Künstlerin Ingeborg Lüscher

Die verzauberte Welt

Die Künstlerin Ingeborg Lüscher spürt den Energieströmen von Dingen und Menschen nach. Nun wird sie mit dem Hans Platschek Preis ausgezeichnet

Was bewegt eine Frau dazu, Ende der 1960er-Jahre, gerade einmal 30-jährig, ihre Erfolg versprechende Karriere als Schauspielerin abrupt zu beenden? Was bewegt sie dazu, ihren Mann, einen Schweizer Farbpsychologen, zu verlassen und ohne Absicherung, ohne eine Kunstakademie besucht zu haben, in ein abgelegenes Dorf im Tessin zu ziehen, um bildende Künstlerin zu werden? "Ich wollte nicht mehr gehorchen", antwortet Ingeborg Lüscher. "Es ging mir darum, ein Leben zu führen, in dem ich für das, was ich sage, selbst verantwortlich bin."

Es ist ein verhangener Wintertag. Lüscher wartet am anderen Ende der Leitung in ihrem Haus im Tessin, unweit von Locarno, in dem sie seit über 30 Jahren lebt, auf einen Kunsttransport. Galerieausstellungen stehen an. Die inzwischen 88-Jährige, die bereits 1972 und 1992 auf der Documenta und 2001 auf der Venedig-Biennale vertreten war, erlebt gerade ein neues Interesse an ihrer Arbeit. Auch dass sie auf der art karlsruhe den Hans Platschek Preis für Kunst und Sprache 2025 bekommt, ausgewählt von der renommierten Kuratorin Bettina Steinbrügge, ist ein Zeichen dafür.

Wenn man mit Lüscher spricht, ist es spürbar, wie präsent und unsentimental sie ist, ganz im Jetzt. Das mit der Kunst sei eine ganz persönliche Entscheidung gewesen, erzählt sie. Die sei nach ihren Erfahrungen in Prag gefallen, wo sie 1968 nach Dreharbeiten für einen deutschen Fernsehzweiteiler einige Monate wohnte und nach der Niederschlagung des Prager Frühlings miterlebte, wie "Menschen in Gefängnissen landeten, wenn sie etwas sagten, das der Regierung nicht genehm war". Das Streben nach Freiheit und das Finden einer radikal subjektiven Stimme, die nicht Ideologien und Konventionen gehorcht, aber politische und soziale Anliegen hat, prägen bis heute ihr Werk.

Die Zeit der "Outsider"

Nach ersten Farbexperimenten beginnt sie 1969 mit einer Fotoarbeit über den Schweizer Objekt- und Textkünstler Armand Schulthess, von dem sie durch eine Freundin hört. Er lebt als Einsiedler in einem 18 000 Quadratmeter umfassenden Kastanienwald in einem Tessiner Tal, wo er Tausende kleiner Blechtafeln – kleinteilig beschrieben mit gesammeltem Wissen aus den Naturwissenschaften, aus Geschichte, Literatur, Musikgeschichte, Psychoanalyse und Esoterik – in Bäume, an Mauern und Zäune hängt. Es entsteht eine "Bibliothek des Wissens", die mit den Jahreszeiten, Regen und Wind wächst und vergeht. Lüscher sucht Schulthess, der sich vor ihr versteckt, schreibt ihm Briefe. Erst nach Monaten öffnet sich der Mann, der 14 Jahre lang kaum gesprochen hat. Aus der Begegnung der beiden macht sie eine Dokumentation seines Gesamtkunstwerks, das 1973 nach Schulthess' Tod von den Erben fast gänzlich vernichtet wird.

Die 1960er- und frühen 1970er-Jahre sind die Zeit der Autodidakten, der "Outsider". Lüscher beginnt, an fotografierten und bemalten Selbstporträts und Skulpturen mit Zigarettenstummeln zu arbeiten – wie etwa "Verstummelung", ein geöffnetes Buch, aus dem ein bräunliches Kippen-Gebiss ragt, das aussieht, als wolle es die Sprache, die Wirklichkeit verstümmeln und eine neue ausspucken. Zugleich sind die gerauchten Zigaretten inhalierte Lebenszeit, etwas ungeheuer Intimes.

Über den Kurator Jean-Christophe Ammann lernt Lüscher dessen ehemaligen Chef Harald Szeemann kennen. Sie zeigt ihm die Schulthess-Arbeit. Szeemann, der durch die Ausstellung "When Attitude Becomes Form" in der Kunsthalle Bern 1969 zum internationalen Kuratorenstar wurde, stellt Lüschers Dokumentation 1972 auf der von ihm kuratierten Documenta 5 in Kassel aus. Sie verlieben sich, heiraten, bekommen eine Tochter – Una. 

