Disneyland unterscheidet sich von einem umzäunten Rummelplatz dadurch, dass die verschiedenen Bereiche des Parks wie einzelne begehbare Fantasiewelten gestaltet sind. In einer so vorher noch nie da gewesenen Detailbesessenheit entwarf Walt Disney mit seinem Team immersive Welten, die den Besucher komplett umfangen. Von der Architektur, der Gartengestaltung, der Kleidung der Mitarbeiter bis hin zu den Mülleimern erzählt jeder Gegenstand, jeder Busch, jede Parkbank eine Geschichte.
Wandert man durchs "Fantasyland" durchziehen märchenhafte Motive die gesamte Umgebung, die "Main Street USA", durch die man den Park betritt, umfängt den Gast mit einer idealisierten nostalgischen Vision einer gemütlichen Kleinstadtstraße der Jahrhundertwende, in der Luftballons, Süßwaren und Souvenirs angeboten werden. Alles in Disneyland erscheint konfliktfrei, harmonisch und zugleich anregend. Sorgen, Alltagsnöte, Druck und Stress sollen durch diese emotional bereinigte Szenerie ausgeklammert werden, was erstaunlicherweise tatsächlich funktioniert, soweit man bereit ist sich auf diese Welt aus Kulisse, Schauspiel und Kontrolle einzulassen.
In der Septemberausgabe des "New Yorkers" aus dem Jahr 1963 beschreibt der Autor Kevin Wallace unter dem Titel "The Engineering of Ease" seine ehrliche Überraschung, als er bei seinem ersten Besuch von Disneyland nach und nach trotz seiner eigentlich eher kritischen Haltung in einen Zustand innerer Gelöstheit und freudiger Erregung gerät. Was ist da los? Wie geht das? Im Gespräch mit Planern und Mitarbeitern zeigt sich, dass ein Prinzip dahintersteckt, das vielen Menschen zutiefst ambivalent erscheint: das Prinzip der totalen Kontrolle. Alles in Disneyland ist streng kontrolliert. Die Frisuren der Mitarbeiter, die Blickachsen der Gäste - es gibt es kaum etwas, was nicht im Vorfeld minutiös auf das Erreichen einer umfassenden Illusion angelegt ist.
Perfektionierte Illusion
Das kann man furchtbar und restriktiv finden, aber es ist ein Mittel, das schon seit vielen Jahrhunderten eben das bevorzugte Mittel zur Illusionserzeugung ist. Ein Theater funktioniert so, eine Zaubershow ebenso, ein Landschaftsgarten auch. Filme sind so gesehen gigantische Lügenmaschinen, Schauspieler, Kulissen, Kameraausschnitte, Schnitt, Inszenierung, alles ist größtmögliche Kontrolle! Um eine Illusion zu erschaffen, muss der Illusionist mit allen Mitteln und Tricks arbeiten, um sie real wirken zu lassen. Sonst ist der Zauber dahin.
Disney perfektionierte diese Illusionstechnik seit langer Zeit bereits in den Zeichentrickfilmen seines Studios. Einzelne Zeichnungen, schnell genug hintereinander projiziert erzeugen die Illusion von Bewegung, erdachte Figuren bekommen durch die Identifikation der Zuschauer ein Eigenleben, fiktionale Welten erscheinen real, durchdringen unsere Skepsis, soweit wir es zulassen wollen.
Der Prozess, den wir dabei durchlaufen, wurde bereits im Jahr 1817 von dem Autor Samuel Taylor Coleridge als "Willing Suspension of Disbelieve" bezeichnet. Auf Deutsch etwas holperiger als "Willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit" übersetzt bedeutet dieser Vorgang, dass wir uns auf eine fiktive Welt einlassen, obwohl wir eigentlich wissen, dass sie nicht real ist. So hat man plötzlich Mitgefühl mit einer Romanfigur, kaut Fingernägel bei einem Actionfilm oder verliebt sich in die inszenierte Figur eines Popstars. Disneyland ist ein Meisterwerk im Erzeugen solcher Angebote.
Dirigent eines Riesen-Orchesters
Im Taschen Verlag ist jetzt ein von Chris Nichols zusammengestellter kiloschwerer Prachtband über die Entwicklung dieser begehbaren fiktiven Welt erscheinen, der zurück an die Anfänge geht, und detailliert zeigt, wie aus Ideen Welten werden konnten. Ein Prozess, der ja auch das Erschaffen von Kunst ausmacht, die grundlegende Entscheidung, was nun auf die Leinwand kommt, wie die Performance ablaufen könnte, ob die Installation "funktionieren" wird. Hier wie da gibt es zuerst immer ein leeres Blatt, mit etwas Glück einen Haufen vager Ideen und natürlich immer wieder furchteinflössende organisatorische, finanzielle und logistische Hürden.
