohl noch nie so belebt wie in den vergangenen drei Monaten. Außerdem schien sich die Documenta ihrem eigenen Potenzial zur Überforderung bewusst (eine Seltenheit bei zeitgenössischen Großevents). Überall gab es Sitzgelegenheiten und Rückzugsräume. Schlafende Besucherinnen und Besucher in der Ausstellung waren eher die Regel als die Ausnahme.
Zudem war die Documenta diesmal keineswegs das Raumschiff aus fernen Kunstwelt-Galaxien, das für einen kurzen Abstecher in Kassel landete. So gut wie alle eingeladenen Kollektive hatten Kooperationen mit Initiativen aus der Region. Diese lokalen Verflechtungen machten das Ganze mit allen Partner- und Partner-von-Partnerprojekten zwar noch unübersichtlicher, schätzten aber auch die Kulturszene vor Ort in außergewöhnlicher Weise wert und lösten Hierarchien bei den Beteiligten auf.
Im Zusammenhang mit dem Antisemitismus-Skandal wurde oft gesagt, dass dieser Kasseler Sommer eine Zeitenwende bedeute. Das ist sicher richtig, denn in den kommenden Monaten wird es eine Debatte über politischen Einfluss bei der Documenta geben, die am Kern der Kunstfreiheit kratzen dürfte. Die Zäsur betrifft aber auch die Zukunft des Ausstellungsmachens. Als erstes internationales Großevent stellte die Documenta Fifteen die Lebensrealitäten von Künstlerinnen und Künstlern in den Mittelpunkt, sprach offen übers Geldverdienen und schuf hinter den Kulissen eine Experimentier-Plattform für solidarisches Wirtschaften. All diese Geister wird man nicht mehr zurück in die Flasche bekommen, wenn man ernsthaft an Veränderungen in der kapitalgetriebenen westlichen Kunstwelt interessiert ist. Schon jetzt fragen viele internationale Institutionen nach Weiterbildungen zu Ruangrupas Lumbung-Konzept, mittelfristig dürfte es viele Nachahmer geben.
Diese Documenta ist nicht vorbei
Was sich davon wirklich durchsetzen wird, muss sich allerdings noch zeigen. Der klassische Kunstbetrieb ist ziemlich gut darin, sich alternative Ideen einfach einzuverleiben. Und dass Teile des Documenta-Teams auch dieses Jahr von prekären Arbeitsbedingungen berichteten, zeigt die Grenzen bei der Umsetzung der Lumbung-Werte. Doch die Documenta verdient es trotz aller Konflikte, dass wir uns differenziert an sie erinnern. Und sie verdient es, für ihren strukturellen Ansatz gewürdigt zu werden: eine Großausstellung zu schaffen, die auf die Bedürfnisse ihrer Teilnehmer zugeschnitten ist.
Am gestrigen Sonntagabend endete die Weltkunstschau vor einer beachtlichen Menschenmenge auf dem Friedrichsplatz mit dem traditionellen Abschließen des Fridericianums. Die Ruangrupa-Mitglieder Reza Afisina und Ade Darmawan wurden bei ihrer Rede mit lautem Jubel bedacht, im Publikum waren mehrere "Danke"-Schilder für das Kuratorenkollektiv zu sehen. In der aufziehenden Herbstkälte verbreitete sich in diesem Moment eine Versöhnlichkeit, die in den vergangenen Wochen nie erreicht wurde und die über das Kasseler Ökosystem kaum hinausgehen dürfte.
Als die Scheinwerfer vor dem Fridericianum längst erloschen waren, lief Richard Bells Schuldenuhr am Dach immer noch geschäftig weiter. Die Themen dieser 100 Tage von Kassel werden uns in vielerlei Hinsicht noch beschäftigen. Diese Documenta ist nicht vorbei.