"Jeder Mensch erfand sein Zaubern"

Ab 1976 entsteht die bis heute fortlaufende Serie der "Zaubererfotos". Für diese Fotos bittet Lüscher genauso die Leute aus dem Dorf wie auch 500 Künstlerinnen und Künstler, Galeristen, Freundinnen und Freunde aus ihrem und Szeemanns Kreis um einen Gefallen: "Bitte zaubere, was immer das für dich in diesem Augenblick bedeutet." Unter den Fotografierten sind Prominente wie James Lee Byars, Andy Warhol oder Lawrence Weiner, enge Vertraute, flüchtige Begegnungen. "Jeder Mensch zaubert etwas anderes, jeder Mensch erfand sein Zaubern. Ich sehe das wie ein unendliches Porträt", sagt Lüscher.

Das komplexe Verhältnis zwischen geistiger, physischer und emotionaler Energie, zwischen Materie und Imagination ist in allen von Lüschers Werken präsent. Immer werden der sichere Boden und das "Objektive" durch radikale Subjektivität infrage gestellt. In Lüschers alchemistischen Schwefelbildern und -skulpturen, die in den 1980ern und 1990ern entstehen, hallen alle möglichen Kunstströmungen nach, Arte povera, Post-Minimal, Farbfeldmalerei. Doch obwohl sie zusammen mit Szeemann so nah dran war, möchte sie sich nicht kategorisieren lassen. "Wir wanderten ja durch die ganze Kunstszene. Es gab nicht einzelne Positionen, die mich geprägt haben. Es gab eine ungeheure Toleranz und ein weites Spektrum des Erlebens."

Es sei ihr bei den großen Schwefelbildern nicht um Referenzen an die Kunstgeschichte gegangen, sagt Lüscher, "sondern um die Energien des hellen Lichts, des dunklen Schwarz. Für mich gleicht das Schwarz eher einem Gang ins innere Selbst, das Gelb ist vielleicht ein Herausfliegen aus diesem inneren Selbst." Immer wieder fällt der Begriff der universellen Schönheit, die sie sieht, selbst im Akt des Urinierens: "Die Fotoserie 'Die Quelle' entstand 1995, indem ich Männer pissen
ließ. Es ging mir dabei um das große Wunder, dass wirklich überall Schönheit ist." Ob die Kunst helfen könne, die Schönheit zu sehen, frage ich etwas weihevoll. "Ja, aber wenn man sie nicht sieht, sieht man sie halt nicht", entgegnet Lüscher ungerührt.

"Es war wirklich erschütternd"

Erstaunlich pragmatisch ist auch der Titel des Tarnanzugs, den sie 1998 für Szeemann zu Weihnachten baut: "Damit Du durch Venedig gehen kannst und keiner Dich erkennt – Tarnkappe für einen gesuchten Mann". "Der Anzug hat sicher etwas Schamanisches", sagt sie. "Harald ist ja auch ein Schamane gewesen. Aber schamanisches Denken spielte bei der Entstehung dieser Arbeit keine Rolle. Das ging, wie bei all meinen Werken, ganz direkt von einer Erfahrung oder einer Sache aus." Und genau das will auch Lüschers Kunst: subjektive Erfahrung vermitteln, ähnlich wie eine Energie.

Das zeigt auch eines ihrer berühmtesten Werke, die Videoarbeit "Die andere Seite. The Other Side. Israel/Palästina", die lange vor dem Gazakrieg entstand und sich mit Vergebung beschäftigt. Sie wurde 2012 im Hamburger Bahnhof mit großer Resonanz ausgestellt und ähnelt den "Zaubererfotos". Lüscher fuhr nach Israel und Gaza, um Personen zu treffen, die bei Auseinandersetzungen zwischen den beiden im Video gleichberechtigt vertretenen Seiten geliebte Menschen und Angehörige verloren hatten. Sie bat beide Parteien, über Folgendes nachzudenken: "Denke wer du bist, deinen Namen, deine Herkunft. Denke was die andere Seite dir angetan hat. Denke kannst du das vergeben."

"Die Aufnahmen waren auf beiden Seiten mit Tränen verbunden. Es war wirklich erschütternd. Ich verzichtete auf den Ton, damit man auf den Gesichtern der Menschen sieht, was sich im Inneren bewegt." Vielleicht ist das auch der Grund, warum Lüschers Werk gerade so wichtig ist. Ihre Kunst lässt uns ganz unprätentiös etwas spüren, was wir in unserer polarisierten Gesellschaft vergessen haben: wie sich die Erfahrungen anderer Menschen anfühlen.

Dieser Artikel erschien zuerst in Monopol-Sonderheft zur art karlsruhe 2025