So sehr Disneyland eben als "Disney"-Land betitelt ist, also als Vision eines einzelnen Erzählers, so schnell wird klar, dass ein solches gigantomanisches Unternehmen, so wie auch ein Film oder ein Orchester, das Ergebnis unzähliger Köpfe und Hände ist. Walt Disney war ein Impresario, eine Art Sergei Diaghilev für Fantasiewelten, und wie viele große Talente er für die Erschaffung seiner Welt ins Boot holen konnte, zeigt Nichols' Buch.
Von Zeichnern, Animateuren, Architekten, Ingenieuren, Robotik-Experten, Kostümbildnern, Komponisten, Landschaftsgärtnern, Künstlern und Schriftstellern bis hin zu Menschen, deren Beruf man eigentlich bis heute nicht so recht eingrenzen kann, und die einfach Inspiriertheit oder eine genialistische Bastelbegabung mit der Fähigkeit zu großer Experimentierfreude vereinten, versammelte Disney unzählige Einzeltalente für die Erschaffung dieses gigantomanischen Projekts.
Einige, wie Mary Blair, die Sherman-Brüder, Marc Davis, Ward Kimball, Rolly Crumb oder Claude Coats sind Disney-Enthusiasten als herausragende Einzelfiguren bekannt, ungezählte andere arbeiteten fern jeder dezidierten Autorenschaft an der oft enorm komplizierten Realisierung der technologisch und gestalterisch anspruchsvollen Attraktionen.
Fantasie und Pioniergeist
Disneyland spannte damals schon einen weiten Bogen zwischen Fantasie, Handwerk und Technologie. Viele Dinge entstanden, die so kühn wie grotesk waren. So wie gute Kunst, würde ich sagen. Ein Gesamtkunstwerk. Ein künstliches über 30 Meter hohes Matterhorn, in dem eine Achterbahn fährt, ein Raum voller elektromechanisch animierter singender Vögel und Pflanzen, lebensechte Roboterfiguren, die rund um die Uhr in Dioramen agieren, während man in Wägen daran vorbeigleitet, große Mäuse, die einen in den Arm nehmen, alles kein Problem. Let's do it!
Für Disneyland wurden, und auch das zeigt der opulent bebilderte Band in vielen Details, so viele neue Technologien entwickelt, dass man den Pioniergeist förmlich riecht. Die von Disney geschaffenen "Audio-Animatronic"-Roboterfiguren bewegten sich lebensecht, Beduftungssysteme umschmeichtelten den Geruchssinn, komplexe Fahrsysteme beförderten erstmals Gäste quasi schwebend über Peter Pans nächtliches London, das vom Autor Arthur C. Clarke formulierte Gesetz, dass jede hinreichend fortschrittliche Technologie von Magie nicht zu unterscheiden ist, trifft im Fall von Disneyland ganz besonders zu.
Zugleich wurden viele fast vergessene Handwerke in die Produktion eingebunden, vom Schildermaler bis zum Holzschnitzer. Die Liebe zum Detail ist sicherlich ein Alleinstellungsmerkmal der Disney-Parks. Das Klischee, daß in Disneyland alles aus Plastik und Pappmachee besteht ist so banal wie falsch. Disneyland ist sehr wohl geschnitzt, kunstvoll gemalt und solide gemauert, und selbst in all seiner Artifizialität sehr sehr handwerklich.
Gegenentwurf zur Realität
In Disneyland wird alles zelebriert, was ein vermeintlich kritischer Geist strikt ablehnen würde: verklärende Nostalgie, ein geradezu blinder Zukunftsoptimismus, das Ausblenden von Problemen, visueller Exzess, Spektakel, Opulenz, Künstlichkeit, Eskapismus. Allein dafür liebe ich es. Denn die Vehemenz mit der diese Welt als trotziger Gegenentwurf zu zweckorientierter Rationalität und Nutzdenken entworfen wurde, gibt ihm absurder Weise etwas durchaus Subversives.
Wie sangen noch Tocotronic im Jahre 2005 so schön : "Pure Vernunft darf niemals siegen, wir brauchen dringend neue Lügen." und das könnte auch über den Toren von Disneyland stehen. Dort aber steht seit 1955: "Here you leave Today and enter the World of Yesterday, Tomorrow and Fantasy." Und warum sollte man das nicht ab und zu tun?
Der im Taschen Verlag erschienene Band zeigt die Entstehungsgeschichte eines Ortes, den es so zuvor nicht gab und der trotz aller Hyperkommerzialität und Berechnung stets auch ein Ort fantastischer Visionen und inspirierender Erzählkunst war und ist. Zumindest das werden wohl auch die schärfsten Kritiker nach der Lektüre eingestehen müssen. Ich freue mich schon auf meinen nächsten Besuch!