Gutai – Painting with Time and Space

Die Superavantgarde

Für Yves Klein muss es eine echte Hase-und-Igel-Erfahrung gewesen sein. 1958 begann der französische Künstler, für seine ersten body prints mit Pigment beschmiert über Leinwände zu kriechen – um dann festzustellen, dass ausgerechnet in Japan, wohin er regelmäßig reiste, jemand die Idee bereits ein paar Jahre vorher gehabt hatte: Kazuo Shiraga, Mitglied der Künstlergruppe Gutai, der dabei eine alte Tradition japanischer Maler aufnahm, die sich selbst als „lebende Pinsel“ verstanden.

Klein spielte die Ähnlichkeit später herunter und behauptete, er habe nicht viel über Gutai gewusst. Damit befindet er sich in guter Gesellschaft. Denn obwohl die 1954 von Jiro Yoshihara gegründete Vereinigung schnell in den USA und Europa ausstellte, ist ihr Name heute wohl nur wenigen geläufig. Als Daniel Birnbaum frühe Gutai-Arbeiten bei seiner Venedig-Biennale 2009 zeigte, machte er den Weg frei für eine Wiederentdeckung, die jetzt eine handfeste Grundlage bekommt.

„Gutai – Painting with Time and Space“, herausgegeben aus Anlass der gleichnamigen Schau im Museo Cantonale d’Arte, Lugano, und reich bebildert, bietet mit Zeitleiste, vielen Originalinterviews mit europäischen und japanischen Zeitzeugen und Schriften der Gruppenmitglieder einen umfassenden Überblick über die Aktivitäten dieser Superavantgarde. Und die waren wirklich vielfältig.

Gutai-Künstler sprangen durch Papierwände, breiteten Leinwände auf dem Boden aus und schleuderten in dramatischen Performances Farbe darauf, bauten großformatige, vergängliche Außenskulpturen aus Naturmaterialien, arbeiteten mit Lampen und Leuchten (sagenhaft das „Elektrische Kleid“ von Atsuko Tanaka, 1956), veranstalteten Liveaufführungen. Sie taten also all das auf einmal, für das andernorts Lucio Fontana, Jackson Pollock, die Land-Art-Künstler, die Gruppe Zero oder die Fluxus-Bewegung berühmt wurden.

Ihre Informel-Malerei in den 60er-Jahren wirkte nicht so visionär; Gutai löste sich auf, als 1972 ihr Initiator Yoshihara starb, und war, zumindest im westlichen Kunstbetrieb, bald vergessen. Dieser substanzielle Katalog wird die Japaner rehabilitieren. 


Marco Francioli, Fuyumi Namioka (Hg.): „Gutai – Painting with Time and Space“. Auf Englisch und Italienisch. 264 Seiten, 39,90 Euro